Konkrete Kunst: Frau Bill und der «Quadrätliclub»
Nach dem Zweiten Weltkrieg traten die Zürcher Konkreten ihren Siegeszug an. Binia Bill, die Frau eines ihrer bekanntesten Exponenten, hätte diese geometrische Kunst ästhetisch entscheidend erweitert.
Und noch so eine weibliche Karriere, die mitten im Aufstieg bereits zu Ende war. 1942 bricht das erstaunliche fotografische Werk von Binia Bill ab. Wegen der schlechten Auftragslage während des Krieges, mutmassen die einen. Weil sie Mutter geworden sei, andere. Geschlechterrollen spielten zweifellos eine Rolle. Und damit auch der umtriebige Künstlergatte Max Bill. Dieser habe sich sogar im familiären Umfeld «Bill» genannt und nennen lassen, berichten Zeitgenoss:innen – bewusst oder unbewusst besetzte er den Künstlernamen so allein für sich.
In ihren zwölf Jahren als Fotografin dokumentierte Binia Bill massgeblich die Karriere ihres Mannes: seine Kunst, seine Architektur, Menschen im Umfeld des Paars, den Künstler selbst. Auch Paarfotos gibt es mehrere: Im Bild wirkt die Beziehung innig, verspielt, ebenbürtig. Auf einem auffallenden Doppelporträt von 1931 sieht man die beiden mit kurz geschorenen Haaren, wie verschworene Zwillinge. Diese Fotografie ist in einer neuen, aufschlussreichen Ausstellung zu Binia Bill in der Fotostiftung Schweiz zu sehen. Was in Winterthur ebenfalls klar wird: Wenn Binia Bill Möbel und andere Objekte für Max Bills Reklamebüro fotografierte, ist ihr Name meist sauber ausgewiesen, eine Geste der Anerkennung, die für Werbebroschüren ungewöhnlich ist. Man sollte also vorsichtig sein mit Schubladen und Schuldzuweisungen.
Aber warum kehrte Binia Bill nach dem Krieg – ausser im privaten Rahmen – nicht zum Fotografieren zurück? Ernst Scheidegger, selber Fotograf, später Verleger, berichtete in der Publikation zur ersten grossen Binia-Bill-Schau vor zwanzig Jahren im Aargauer Kunsthaus, wie sie mit ihm leidenschaftlich über Fotografie diskutierte, über technische Fragen, über Film- und Fotoqualitäten. Das klingt nicht nach einem gänzlich abgeschlossenen Kapitel. Aber als in den fünfziger Jahren die Karriere von Max Bill als zentralem Exponenten der «Zürcher Konkreten» richtig Fahrt aufnimmt, hält sie ihm den Rücken frei, kümmert sich um Haushalt, Garten, den Sohn.
1988 stirbt sie mit 83 Jahren nach einem Unfall. In seiner Todesanzeige an «meine liebe gefährtin» schreibt Max Bill: «in unseren werken lebt sie weiter» – gemeint sind seine Werke und diejenigen des gemeinsamen Sohns Jakob. Von Binia Bills eigener Kunst ist da keine Rede mehr. Dabei hatte doch alles sehr vielversprechend angefangen. Die junge Frau aus wohlhabender Familie war hochtalentiert, liess sich zuerst zur Konzertcellistin ausbilden, vollzog dann mit 25 Jahren einen radikalen Wechsel und ging an die Schule des Bauhauspädagogen und Malers Johannes Itten in Berlin. Ihre Lehrerin: die berühmte Fotografin Lucia Moholy. Binia Spoerri, wie sie damals noch hiess, scheint während eines Semesters mehr gelernt zu haben als andere in mehreren Jahren.
Das zeigt nun nochmals konzentriert die Ausstellung in der Fotostiftung. Binia Bills Fotografie ist erstaunlich gut gealtert, wirkt nachhaltig modern: die gleissenden Impressionen aus Saint-Tropez, Pflanzenarrangements, spektakuläre Schattenwürfe, geschickt komponierte Asymmetrien, Porträts. Auch sich selbst hat sie mehrfach fotografiert, etwa als menschliche Statue vor einer Wandskulptur von Max Bill im von ihm gebauten Haus in Zürich Höngg: umzingelt also – und doch sichtlich eigenständig.
Sicher kein Sicherheitsrisiko
In Binia Bills Porträts der Malerin Verena Loewensberg meint man heute ihre versteckte Doppelgängerin zu entdecken. Auf einem Foto schaut uns Loewensberg ruhig an, auf dem Kopf balanciert ein schicker Hut, um den Hals trägt sie eine leicht bedrohlich wirkende Kette mit zwei überdimensionalen Zähnen. Loewensberg hat sich für ein Leben als Künstlerin entschieden – ohne Ehemann, alleinerziehend, alleinverdienend. Eigensinnig sei die Jazzexpertin gewesen, heisst es verschiedentlich. Aber ist «eigensinnig» vielleicht einfach das Verlegenheitsprädikat für eine Frau, die sich als Solitärin behauptete im Männerklub der Zürcher Konkreten?
1981, erst fünf Jahre vor ihrem Tod, erhielt Loewensberg als erste Frau eine Einzelausstellung im Kunsthaus Zürich. Da waren andere Konkrete schon längst durch alle Instanzen emporgestiegen, waren bekannt als Grafiker, Künstler, Kuratoren, Preisträger, Rektoren, Juroren. Es ist eine Stärke von Brigitte Ulmers Kapitel zu Verena Loewensberg im neuen Text- und Bildband «Kreis! Quadrat! Progress!», dass sie auch Versäumnisse und Fehleinschätzungen zitiert. Man habe Loewensbergs Kunst aufgrund einer zu engen Optik nur «unscharf und ausschnitthaft» erfasst, bedauerte selbstkritisch etwa Margit Weinberg Staber, Kunstkritikerin und erste Kuratorin im Zürcher Haus Konstruktiv. Loewensberg wurde lange als begabte Schülerin ihrer bekannteren Künstlerkollegen kleingeredet, erhielt kaum öffentliche Aufträge oder Preise, wie Ulmer ausführt.
Was das unterhaltsame und gut geschriebene Buch ausserdem auszeichnet, ist sein ebenso umfassender wie ironischer Blick auf «Zürichs Konkrete Avantgarde», von Kritiker:innen spöttisch «Quadrätliclub» oder «die Viereckigen» genannt. Hauptexponent:innen, aber auch Seitenfiguren wie Binia Bill werden in eigenen Kapiteln gewürdigt. Im Essayteil findet man aktuelle und ältere kritische Abrechnungen mit dieser Rarität einer schweizerischen Kunstbewegung.
Der Kurator Martin Heller etwa vermisst beissend eloquent die Problemzonen dieser auf geometrischen Formen und mathematischen Formeln fussenden Konkreten Kunst. In ihr offenbare sich eine «robust geschäftstüchtige Vitalität» und das «berechenbare Bild einer Kunst, die als Schweizer Staatskunst gelten darf». «Alle ‹verstehen› Konkrete Kunst» – weil es da im Gegensatz zur abstrakten Kunst gar nichts zu entziffern gebe: «Alles Störende, jedes Sicherheitsrisiko ist eliminiert», schrieb er 1995.
Behaglich im Kleinstaat
Im guten Produkt vermählen sich gemäss Max Bill Form, Zweckmässigkeit und Schönheit. Auch in der Konkreten Kunst verschwimmt zuweilen die Grenze zu Reklame, Design und gefälligem Dekor. Bundesrätinnen und Bankdirektoren lassen sich gern vor diesen harmlos wirkenden farbigen Mustern ablichten, von Micheline Calmy-Rey bis zu Oswald Grübel. 1983 weiht Max Bill stolz seine Granitquaderskulptur «Pavillon» als monumentale Sitzecke direkt an der Bahnhofstrasse ein – wo er auch wünschte, begraben zu werden: Swiss Design im Auftrag der Schweizerischen Bankgesellschaft und der Stadt Zürich. Sein alter «Ulmer Hocker» – eine schlichte Konstruktion aus drei Holzbrettern und einem Besenstiel als Querverstärkung oder Tragevorrichtung – wirkt dagegen bis heute frisch wie ein Geistesblitz.
Max Bill war erklärter Antifaschist. Die Bills versteckten vor Hitler Geflüchtete, wurden dafür gepiesackt, in der Nachkriegszeit auch fichiert. Als Gemeinde- und Nationalrat für den Landesring der Unabhängigen war Bill aber kaum ein Ausbund an Radikalität. Ausgerechnet 1968 hält er als Zürcher Kunstpreisträger eine biedere Rede, in der er das «Behagen im Kleinstaat» lobt. Dass da etwa die Frauen in diesem Kleinstaat noch immer kein Stimmrecht hatten, lässt er unerwähnt. Der bedächtige Schweizer Sonderweg garantiere Freiheitsrechte und «Einflussmöglichkeiten des Einzelnen», verhindere «grössere Katastrophen». Kein Wunder, kommen Bill und seine «gute Form» in Paul Nizons berühmten Aufsätzen zum schweizerischen «Diskurs der Enge» nicht gut weg. Haben die Konkreten womöglich ihre eigene frühere Kühnheit verdrängt?
Diese Frage wirft auch nochmals ein neues Licht auf die feine künstlerische Hinterlassenschaft und das vorzeitige Karriereende von Binia Bill. In der Konkreten Kunst spielt Fotografie keine entscheidende Rolle. In der Schweizer Fotowelt wiederum dominiert nach dem Krieg die Reportagefotografie, nicht die ästhetische Avantgarde. Binia Bills Stil im Zeichen eines revolutionären «Neuen Sehens» fand in der Schweiz der fünfziger und sechziger Jahre wohl einfach keinen Boden und Resonanzraum mehr. Dabei wäre er womöglich eine entscheidende Erweiterung des «Quadrätliclubs» gewesen.
«Binia Bill – Bilder und Fragmente» in: Winterthur, Fotostiftung Schweiz, bis 26. Januar 2024. www.fotostiftung.ch
Thomas Haemmerli und Brigitte Ulmer (Hrsg.): «Kreis! Quadrat! Progress! Zürichs konkrete Avantgarde». Verlag Scheidegger & Spiess. Zürich 2024. 336 Seiten. 54 Franken.