Theater: Jede dritte Frau

Nr. 49 –

Bühnenfoto des Theaterstück «Prima Facie»
«Prima Facie» in: Zürich Schauspielhaus. Nächste Aufführungen: Di, 10., Mo, 16., und Sa, 21. Dezember 2024, jeweils 20 Uhr. Weitere Aufführungen im Januar 2025.

Erinnerungen, das weiss Tessa Ensler, sind trügerisch. Als Verteidigerin von Sexualstraftätern macht sie damit Karriere. Die Kunst besteht darin, die Klägerinnen in widersprüchliche Details zu verstricken und diese dann gekonnt zu zerlegen. Tessa glaubt an das Rechtssystem, das sie vertritt. Dann wird sie nach einem Date, das schön angefangen hat, von ihrem Arbeitskollegen Julian vergewaltigt. Sie erhebt Anklage, steht plötzlich auf der anderen Seite. Bis zur Verhandlung vergehen 782 Tage, in denen Tessa, brillant gespielt von Alicia Aumüller, fast den Verstand verliert.

«Prima Facie» ist als Monolog konzipiert, der gekonnt zwischen den Erzählebenen wechselt. Da ist die kühle Anwältin Tessa, die aus ihrem Berufsalltag berichtet; und da ist Tessa, die vergewaltigt wurde und die nun ihre Erinnerungen rekapituliert. Das international mehrfach preisgekrönte Stück spielt in Grossbritannien, lässt sich also nicht eins zu eins auf Rechtslage und Gerichtspraxis in der Schweiz übertragen. Aber es hinterfragt ein Fundament auch unseres Rechtssystems: «prima facie», die Unschuldsvermutung – für einen demokratischen Rechtsstaat unabdingbar, im Sexualstrafrecht höchst umstritten.

Vor Gericht, stellt Tessa fest, geht es nicht um Gerechtigkeit, sondern darum, was bewiesen werden kann. Und weil es sich bei einer Vergewaltigung meist um ein Vier-Augen-Delikt handelt, also Aussage gegen Aussage steht, bekommt recht, wer die bessere Geschichte erzählt. Die Beweislast liegt bei der Klägerin. Das verlangt auch Tessa viel ab: Sie berichtet von Scham, Retraumatisierung und Gedächtnislücken, von den ekelhaften Selbstzweifeln, die sich in den Köpfen von Menschen einnisten, die sexuelle Übergriffe erfahren haben.

Julian wird freigesprochen. Tessa wendet sich als Verliererin ans Publikum, bittet alle, einmal nach links und nach rechts zu schauen. Denn: Jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben sexualisierte Gewalt. Das mag nun manchen zu belehrend sein. Aber beim Schlussapplaus – es sitzen viele Frauen im Saal – stellt sich dieses Gefühl von Solidarität ein. Und das tut gut.