Putschversuch in Südkorea: Eine Nacht im Dezember
Die Gründe für das autoritäre Handeln von Präsident Yoon Suk-yeol vergangene Woche bleiben rätselhaft. Doch dank der wachen Zivilgesellschaft konnte das Schlimmste abgewendet werden.
Als die noch relativ junge Demokratie Südkoreas am Samstag vor der zweiten grossen Bewährungsprobe innert kurzer Zeit stand, machten sich die Abgeordneten der konservativen Regierungspartei aus dem Staub. Geschlossen verliessen sie den Plenarsaal der Nationalversammlung – nur wenige Minuten bevor der Parlamentssprecher zur Abstimmung rief. Es ging in diesem Moment um nicht weniger als die Amtsenthebung von Präsident Yoon Suk-yeol. Jenem Mann also, der sein Land in eine tiefe Krise gestürzt hatte.
Wohl kein anderer Staat der Welt hat sich in den letzten Jahrzehnten derart fundamental gewandelt wie Südkorea. Der bitterarme, vom Koreakrieg – 1950 bis 1953 – zerstörte Agrarstaat schuftete sich zur führenden Technation hoch. Kulturell exportiert das Land seine Popmusik und seine Fernsehserien in alle Erdteile. Vor allem aber, und das ist die vielleicht grösste Errungenschaft, haben sich die Koreaner:innen nach Dekaden der Militärdiktatur ihre Demokratie hart erkämpft: Bei der Juni-Bewegung von 1987, die schliesslich zu den ersten freien Wahlen des Landes führte, wurden Tausende Demonstrant:innen von den Sicherheitskräften verletzt. Doch nun, Jahrzehnte später, drohte das Land innert weniger Stunden all diese Errungenschaften zu verlieren.
«Ich dachte zuerst: Ist das ein Film?»
Als sich Präsident Yoon Suk-yeol am Abend des 3. Dezember in einer live übertragenen Fernsehansprache an die Öffentlichkeit wendet, wirkt der 63-Jährige über jeden Zweifel erhaben. Mit ernster, selbstbewusster Miene beugt sich der konservative Politiker über sein Mikrofon und spricht ungeheuerliche Sätze: «Ich erkläre das Kriegsrecht, um die Republik Korea vor den Bedrohungen durch die nordkoreanischen kommunistischen Kräfte zu schützen. Um die skrupellosen staatsfeindlichen Kräfte unverzüglich auszulöschen. Und um die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu schützen.»
«Ich dachte zuerst: Ist das ein Film?», erinnert sich ein junger Mann, der sich als Nam vorstellt, an jenen Moment, in dem er die Nachricht auf seinem Handy aufploppen sah. Der 21-jährige Student im grauen Hoodie steht vor dem Bibliotheksgebäude der Yonsei-Universität, wo er eine Rauchpause einlegt. In den achtziger Jahren war die Universität die Hochburg der linken Protestbewegung, nahezu täglich lieferten sich am Eingang des Campus Polizisten mit den Studierenden Schlachten im Tränengasnebel. Heute erinnert jedoch wenig an die turbulenten Zeiten von damals, die Universität mit ihren Grünflächen und altehrwürdigen Fakultätsgebäuden schmiegt sich sanft an die Berghänge im Norden von Seoul.
Auch Student Nam kennt die Anekdoten von früher nur aus dem Geschichtsunterricht. Und dennoch ist ihm bewusst, dass das erneute Ausrufen des Kriegsrechts eine eklatante Zäsur für sein Land darstellt. «Präsident Yoon sollte zurücktreten», sagt Nam. Doch dass die Freiheit in seinem Land gefährdet sei, daran glaubt er nicht: «An allen Unis im Land verteidigen die Studenten ihre Demokratie.»
Jeon, der ebenfalls an der Yonsei-Universität studiert, stimmt zu: «Ich habe Vertrauen in unsere Verfassung. Wir haben das schliesslich alles schon einmal erlebt, während der Zeit der Militärs.»
Im Frühjahr 1980 hatte der ehemalige General Chun Doo-hwan zum letzten Mal das Kriegsrecht über Südkorea verhängt. Auch er fabulierte damals von einer nordkoreanischen Bedrohung von aussen, um seine Macht im Inneren zu schützen: In Gwangju, wo die Student:innen für freie Wahlen und politische Teilhabe auf die Strassen gingen, liess Chun Hunderte Demonstrant:innen von Soldaten erschiessen.
Über den Zaun ins Parlament
In der Nacht vom 3. Dezember, über vierzig Jahre später, landeten erneut Militärhelikopter auf dem Gelände des Parlaments im Westen von Seoul. Spezialkräfte in Camouflageuniformen verriegelten das Eingangstor. Für nahezu sechs Stunden standen plötzlich sämtliche politische Aktivitäten unter Strafe, genau wie die freie Berichterstattung. War eine längst überwunden geglaubte Vergangenheit wieder zurückgekehrt?
Die Politiker:innen des Landes reagierten in Windeseile. Lee Jae-myung, Oppositionsführer der linken Demokratischen Partei (DP), rief per Livestream dazu auf, in die Nationalversammlung zu eilen. Er selbst sprang über den Zaun zum Parlament. Bis Mitternacht hatten sich im Plenarsaal 190 Abgeordnete eingefunden, um den Präsidenten in einer hektisch einberufenen Abstimmung dazu zu zwingen, das Kriegsrecht wieder aufzuheben. Die Tür verriegelten sie mit Stühlen und Tischen, um die heraneilenden Soldaten aufzuhalten, wie etliche Videoaufnahmen zeigen, die teils von den Abgeordneten live in den sozialen Medien übertragen wurden. Erst im Morgengrauen hatte der Schrecken ein Ende: Gegen 4.40 Uhr hob Präsident Yoon Suk-yeol das Kriegsrecht wieder auf.
Draussen hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine Menschenmenge gebildet, die lautstark den Rücktritt ihres Präsidenten forderte. «Verhaftet ihn!», skandierte die Menge immer wieder in der bitterkalten Nacht.
Auch über eine Woche nach jenen Stunden können die meisten Koreaner:innen kaum glauben, was passiert ist. Die Gründe, warum Yoon Suk-yeol das Kriegsrecht ausgerufen hat, scheinen willkürlich bis absurd. Eine nordkoreanische Verschwörung etwa hatte es niemals gegeben. Die Generäle entlang der innerkoreanischen Grenze versichern, keine ungewöhnlichen Signale registriert zu haben. Auch die Streitigkeiten zwischen der Regierungspartei und der linken Opposition, die viele Gesetzesvorhaben Yoons aufgrund fehlenden Kompromisswillens unmöglich machten, sind in Südkorea eher die Regel als die Ausnahme. «Yoons Verhalten war offensichtlich eine Kurzschlusshandlung. Er schien dem Druck als Politiker nicht gewachsen zu sein», sagt ein europäischer Diplomat im Hintergrundgespräch.
«Die tatsächlichen Gründe lassen sich vor allem in der Innenpolitik finden. Hier ist die Liste lang», kommentiert Rüdiger Frank, Leiter des Instituts für Ostasienwissenschaften an der Universität Wien. In der Tat stand Yoon Suk-yeol bereits seit längerem mit dem Rücken zur Wand: Es kursierten mehrere Korruptionsvorwürfe gegen seine Ehefrau, die von Bestechung bis hin zur Manipulation von Aktienkursen reichen. Hinzu kamen historisch niedrige Umfragewerte, die teils auf unter zwanzig Prozent fielen. «Yoon Suk-yeol war isoliert. Er hat aus politischer Verzweiflung gehandelt», sagt Mason Richey, Politikwissenschaftler an der Hankuk-Universität für Fremdsprachen in Seoul.
Gewehre ohne Munition
Doch bislang hat die südkoreanische Demokratie die Bewährungsprobe überstanden. Die Zivilgesellschaft hat sich wachsam gezeigt, die Bevölkerung ist blitzschnell auf die Strasse gezogen. Und selbst das Militär hat trotz des Befehls zum Kriegsrecht Verantwortung gezeigt: So sollen die Soldat:innen ihre Gewehre ohne Munition getragen und zumindest in Teilen die Befehle ihrer Vorgesetzten nur halbherzig befolgt haben. Die Abgeordneten konnten trotz hoher Militärpräsenz in die Nationalversammlung gelangen, und auch die bereits angeordneten Haftbefehle gegen führende Politiker:innen der linken Opposition wurden nicht ausgeführt.
«In dieser Nacht war Südkorea eine dynamische, manchmal chaotische, aber durch und durch friedliche Demokratie», sagt ein langjähriger Bewohner Seouls über den 3. Dezember: «Heute ist es das immer noch. Die Koreaner können stolz auf sich sein.»
Noch ist Präsident Yoon allerdings im Amt. Einen ersten Amtsenthebungsantrag hat er dank eines Boykotts seiner Regierungspartei überstanden. Er gilt dennoch als angezählt: Yoons ehemaliger Verteidigungsminister ist bereits verhaftet, sein Innenminister zurückgetreten. Und auch gegen den Präsidenten hat die Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet. Der Vorwurf lautet auf Hochverrat – ein Strafbestand, für den potenziell die Todesstrafe verhängt werden kann.
Spätestens am kommenden Samstag wird die Opposition erneut einen Amtsenthebungsantrag zur Abstimmung bringen. Diesmal, so haben mehrere Abgeordnete der konservativen Regierungspartei bereits öffentlich erklärt, werden sie sich nicht vor ihrer demokratischen Verantwortung drücken.