Festrede: Wissen, Nichtwissen und trotzdem handeln

Nr. 46 –

Weshalb die Dampfmaschine der Startschuss zur Zerstörung des Planeten war und die Einführung von Papiergeld den Wachstumszwang begründete – oder: ein Plädoyer für mehr aufgeklärten Dilettantismus.

Holzschnitt: Kohleförderung mit Dampfkraft im englischen Staffordshire in den 1850er Jahren
Es zählt nicht, wie schnell wir die erneuerbare Energieversorgung ausbauen, sondern einzig, wie schnell wir die fossile loswerden: Kohleförderung mit Dampfkraft im englischen Staffordshire in den 1850er Jahren. Holzschnitt: AKG

«Habe nun, ach, Philosophie, Juristerey und Medicin / Und leider auch …», Sie wissen schon. Und denken vielleicht: Um Himmels willen, jetzt kommt der und zitiert Goethe – und von Goethe ausgerechnet «Faust» – wie unoriginell! Sie haben natürlich recht. Aber wenn ich hier als einer, der sich nie als Wissenschaftler verstanden und weder Philosophie, Juristerey noch Medicin studiert hat, einen akademischen Titel entgegennehmen darf, fühle ich mich natürlich ein wenig im Legitimationszwang. Und da dachte ich: Goethe geht immer.

Heute fühle ich mich auch ein wenig befugter, aus «Faust» zu zitieren, denn: «Heisse Magister, heisse Doktor gar» – heisse Doktor h. c. gar – «Und ziehe nun schon an die zehen Jahr / Herauf, herab und quer und krumm / Meine Schüler an der Nase herum. / Und weiss, dass wir nichts wissen können / Das will mir schier das Herz verbrennen.»

Gut, hier übertreibt er gewaltig, der Alte; wenig verwunderlich, befindet er sich doch am Tiefpunkt seiner suizidalen Depression. Wir können natürlich nicht nichts wissen. Heute würde Faust vielleicht eher darob verzweifeln, wie unheimlich genau wir über den Zustand von Menschheit und Planet Bescheid wissen – und trotzdem sehenden Auges in den Abgrund rennen.

Schneckenkreisen mit Mephisto

Um die Frage des Wissen-Könnens will ich heute kreisen. Auch als Wissenschaftsjournalist habe ich mich der Anmassung von Wissen schuldig gemacht und mal über Teilchenphysik, mal über Kunstgeschichte geschrieben. Als Journalist masse ich mir auch an, schlechte Wissenschaft schlechte Wissenschaft zu nennen: Journalismus muss immer kritisch sein, ob er über Politik schreibt oder über Wirtschaft oder über Wissenschaft. Sie werden nicht sehr überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, dass man als Wissenschaftsjournalist viel schlechte Wissenschaft zu sehen bekommt.

Geehrt

Marcel Hänggi (55), langjähriger WOZ-Autor (zeitweise auch Redaktor) und Mitinitiant der Gletscher-Initiative, die 2023 als Klimaschutzgesetz vom Stimmvolk angenommen wurde, hat mehrere Bücher rund um Klima, Technik und Wissenschaft verfasst, zuletzt: «Weil es Recht ist» (siehe WOZ Nr. 45 /24). Am 7. November ist er von der Universität Luzern mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden. Wir drucken hier eine gekürzte Fassung seiner Festrede.

 

Portraitfoto von Marcel Hänggi
Foto: Caroline Minjolle

Ich will also um die Frage des Wissen-Könnens kreisen, «in weitem Schneckenkreise», so wie Mephisto, als er, in Gestalt eines Pudels, Faust zum ersten Mal begegnet. Es ist eine Bewegung, die wenig Rücksicht auf Gärten und Gartenzäunchen zulässt. Inhaltlich kreise ich um das Thema, das mich am meisten umtreibt: Nachhaltigkeit – also die Frage, wie wir unsere Lebensgrundlagen bewahren können. Und wenn ich mich das so sagen höre, denke ich: Ginge es nicht auch eine Nummer kleiner?

Tatsächlich würde ich mich ab und zu lieber mit Schöngeistigem befassen, würde lieber über, sagen wir, «Metaphern der Unbeschwertheit im Spätwerk Georg Büchners» schreiben. Aber das scheint mir dann manchmal ein wenig frivol, besonders in einer Zeit, in der wissenschaftliche Fachartikel so beginnen wie der vor einem Monat publizierte «2024 State of the Climate Report», dessen erste Sätze lauten: «Wir befinden uns am Rande einer unumkehrbaren Klimakatastrophe. Es steht ausser Zweifel, dass dies ein globaler Notstand ist.»

Geld, Magie und Wachstumszwang

Ich ziehe meinen Schneckenkreis nun ein wenig enger, bleibe aber noch einen Moment beim Schöngeist und wechsle von «Faust I» zu «Faust II». Soweit ich «Faust II» verstanden habe, verdanke ich dies zu guten Teilen der wunderbaren Interpretation des vor sechs Jahren verstorbenen Ökonomen Hans Christoph Binswanger: «Geld und Magie».

Binswanger vertrat ein paar unkonventionelle Ansichten. Dass er als FDP-Politiker der renommierteste Kritiker des Wirtschaftswachstumszwangs war, ist ja eher ungewöhnlich. Er war als HSG-Professor der Meinung, Goethe habe die moderne Geldwirtschaft besser verstanden als Adam Smith. In «Geld und Magie» vertritt er die These, die Ökonomie sei die Fortsetzung der Magie mit anderen Mitteln. Binswanger beobachtet, dass sich in der frühen Neuzeit die europäischen Fürstenhöfe Alchemisten hielten, die ihnen Gold machen sollten.

Im frühen 18. Jahrhundert jagte dann der französische Königshof die Alchemisten in dem Moment zum Teufel, als er einen Ökonomen engagierte: den zum Tod verurteilten Glücksspieler und Spielbetrüger John Law. Er vertraute Law königliches Kapital an, um die Banque générale zu gründen, die Papiergeld herausgab – eine Public Private Partnership mit weitreichenden Privilegien. Law gründete auch die Compagnie du Mississippi, die viele Pariser:innen, die deren Aktien kauften, innert kurzer Zeit sehr reich machte – wobei diese ihren Reichtum 1720, als die Blase platzte, in noch kürzerer Zeit wieder verloren. Um nicht am nächsten Laternenpfahl aufgeknüpft zu werden, flüchtete Law aus Paris.

In «Faust II» ist es der als Hofnarr verkleidete Mephisto, der dem Kaiser, der pleite ist, aus der Patsche hilft, indem er das Papiergeld erfindet. Von einem Tag auf den anderen ist der Kaiser seine Schulden los: Er lässt einfach Geld drucken. Neu am Papiergeld ist, dass man nicht nur Wert, den man schon besitzt, sondern auch Wert, den man dereinst besitzen wird, zum Zahlen benutzen kann.

Nachdem es den Alchemisten nicht gelungen war, Gold zu schaffen, schuf Mephisto Geld, das durch das Gold gedeckt war, das noch unter dem Boden lag. Vorher musste man Gold zuerst ausgraben; jetzt konnte man noch auszugrabendes Gold zum Zahlen einsetzen. Aber damit das nicht wie bei John Law endete, musste man tatsächlich etwas ausgraben – nicht unbedingt Gold; Kohle (und später Erdöl) passte auch.

Kurzum: Man musste Mehrwert schaffen. Die Geldwirtschaft, sagt Binswanger, brachte den Wachstumszwang.

Goethe hat «Faust II» 1832, kurz vor seinem Tod, fertig geschrieben, am Anfang des Zeitalters der fossilen Energien, und er beschreibt hellsichtig die zerstörerische Dynamik, die die Wachstumswirtschaft auslöste. Die kapitalistische Dynamik, die alles plattmacht, was sich ihr entgegenstellt, kulminiert in der Geschichte von Philemon und Baucis, die in ihrem Häuschen in bescheidener Subsistenzwirtschaft leben und Faust im Wege stehen. Faust beauftragt Mephisto, ihm das Paar aus dem Wege zu schaffen. Mephisto fackelt die Hütte von Philemon und Baucis kurzerhand ab – samt ihren Bewohner:innen.

Die rabenschwarze Pointe folgt, als Faust, alt und erblindet, Schaufelgeräusche hört und glaubt, das seien die Bauarbeiten für sein Entwässerungswerk. Entzückt ruft er aus: «Es kann die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehn!» Tatsächlich aber hört er Mephistos Gehilfen, die ihm sein Grab schaufeln.

Und es gibt eine noch bitterere Pointe, von der Goethe noch nichts wissen konnte: Heute bedroht der Meeresspiegelanstieg die Entwässerungswerke an den Küsten – und es wird keine Äonen gedauert haben, bis sie untergehn.

Technik wird uns nicht retten

Jetzt will ich aber meinen Schneckenkreis noch enger ziehen und zu einem Beispiel meiner eigenen Arbeit kommen. In «Fortschrittsgeschichten» habe ich zwölf Geschichten technischen Wandels erzählt; eine widmet sich der Dampfmaschine.

Und Sie denken: die Dampfmaschine? Die ist ja ungefähr so originell, als würde jemand einen Vortrag mit einem Goethe-Zitat beginnen! Aber die Dampfmaschine interessierte mich gerade, weil sie so ikonisch ist und man an ihr Technikmythen dekonstruieren kann. Denn ich habe das Buch geschrieben, weil ich mich über die auch in meinem Umfeld weitverbreitete naive Hoffnung ärgerte, der – tatsächlich beeindruckende – Fortschritt etwa der Fotovoltaik oder anderer «sauberer» Techniken würde uns von allein retten.

Die Dampfmaschine hat das fossilenergetische Zeitalter begründet: Sie war so etwas wie der Startschuss zum Zerstörungswerk, das wir am Erdsystem anrichten. Zu Beginn wurde sie eingesetzt, um zu pumpen, und verkörpert so zumindest symbolisch einen enorm wichtigen Paradigmenwechsel: den vom Prinzip des abnehmenden Grenznutzens, das jedes Wachstum limitiert, zum Skaleneffekt, der Wachstum begünstigt.

Je tiefer man in einem Bergwerk gräbt, desto grösser wird nämlich der Grundwasserdruck, desto mehr muss man pumpen, um weitergraben zu können – bis es sich nicht mehr lohnt. Das ist das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens. Nun kam aber die Verbrennung von Kohle, um mithilfe der Dampfmaschine Wasser zu pumpen und noch mehr Kohle zu fördern – das war das Skalenprinzip, das Gegenteil des abnehmenden Grenznutzens. Mit Kohle Kohle machen: Das tun die Banken ja noch heute.

Ein anderer Mythos ist die Vorstellung, dass sich die überlegene Technik auf dem Markt durchsetzt. Die ersten Dampfmaschinen waren anderen Energieanwendungen keineswegs überlegen. Sie lohnten sich nur in England, und zwar wegen einer (unbeabsichtigten) staatlichen Förderung. Die politisch tonangebenden Landbesitzer – die Lords – sorgten mit Gesetzen dafür, dass die Getreidepreise hoch blieben. Getreide war, als Pferdefutter, die Primärenergie der Konkurrenztechnik zur Dampfmaschine: des Pferdegöpels.

Damit kommen wir zum wichtigsten Mythos, den die Dampfmaschine widerlegt: die Vorstellung, neue, bessere Techniken würden alte, schlechtere verdrängen. Die Dampfmaschine hat die Menschen nicht von mühseliger körperlicher Arbeit befreit – im Gegenteil: In den fast hundert Jahren zwischen James Watts Neuerfindung der Dampfmaschine und der Abschaffung der Sklaverei in den USA 1865 versechsfachte sich die Zahl der Sklav:innen in den USA.

Das ist ein typisches Muster in der Technikgeschichte: Ein vermeintliches Substitut ersetzt seine Vorgängertechnik nicht nur nicht, sondern tritt zu ihr hinzu und vermehrt sie gar. Am meisten Kohle verbrannte die Menschheit nicht im Kohlezeitalter, dem 19. Jahrhundert, sondern im Jahr 2023.

Und damit komme ich zu meinem politischen Engagement: Am Anfang stand die Erkenntnis, dass für die Begrenzung der Klimakrise nicht zählt, wie schnell wir die erneuerbare Energieversorgung ausbauen, sondern einzig, wie schnell wir die fossile loswerden, und dass das eine nicht automatisch zum anderen führt. Wir riskieren, dass wir die erneuerbaren Energien am Ende nicht anstelle der fossilen, sondern zusätzlich zu ihnen nutzen.

Das war eigentlich die Hauptbotschaft, die ich in die Politik einbringen wollte. In dieser Hinsicht bin ich gescheitert.

Wie resilient ist die Gesellschaft?

In meiner jüngsten Arbeit befasste ich mich mit Recht. Ich habe als Dilettant gearbeitet, als einer, der eben nie Juristerey studiert hat. Ich bin gerne Dilettant – ein Schneckenkreiser ohne viel Respekt gegenüber Gärtchen und Gartenzäunchen. Allerdings habe ich schon den Anspruch, mich um das beste verfügbare Wissen zu bemühen und mir der Grenzen meines Wissens bewusst zu sein und ihnen mit Demut zu begegnen, sonst wäre ich kein Dilettant, sondern ein Schwurbler.

Ich glaube, wir brauchen einen aufgeklärten Dilettantismus. Und ich darf heute sagen, dass meine Erfahrung, wenn ich als Nichtakademiker Academia kritisiere, wenn ich als Nichtphysiker über Teilchenphysik schreibe, wenn ich als Nichtjurist unsere Bundesverfassung kritisch analysiere, eine gute ist. Wohl machte ich mich mit meiner kritischen Aussenseiterhaltung nicht immer beliebt, aber viele Leute, denen ich ins Gärtchen trat, reagierten nicht verärgert, sondern interessiert. Gerade der dilettantische Blick von aussen vermag mitunter etwas zu sehen, was Fachleute nicht sehen.

Meiner These, wir bräuchten mehr aufgeklärten Dilettantismus, begegnete ich in meiner jüngsten Arbeit in den Berichten des Weltklimarats IPCC wieder. Und so versuche ich nun, zu einer Synthese zwischen den beiden Zentren meines Kreisens zu gelangen: dem Wissen-Können und der Nachhaltigkeit.

Ich habe mich zuletzt mit der Frage befasst, was Gesellschaften in den gegenwärtigen und kommenden Krisen widerstandsfähig macht. Denn um nachhaltig zu sein, genügt es nicht mehr, die Umwelt zu schützen: Wir müssen auch uns und unsere Institutionen vor der Umwelt schützen, wenn diese aus den Fugen gerät. Die Verhinderung einer «gefährlichen anthropogenen Störung des Klimasystems», wie es das Uno-Rahmenabkommen zum Klimawandel von 1992 anstrebt, haben wir schon verpasst. Nachhaltigkeit muss heute deshalb auch danach fragen, wie man Resilienz schafft. Dazu haben wir uns im Übereinkommen von Paris völkerrechtlich verpflichtet.

Vielleicht zucken einige von Ihnen zusammen, wenn ich «Resilienz» sage, denn dieser Begriff leidet wie die «Nachhaltigkeit» unter seiner inflationären Verwendung. Ich halte aber beide Konzepte für zu wertvoll, um sie aufzugeben. Man muss auf ihrer Bedeutung beharren.

Ich verstehe gesellschaftliche Resilienz als die Fähigkeit sozialer Systeme, sich zu transformieren, ohne ihre Funktionsfähigkeit als System zu verlieren. Wenn man von Anpassung spricht, meint man meist Dinge wie Hochwasserverbauungen, Unwetterwarnsysteme oder die Züchtung trockenheitsresistenter Nutzpflanzensorten. Es stellt sich aber bis heute in der Politik noch praktisch niemand die Frage, wie die gesellschaftlichen Systeme als Ganze die Schocks schwerer Umweltkrisen überstehen können.

Hier ist unser Wissen wenig robust. Wir wissen zwar unheimlich genau, was wir mit unserem Planeten gerade anrichten, aber wir wissen sehr wenig über die Zukunft unserer Gesellschaften. Zukunft hatte immer schon die Eigenschaft, unbekannt zu sein, aber in einer Epoche, in der wir Menschen unsere Lebensbedingungen innert Jahrzehnten so sehr verändern, wie es sonst nur in geologischen Zeiträumen geschieht, ist die Zukunft noch viel ungewisser.

Immer wieder nachjustieren

Resilienz schaffen im Zeitalter des Anthropozäns heisst immer auch Handeln unter den Bedingungen sehr unvollständigen Wissens. Was der IPCC-Bericht über die klimaresiliente Entwicklung sagt, ist einigermassen vage und abstrakt, aber immerhin: Erstens braucht es systemische Transformationen statt Symptombekämpfungen und als Grundlage dafür erst einmal ein Systemverständnis.

Zweitens braucht es einen adaptiven Umgang mit Nichtwissen. Es braucht keine perfekten Lösungen – solche gibt es nicht (man kann die Klimakrise nicht «lösen») –, sondern die Fähigkeit, unperfekte Lösungen immer wieder nachzujustieren. Drittens gilt es, eine Vielzahl von Perspektiven und Wissensformen, darunter namentlich indigene, zu berücksichtigen. Etwas salopp gesagt: Es braucht eine grosse Portion Dilettantismus.

Damit mein Schneckenkreis ein Kreis sei, will ich mit Goethes «Faust» enden. Letztes Jahr war ich im Abstimmungskampf für das Klimagesetz engagiert; mein Hauptgegner war der Walliser SVP-Nationalrat Michael Graber. Nach meinem Sieg und seiner Niederlage wollte ich ihn kennenlernen und porträtieren. Zu meiner Überraschung sagte er zu. Wir sprachen sehr lange. Und wir sprachen über «Faust».

Sie erinnern sich an Binswangers Lektüre von der kapitalistischen Geld- und Wachstumswirtschaft, die plattmacht, was sich ihr entgegenstellt – bis hin zu Philemon und Baucis. Als Goethe seine Arbeit an «Faust II» beendete, hatte die Ära der fossilen Energien gerade begonnen – jene Ära, deren Ende ich beschleunigen wollte, wogegen sich wiederum Michael Graber wehrte. Am Ende unseres Gesprächs sagte er, er finde «Faust» grossartig, und: «Manchmal komme ich mir als Walliser vor wie Philemon und Baucis.»