Korea: Die Halbinsel der Widersprüche
Erstmals zieht in Südkorea eine Frau ins «Blaue Haus zu Seoul», den präsidialen Amtssitz, ein. Damit wird es zwischen Süd- und Nordkorea zu einer neuen Annäherung kommen – ungeachtet von Pjöngjangs jüngstem Atombombentest.
Auch wenn Nordkoreas Führung mit ihrem Atombombentest kürzlich die Welt in Aufruhr versetzt hat: Auf der koreanischen Halbinsel, wo der Kalte Krieg bis heute fortbesteht, beginnt in diesen Tagen eine neue Ära. In Südkorea wird die 61-jährige Park Geun Hye, Tochter eines Expräsidenten, mit der Übernahme des Präsidentenamts nächste Woche zur neuen politischen Führungsfigur. Sie setzt auf die Wiederbelebung des innerkoreanischen Dialogs.
Damit ist die Zeit von Präsident Lee Myung Bak, dem ehemaligen Hyundai-Manager und Exbürgermeister der Metropole Seoul, zu Ende. In seiner fünfjährigen Amtszeit hatte er nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seinen Spitznamen «der Bulldozer» überaus schätzte. Die «Sonnenscheinpolitik» seines Vorgängers Kim Dae Jung sowie die frühere «Politik für Frieden und Prosperität» von Roh Moo Hyun gegenüber dem Norden kanzelte er als naiv ab und bezeichnete deren Regierungsjahre von 1998 bis 2008 als «verlorene Dekade». Er verfolgte sowohl innen- als auch aussenpolitisch einen stramm antikommunistischen Kurs. Lee liess sich stets von der Überzeugung leiten, das Regime im Norden werde ohnehin in absehbarer Zeit implodieren.
Erblasten
Am 26. März 2010 war südwestlich der Baeknyeong-Insel im Gelben Meer die südkoreanische Korvette Cheonan gesunken. Sofort beschuldigten Südkorea und dessen «Schutzmacht» USA Nordkorea, das Kriegsschiff mit einem Torpedo versenkt zu haben. Kurz darauf machte Präsident Lee eine Entschuldigung durch Nordkorea zur Vorbedingung für bilaterale Gespräche sowie für einen neuen Anlauf der Sechsparteiengespräche zur Lösung der nordkoreanischen Atomfrage. Unter der Schirmherrschaft Chinas hatten in Beijing seit 2003 entsprechende Konsultationen stattgefunden, an denen neben dem Gastgeber und den beiden Koreas auch die USA, Japan und Russland teilnahmen.
Nordkorea bestritt, die «Cheonan» versenkt zu haben, und nannte den Vorfall eine Inszenierung des Südens. Auch russische und chinesische ExpertInnen äusserten Zweifel an Südkoreas Version und warfen die Frage auf, warum das Kriegsschiff ausgerechnet in einem Teil des Gelben Meeres manövriert hatte, dessen Grenzverlauf nie eindeutig festgelegt worden war und wo die Wassertiefe äusserst gering ist. Die ExpertInnen vermuteten, die Ursache des Unglücks sei eine Havarie. Doch als Nordkorea im November desselben Jahres auch noch die Insel Yonpyong mit Artillerie beschoss, wurde jedweder Dialog zwischen Seoul und Pjöngjang unmöglich.
Daraufhin begann Pjöngjangs Führung, sich noch stärker am grossen nördlichen Nachbarn China zu orientieren. China garantierte mit Öl- und anderen Hilfslieferungen mehr oder weniger das Überleben Nordkoreas. Im Gegenzug exportierte Nordkorea zunehmend die in China dringend benötigten Bergbauprodukte. Zudem kamen die beiden Länder überein, die Wirtschaftskooperation im Grenzgebiet zu intensivieren. Insbesondere sollten neue Produktions- und Handelsstätten eingerichtet werden.
Zahlreiche Widersprüche
Einer der zahlreichen Widersprüche auf der Halbinsel ist der, dass die von der Regierung in Seoul ein Jahrzehnt lang verfolgte «Sonnenscheinpolitik» gegenüber dem Norden ausgerechnet von ihrem engsten Verbündeten, den USA, unterlaufen wurde – unter dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Dieser hatte Anfang 2002 in seinem messianischen Feldzug gegen «den internationalen Terrorismus» Nordkorea neben dem Iran und dem Irak auf die Liste seiner «Achse des Bösen» gesetzt. Als unter seinem Nachfolger Barack Obama die schrillen Töne an die Adresse Pjöngjangs endeten, war es diesmal Südkoreas Präsident Lee, der gegenüber Nordkorea auf Konfrontation ging.
Ein weiterer Widerspruch: Bevor Mitte der siebziger Jahre die Welt das «Modell Südkorea» wegen seines ökonomischen Erfolgs zu preisen begann, hatte die Volksrepublik mit ihrem Dschutsche-Kurs, der auf eigenständige Entwicklung setzte, in vielen unabhängig gewordenen Ländern der Dritten Welt fasziniert. Wahrte der Norden gegenüber Moskau und Beijing stets Distanz, verordnete Südkoreas Militärdiktator Park Chung Hee, der Vater der neuen Präsidentin, dem Land damals einen Brachialkapitalismus. Dabei stützte er sich auf die Präsenz Zehntausender im Land stationierter GIs.
1996 wurde Südkorea nach Japan als zweites asiatisches Land in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgenommen, den erlauchten Klub reicher Länder. Derweil laborierte der Norden mehrfach an den Folgen von Dürre- und Flutkatastrophen sowie wirtschaftlicher Stagnation. Heute präsentiert sich die südliche Hauptstadt Seoul als kosmopolitische Metropole mit glitzernden Glas- und Betonfassaden. In der nördlichen Hauptstadt Pjöngjang mit ihren Monumentalbauten dagegen fühlt man sich an die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» im China der sechziger Jahre erinnert – inklusive Massenauftritte mit martialisch-pathetischer Marschmusik.
Eine eigentümliche Mischung
Die Zivilregierung in Seoul gibt sich demokratisch, offen und aufgeklärt. Doch die politische Führung stützt sich seit der Staatsgründung im August 1948 auf das archaische Nationale Sicherheitsgesetz. Einige von dessen Paragrafen beruhen auf dem «Gesetz für die Sicherheitsbewahrung» der ehemaligen Kolonialmacht Japan (1910–45), auf dessen Grundlage die japanischen Truppen WiderstandskämpferInnen inhaftiert und hingerichtet hatten. Laut dem Nationalen Sicherheitsgesetz gilt Nordkorea zudem offiziell als «staatsfeindliche Organisation». Dementsprechend war der Ende 2011 verstorbene nordkoreanische Staatsführer Kim Jong Il lediglich der «Rädelsführer einer antistaatlichen Organisation» – wenngleich auf dessen Einladung in den Jahren 2000 und 2007 die ersten innerkoreanischen Gipfeltreffen in Pjöngjang stattfanden.
Offiziell bekennt sich Nordkorea zum «Sozialismus eigener Prägung» und zum «starken und gedeihenden Staat». Die Führung verfolgt einen eigentümlichen Mix aus neokonfuzianischem Verhaltenskodex, rigidem Etatismus, Personenkult und einer Glorifizierung des Militärs. Dies hindert den Staat jedoch nicht daran, mit dem Gaeseong-Industrie-Komplex (GIC) nahe der Grenzstadt Gaeseong ein Projekt zu verfolgen, das mit südkoreanischem Geld und Know-how für den eigenen sowie den internationalen Markt produziert. Entsprechend haben sich südkoreanische Investoren verärgert über die Politik von Präsident Lee gezeigt, den sie wegen seiner starren Nordkoreapolitik dafür verantwortlich machten, dass das Vorzeigeprojekt vor sich hin dümpelt.
Im Jahr 2011 war Nordkoreas Führung damit beschäftigt, sich auf den 100. Geburtstag seines 1994 verstorbenen Staatsgründers und «ewigen Präsidenten» Kim Il Sung im April 2012 vorzubereiten. Am 17. Dezember 2011 verstarb zwar dessen Sohn Kim Jong Il. Doch die Nachfolgeregelung verlief weitaus problemloser, als es zahlreiche Korea-analystInnen vorhergesagt hatten. Unerwartet nahtlos wurde Kim Il Sungs Enkel Kim Jong Un zu Nordkoreas neuem Machthaber – flankiert von seiner Frau Ri Sol Ju.
Am 12. Dezember 2012, im Vorfeld der Wahlen in Südkorea, feuerte Pjöngjangs Führung dann mit einer Langstreckenrakete einen Satelliten ins All, um ihr Land international als «eine florierende grosse Nation» zu präsentieren. Zudem wollte Pjöngjang damit angesichts der beginnenden zweiten Amtszeit Obamas und des bevorstehenden Regierungswechsels in Seoul daran erinnern, Nordkorea wieder oben auf die politische Agenda zu setzen. Und schliesslich versuchte Enkel Kim Jong Un damit nach innen Stärke zu demonstrieren – insbesondere nachdem zuvor eine anlässlich des 100. Geburtstags seines Grossvaters gezündete Rakete kurz nach dem Start ins Meer gestürzt war.
In den vergangenen Monaten hat der phänomenale Aufstieg des südkoreanischen Rappers Park Jae Sang alias Psy, der mit seinem «Gangnam Style»-Video auf YouTube bis Ende Dezember 2012 über eine Milliarde Mal angeklickt wurde, auch die Menschen im Norden beschäftigt und inspiriert. Während Psy in seinem Song den extravaganten Lebensstil in Seouls Nobeldistrikt Gangnam persifliert, karikierte Nordkoreas Regierung auf Uriminzokkiri, dem Onlinedienst des Komitees für die friedliche Wiedervereinigung Koreas, mithilfe des Videos die Wahlkämpferin Park Geun Hye als «Eisprinzessin» – eine Anspielung auf ihren angeblich kalten Charakter.
Doch als wolle er der neuen Kollegin persönlich einen Olivenzweig überreichen, erklärte Kim Jong Un dann zur Verblüffung vieler in der diesjährigen Neujahrsansprache, sein Land strebe fortan eine Aussöhnung mit dem Süden an. Die Beendigung der Konfrontation sei eine wichtige Voraussetzung, um die Teilung des Landes zu überwinden und die Wiedervereinigung zu erreichen. «Die Geschichte der innerkoreanischen Beziehungen zeigt», so Kim wörtlich, «dass die Konfrontation zwischen Landsleuten zu nichts als Krieg führt.»
Auch diese Erklärung klingt widersprüchlich: Just am 12. Februar, als sich US-Präsident Obama auf seine «State of the Union»-Rede vorbereitete, meldete Nordkoreas staatliche Nachrichtenagentur KCNA, dass wenige Stunden zuvor ein «erfolgreicher unterirdischer dritter Atomtest zum Schutz der nationalen Sicherheit gegen die Bedrohung durch die feindliche Politik der USA» durchgeführt worden sei.
Ein drittes Gipfeltreffen?
Mit solchen «Demonstrationen der Stärke» hat Pjöngjang in den vergangenen Jahren immer wieder unterstrichen, dass es ein «grösstmögliches Abschreckungspotenzial» besitze. Die gemeinsamen Land- und Seemanöver Südkoreas und der USA betrachtet das Regime als Bedrohung der eigenen Sicherheit. Seit dem Koreakrieg (1950–1953) verfährt man in der Volksrepublik gemäss der Logik: Wird man nicht zum Freund, so will man zumindest als Feind geachtet werden. Dies gilt erst recht im Umgang mit den USA, die damit zu Verhandlungen und Zugeständnissen gezwungen werden sollen. Aus dem seit 1953 bestehenden Waffenstillstandsabkommen soll endlich ein Friedensvertrag werden.
Da die neue südkoreanische Präsidentin auf den Dialog setzt, schliessen die kürzlichen Atombombentests damit keineswegs aus, dass es noch in diesem Jahr zwischen Park und Kim zu einem – nach 2000 und 2007 – dritten innerkoreanischen Gipfeltreffen kommen wird.
Rainer Werning ist Koautor des 2012 im Wiener Promedia Verlag erschienenen Buchs «Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land».
Park Geun Hye: In den Fussstapfen des Vaters
Es war der zweite politische Streich im selben Jahr, der Park Geun Hye am 19. Dezember 2012 glückte, als sie mit 51,6 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahl für sich entschied. Ihr schärfster politischer Rivale Moon Jae In, ein früherer Menschenrechtsanwalt und Kandidat der Vereinten Demokratischen Partei, erhielt 48 Prozent. Im April zuvor war Park Geun Hye mit ihrer konservativen Partei Saenuri (Neue Welt / Neue Grenze) bereits aus der Parlamentswahl als Siegerin hervorgegangen. Das war ungewöhnlich in einem Land, das noch immer tief von einer konfuzianischen Geschlechterideologie geprägt ist.
Park Geun Hye ist die älteste Tochter von Park Chung Hee, der sich 1961 an die Macht geputscht und das Land bis 1979 diktatorisch regiert hatte. Er war im Oktober 1979 von seinem eigenen Geheimdienstchef ermordet worden. Sein Name ist bis heute im Bewusstsein vieler SüdkoreanerInnen mit der Transformation eines armen Agrarlands in einen prosperierenden Industriestaat verbunden. Und bis heute wird er von zahlreichen SüdkoreanerInnen als «Architekt des Wirtschaftswunders am Han-Fluss» geschätzt. Trotz erbitterter Kontroverse über ihn erweisen ihm viele bis heute die Ehre. Nach jahrelangem Streit wurde vor einem Jahr eine Gedenkstätte zu seinen Ehren eingeweiht.
Park Geun Hye hat im Wahlkampf zweifellos vom Image ihres Vaters profitiert. Vor allem viele ältere Menschen glauben, dass sie den erreichten Wohlstand sichern und einen weiteren wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen könne. Für fortschrittliche und linke Kreise ist der Name Park Chung Hee hingegen nach wie vor ein rotes Tuch. Sie werfen ihm vor, zwei Generationen von ArbeiterInnen geknebelt und jede Opposition martialisch unterdrückt zu haben, um das «Wirtschaftswunder» zu vollbringen.
Punkten konnte Park mit dem Versprechen, von der knallharten neoliberalen Wirtschaftspolitik ihres Parteikollegen und bisherigen Präsidenten Lee Myung Bak abzurücken. Sie hat versprochen, sich stärker für Arme, Marginalisierte und Behinderte einzusetzen und «eine neue Ära für unser Land zu beginnen». Denn auch in Südkorea hat die Prekarisierung in der Arbeitswelt zugenommen und sich die Schere zwischen Reich und Arm weiter geöffnet. Aussenpolitisch setzt die neue Präsidentin auf die Wiederbelebung des Dialogs mit dem Norden. Diese Politik des gegenseitigen Vertrauens soll Korea gemeinsam mit China und Japan als ebenbürtigen Partner in eine nordostasiatische Zone des Friedens und Fortschritts einbinden.
Park hat ihre Rolle als Frau im Wahlkampf nie zum Thema gemacht. Dabei hätte sie mit der Diskussion um Geschlechterrollen sowohl den Zugang zu jungen WählerInnen gefunden als auch eine überfällige Debatte über die in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik noch immer ausgegrenzten Frauen anstossen können.
Rainer Werning