Vergewaltigungsprozess in Frankreich: «Die Scham muss die Seite wechseln»

Nr. 47 –

Der Prozess um Gisèle Pelicot hat Frankreich aufgewühlt. Ihr Mut wird ins kollektive Gedächtnis des Landes eingehen – und könnte strafrechtliche Reformen vorantreiben.

Ihr Gesicht sprühen sie auf Häuserwände, ihre Worte prangen auf Titelseiten. Ihr Name ist zu einem Synonym geworden für Mut, für Entschlossenheit und für ein Ende der Scham: Gisèle Pelicot ist über Frankreichs Grenzen hinweg zu einer Heldin geworden. Sie, die als Vergewaltigungsopfer entschieden hat, an die Öffentlichkeit zu gehen. Jedes neue Detail in der Geschichte ihres unfassbaren Leids gräbt sich tief ins kollektive Gedächtnis der Französ:innen. Eine Geschichte, die perfider, die grausamer kaum sein könnte. Über zehn Jahre hinweg liess Dominique Pelicot seine zuvor betäubte Frau im eigenen Schlafzimmer von Dutzenden von im Internet kontaktierten Männern vergewaltigen und missbrauchte sie auch selbst. Er filmte die Taten und mimte zur gleichen Zeit den treu sorgenden Ehemann.

Dominique Pelicot und fünfzig weitere Männer stehen nun seit dem 2. September vor Gericht, nachdem die Polizei bei einer Durchsuchung seines Computers auf stundenlanges Filmmaterial der Taten gestossen war. Und während die Anwält:innen der Beschuldigten einen Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefordert hatten, erwirkte Gisèle Pelicot das genaue Gegenteil. «Die Scham muss die Seite wechseln», begründete sie ihre Entscheidung. «Ich widme diesen Kampf allen Menschen, Frauen und Männern auf der ganzen Welt, die Opfer von sexueller Gewalt sind. All diesen Opfern möchte ich sagen: Schaut euch um, ihr seid nicht allein.»

Vor Gericht erschien in den letzten Wochen eine Frau, die von sich sagt, sie sei zerstört, und die doch unbesiegbar scheint. Ihr eindringlicher Blick, den sie nur noch selten hinter einer Sonnenbrille versteckt, das zaghafte Lächeln, den Kopf erhoben, die elegante Kleidung, die Haltung aufrecht. Mit jedem Prozesstag scheint die 71-Jährige zu wachsen. Längst ist sie zu einer Identifikationsfigur geworden, die mit ihrem Wesen und ihren Worten Menschen jeden Geschlechts berührt.

Gisèle Pelicot gilt das Mitgefühl einer ganzen Nation. Einer Nation im Aufruhr, denn die Profile der Täter sind so erschreckend banal, so alltäglich. Es sind Männer jeden Alters, Angestellte, Arbeiter, ein Krankenpfleger, ein Feuerwehrmann, ein Journalist, ein Informatiker, ein Fernfahrer, viele sind Väter oder Grossväter. Die Liste liest sich wie ein Querschnitt der männlichen Gesellschaft. Hier ist nicht die Rede vom vereinsamten Einzelgänger, vom Monster, das im dunklen Keller Unbekannte vergewaltigt. Nein, die Täter sind Nachbarn, Kollegen, vielleicht sogar geschätzte Freunde mit gutem Ruf. Auch deshalb ist dieser Prozess historisch. Er zeigt, wie nah uns selbst schwerste sexualisierte Gewalt kommen kann und wie hilflos Frauen oftmals männlicher Macht ausgeliefert sind. Nebenan oder gar in den eigenen vier Wänden.

Das «Vergewaltigerdorf»

Der kleine Ort Mazan im Departement Vaucluse nahe Avignon zählt gerade einmal 6000 Einwohner:innen. Hier lebte die Familie Pelicot seit 2013. Eine Handvoll Restaurants, zwei Bäckereien, eine Kirche und ein Best-Western-Hotel – das sich ausgerechnet im ehemaligen Schloss der Familie des Marquis de Sade befindet. Dieser wurde im 18. Jahrhundert nicht wegen seines Adelstitels bekannt, sondern für seine Schriften über heftigste Sex- und Gewaltfantasien, die er niederschrieb, aber auch auslebte.

De Sade wurde wegen mehrfacher Vergewaltigung unter Einsatz von Betäubungsmitteln zum Tod verurteilt. Für ihn durfte nichts der eigenen Lust im Wege stehen: weder Gesetz noch Religion oder Moral. Ein Narr sei hingegen jeder, der sich durch Verbote fesseln lasse. De Sade gab dem Sadismus seinen Namen, nun steht er neben dem der Pelicots im Wikipedia-Eintrag zu Mazan. Dort wächst die Sorge vor sensationslüsternen Tourist:innen, die sich das «Vergewaltigerdorf» anschauen wollen. Und es herrscht Angst. Denn noch immer sind weitere mutmassliche Täter nicht identifiziert. Wer sind sie? Wo sind sie?

Im vierzig Kilometer entfernten Avignon stehen in diesen Tagen in der Mittagspause Journalist:innen hinter Angeklagten wartend beim Bäcker neben dem Gerichtsgebäude in der Schlange. Die Tabakbar an der Strassenecke kennt man mittlerweile als «Kneipe der Vergewaltiger», weil man auch hier den Beschuldigten über den Weg läuft. Der Prozess ist allgegenwärtig. Aber nicht nur hier. Frankreich diskutiert. In Fernsehdebatten, in Zeitungskolumnen, auf den Marktplätzen und an Kneipentresen. Schon einmal gab es in Frankreich einen Vergewaltigungsprozess, in dem eine Frau namens Gisèle Geschichte schrieb.

Vor dem Gericht in Aix-en-Provence vertrat 1978 die schon damals bekannte Anwältin und Frauenrechtlerin Gisèle Halimi zwei junge belgische Touristinnen, Anne Tonglet und Araceli Castellano, die vier Jahre zuvor von drei Männern auf grausame Weise vergewaltigt worden waren. Halimi, die grosse Vorkämpferin für das Abtreibungsrecht in den siebziger Jahren, nutzte das Medieninteresse rund um den sogenannten Tonglet-Castellano-Prozess, um für eine Reform der Strafgesetzgebung in Vergewaltigungsfällen zu werben, die noch aus dem Ersten Kaiserreich stammte. 1980 traten dann tatsächlich neue Regelungen in Kraft. So wurden auch Vergewaltigungen in der Ehe neu bewertet und unter Strafe gestellt. Bis heute bleiben Partnerschaft und Familie das statistisch gefährlichste Umfeld, um Opfer von körperlicher Gewalt und sexualisiertem Missbrauch zu werden. So steht eine ganze Gesellschaft vor der Frage: Wird männliche Gewalt in den eigenen vier Wänden noch immer verharmlost?

Juristischer Nachholbedarf

Die ehemalige Ministerin für Gleichstellung, Isabelle Rome, sagte im Zuge des «Falls Mazan», wie er in den französischen Medien genannt wird: «Der Körper der Frau gehört nicht dem Ehemann. Es ist so wichtig, das zu betonen, weil es in den Köpfen der Männer nicht angekommen ist und Frauen denken, sie müssten alles akzeptieren.» Frankreichs Feminist:innen sehen deswegen in Gisèle Pelicot eine Ausnahmefigur. Nicht ihr individuelles Schicksal stellt sie vorne an, sondern die gesellschaftliche Situation, die Denkmuster der Missbrauchten, die Logik der Scham. «Ich bringe weder Wut noch Hass zum Ausdruck. Ich trete entschlossen dafür ein, dass wir unsere Gesellschaft verändern», sagte sie bei einem vielbeachteten Auftritt vor Gericht Ende Oktober. «Ich wollte einen Prozess vor den Augen der Öffentlichkeit, damit alle Frauen sich sagen können: ‹Madame Pelicot hat es getan, ich kann es auch.›»

Wie schon beim Prozess von Aix-en-Provence 1978 geht es in Avignon wieder um grundsätzliche juristische Fragen. Während in der Schweiz seit dem 1. Juli 2024 das Prinzip «Nein heisst Nein» im Strafgesetzbuch verankert ist, hinkt Frankreich juristisch hinterher, auch wenn in den letzten Jahren durchaus Fortschritte beim Thema «Belästigung auf der Strasse und im Netz» gemacht wurden. Doch damit eine Vergewaltigung strafrechtlich verfolgt werden kann, muss noch immer, zumindest offiziell, entweder der Tatbestand der Gewaltanwendung, das Ausnutzen eines Moments der Überraschung, des Drohens oder der Einschüchterung erfüllt sein. So ist es nicht verwunderlich, dass in Frankreich 94 Prozent der zur Anzeige gebrachten Vergewaltigungsvorwürfe gar nicht in einem Verfahren enden.

Zwischen 2007 und 2020 ist die Zahl der Verurteilungen bei Vergewaltigungen trotz #MeToo-Bewegung gar kontinuierlich gesunken. Zwar traten erst im Mai europaweite Mindeststandards für den Schutz von Frauen vor sexualisierter Gewalt in Kraft. Doch zielten diese in erster Linie auf die Strafverfolgung von Cybermobbing, Deepfakes oder Genitalverstümmelung. Europaweit hatten feministische Organisationen zuvor Hoffnungen in diese gemeinsame Initiative gesetzt, doch nach vielem Hin und Her und juristischen Bedenken, gerade aus Frankreich und Deutschland, wurde Vergewaltigung in den EU-Standards ausgeklammert. Die Begründung: Es sei juristisch fraglich, ob dies zum Kompetenzbereich der EU gehöre.

Versprechen zur Gleichstellung

Eigentlich wären sich Politik und Justiz einig darüber, was das Ziel ist: der bessere Schutz von Opfern und die effizientere Verfolgung von Täter:innen. Doch die Ausformulierung des Prinzips der Einvernehmlichkeit ist weiter umstritten. Durch den Fall Pelicot wird der öffentliche Druck grösser, endlich einen konkreten Lösungsvorschlag zu präsentieren.

Emmanuel Macron hatte bereits während seines ersten Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 2017 die Gleichstellung von Mann und Frau zur Chefsache erklärt und vollmundig zahlreiche Verbesserungen angekündigt. Tatsächlich wurde unter seiner Regierung das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert, was weltweit einmalig ist. Doch beim Schutz von Opfern häuslicher und sexualisierter Gewalt ist viel zu wenig passiert. Allein 2024 sind bereits 84 Frauen von ihrem Partner oder Expartner ermordet worden. Statistisch gesehen, kommt es in Frankreich jeden dritten Tag zu einem Femizid. Über eine halbe Million Frauen werden laut der Regierung pro Jahr Opfer von sexualisiertem Missbrauch oder Belästigung, davon mehr als die Hälfte durch den Partner oder Expartner.

Am 8. März dieses Jahres hatte Macron angekündigt, das Prinzip der Einvernehmlichkeit gesetzlich festschreiben zu wollen. Nur wann? Und wie? Vor dem Hintergrund des Prozesses haben zahlreiche Organisationen und öffentliche Persönlichkeiten im ganzen Land zu Kundgebungen und Demonstrationen am 23. November aufgerufen und wollen nochmals den Druck erhöhen. Das Ende dieses Prozesses und Urteile gegen 51 «ganz normale» Männer könnten ein Anfang sein. Aber nicht Emmanuel Macron wird am Ende in die Geschichtsbücher eingehen, als Kämpfer für den Schutz und für die Rechte von Frauen. Denn dort steht schon jetzt ein anderer Name: der von Gisèle Pelicot.