Rassismus: Vorurteile im Therapiezimmer

Nr. 50 –

Rassismuserfahrungen und diskriminierende Strukturen führen zu starken psychischen Belastungen. Schwarze Menschen finden in der Schweiz oft nicht die nötige Unterstützung, aber es gibt Ansätze, das zu ändern.

Kinder- und Jugendpsychiaterin Fana Asefaw bei einer Therapie-Sitzung
Schwarze Frauen würden oft mit übertriebenem Mitleid konfrontiert, statt Hilfe zu bekommen, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Fana Asefaw.

«Plötzlich musste ich meiner weinenden Therapeutin ein Taschentuch reichen und sie trösten», erzählt Sara Jost*. Die zwanzigjährige Zürcherin begann vor über einem Jahr eine Psychotherapie, Anlass waren Probleme bei der Arbeit. Zunächst half ihr die Therapeutin gut: «Ich konnte besser mit meiner Depression und den Panikattacken umgehen», sagt Jost. Doch als sie der Therapeutin von ihren Rassismuserfahrungen berichtete, fühlte sie sich zunehmend unverstanden.

Als sie ihren Herbstblues erwähnte, meinte die Therapeutin nur, dass das an ihrer Herkunft aus dem «heissen Afrika» liege. Tatsächlich stammt Jost aber aus den kühleren Bergregionen Äthiopiens: «Ihre Aussage war schlicht falsch.» Ein anderes Mal erzählte Jost von einem Angriff im Supermarkt, bei dem sie rassistisch beleidigt und angespuckt wurde. Daraufhin begann die Therapeutin, die selber keine Rassismuserfahrung hat, zu weinen.

«Das ist unprofessionell», sagt Fana Asefaw, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Schwarze Frauen würden oft zu stark in eine Opferrolle gedrängt, was zu übertriebenem Mitleid führe – auch im Gesundheitswesen. An der medizinischen Fakultät der Universität Zürich unterrichtet Asefaw Student:innen auch zum Thema Antidiskriminierung. Zentral sei dabei, eigene Vorurteile zu erkennen: «Viele Ärztinnen oder Therapeuten projizieren ihre stereotypischen Vorstellungen von Afrika und Schwarzen Menschen auf die Patient:innen.» Sara Josts Erfahrung mit der Therapeutin sei ein Beispiel dafür.

Retraumatisierende Behandlung

In der Schweiz fehlt es grundsätzlich an Strategien und Daten zum Thema Rassismus und Psychotherapie. Anders in Deutschland: Dort gaben 2020 gemäss der «Afrozensus»-Studie zu Schwarzen Lebensrealitäten in Deutschland 62 Prozent der Befragten an, dass ihre Rassismuserfahrungen in der Therapie nicht ernst genommen oder gar infrage gestellt würden.

«Rassismus macht krank», betont Fana Asefaw. Durch Rassismus ausgelöste Traumata könnten zu Folgeerkrankungen wie Depressionen und Angststörungen führen. Ignoriere ein:e Therapeut:in diesen Zusammenhang, sei das ein Behandlungsfehler, der retraumatisieren und psychische Belastungen verstärken könne. Asefaw weiss von vielen Patient:innen mit solchen Erfahrungen. Sie rät Betroffenen, sich aktiv zu schützen: «Wenn Rassismus in einer Therapie reproduziert wird, sollte man Grenzen setzen und seine Gefühle gegenüber der Therapeutin oder dem Therapeuten ehrlich rückmelden.»

Sara Jost berichtet, dass sie sich ab dem geschilderten Moment in der Therapie nicht mehr vollständig habe öffnen können. «Ich hatte das Gefühl, meine Realität in Watte packen zu müssen – als müsste ich die Therapeutin vor meinen Erfahrungen schützen.» Innerlich habe sie schon damals entschieden, die Therapie zu beenden. Einige Monate später brach sie die Behandlung ab, obwohl sie dringend Unterstützung benötigte.

Auch das ist kein Einzelfall. Antischwarzer Rassismus führt oft dazu, dass Betroffene Therapien abbrechen, bevor es zu einer Stabilisierung ihrer Situation kommt. Stattdessen wandern sie von Praxis zu Praxis auf der Suche nach einer Person, die ein Bewusstsein für rassismusbedingte Belastungen hat – ein enormer Mehraufwand, besonders in einer psychischen Krise.

Defizite in der Ausbildung

Auch Robin Amari* (28) kennt dieses «Therapeutenhopping». Seit der Kindheit war Amari aufgrund psychosomatischer Bauchschmerzen bei verschiedenen Ärztinnen und Therapeuten. Heute glaubt die nonbinäre Person zu erkennen: «Die Schmerzen und psychischen Leiden hängen mit Diskriminierung und starkem Mobbing in meiner Kindheit zusammen.» Doch dieser Zusammenhang fand in den Gesprächen mit den weissen Therapeut:innen keinen Raum. Schliesslich begann Amari eine selbstfinanzierte Onlinetherapie bei einer Schwarzen Therapeutin in London: «Mit ihr konnte ich endlich meine Geschichte aufarbeiten und verstehen, dass systematischer Rassismus zu meinen traumatischen Erfahrungen geführt hat.» Die Erfahrungen in der Schweiz führten bei Amari zur Überzeugung, dass weisse Therapeut:innen Schwarzen Menschen nicht helfen können, rassismusbezogene Traumata zu verarbeiten: «Eine weisse Person kann mir keinen sicheren Raum bieten.»

Abdurahman Mah, der sich in Genf zum Psychotherapeuten ausbilden lässt, macht die Erfahrung, dass viele seiner Kolleg:innen Patient:innen, die Rassismus erleben, an ihn verweisen. Sie gehen davon aus, dass er als Schwarze Person somalischer Herkunft eher dafür geeignet sei, diese zu behandeln. Fana Asefaw betont dagegen, dass man als Therapeut:in nicht zwingend ähnliche Erfahrungen wie die Patient:innen machen muss, um sie kompetent zu behandeln: «Es geht um Empathie und um das Ernstnehmen des Gegenübers.» Für viele Patient:innen sei es am heilsamsten, wenn endlich jemand anerkenne, dass sie ausgegrenzt oder rassistisch angegriffen worden seien – professionell, ohne Grenzen zu überschreiten, ohne Tränen und Umarmungen.

Abdurahman Mah arbeitet seit Jahren an der Schnittstelle von Diskriminierung und psychischer Gesundheit – unter anderem bei Dialogai, einer Organisation, die sich für die psychologische Unterstützung der LGBTIQ+-Community engagiert. In der Schweiz seien Geschlechter- und LGBTIQ+-Themen bereits etablierter in der Psychotherapie, rassistische Diskriminierung werde aber in seiner Ausbildung zum Therapeuten in keinem Pflichtmodul erwähnt, sagt Mah. Ginge es nach ihm, müsste das Thema zum festen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung werden: «Es kann nicht die alleinige Aufgabe der wenigen Schwarzen Therapeut:innen sein, über Rassismus aufzuklären.»

Was sagt die Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten dazu? Deren Präsidentin Gabi Rüttimann antwortet vage: Man agiere «neutral und empathisch», diesbezügliche Themen würden durch Expert:innen für die Mitglieder «aufgearbeitet». Konkrete Projekte werden allerdings keine genannt.

Alexandra Schwald, eine Basler Therapeutin, die selber nicht von Rassismus betroffen ist, war frustriert über die mangelnden Möglichkeiten, sich diesbezüglich weiterzubilden, und hat die Initiative ergriffen: In Zusammenarbeit mit dem kantonalen Berufsverband organisiert sie für nächstes Jahr eine Weiterbildung zu rassismussensibler Psychotherapie. Parallel dazu entsteht im Berufsverband beider Basel eine Arbeitsgruppe zum Thema.

Fana Asefaw betont, dass es um mehr gehen sollte als darum, Patient:innen nicht zu retraumatisieren. Wichtig sei, ihnen darüber hinaus zu helfen, einen Umgang mit ihren Traumata zu finden. Einen wesentlichen Beitrag erhofft sie sich dabei von der Forschung zu Resilienzstrategien: «Warum zerbrechen manche Menschen an rassistischen Erfahrungen, während andere Wege finden, damit umzugehen?» Es gehe darum, Schutzfaktoren zu identifizieren.

Schwarze Therapeutinnen und Ärzte of Color kritisieren grundsätzlich die fehlende Anerkennung der Resilienzstrategien Schwarzer Menschen. Viele von Rassismus Betroffene stärken sich durch individuelle und kollektive Empowermentprozesse. Ein Weg, zu dem auch Asefaw rät: Nach Erfahrungen von Rassismus sei es wichtig, Unterstützung zu finden bei Menschen, die einem glaubten – unter Freund:innen, bei der Familie oder bei einer Therapeut:in.

Halt in Schwarzen Räumen

Inzwischen hat auch Sara Jost Wege gefunden, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. Ihr ist es im Moment wichtig, viel Zeit mit ihren Schwarzen Freund:innen zu verbringen: «In Schwarzen Räumen», sagt sie, «finde ich gerade Halt.» Dort könne sie von ihren Erfahrungen berichten und sich mit anderen austauschen. Ein wichtiges Element sei dabei auch die Freude: diese «Black Joy» stärke sie und festige ihr Selbstbewusstsein als Schwarze Frau. Black Joy beschreibt eine Form der Resilienz Schwarzer Menschen, die Freude feiert, um Rassismus entgegenzutreten und Gemeinschaft zu stärken.

Aus solchen Räumen entstehen auch Initiativen wie das Schweizer «BiPoC Mental Health Netzwerk». Dieses wurde im November von der psychosozialen Beraterin Maneva Tafanalo Salaam und Mitinitiant:innen gegründet. Ziel des Netzwerks ist es, über eine Website und Social Media Rassismusbetroffene zu vernetzen und Ressourcen zur mentalen Gesundheit zu teilen. Das Netzwerk umfasst psychosoziale Beraterinnen, Therapeuten, Coaches und Psycholog:innen, deren Arbeit bislang meist nicht durch die Grundversicherung abgedeckt ist. Auch die Plattform geplaper.ch bietet mit einem Verzeichnis diskriminierungssensibler Gesundheitsfachpersonen Unterstützung für Betroffene von Diskriminierung an – sei es aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder Sexualität. Notwendig bleibt aber weiterhin die Sensibilisierung von Fachpersonen, deren Angebote über die Grundversicherung zugänglich sind. Nur so können Schwarze Menschen, die wegen Rassismus unter psychischer Belastung leiden, sicher und bezahlbar therapeutische Hilfe erhalten.

* Name geändert.

Gesundheitsforschung: Wie Rassismus krank macht

Studien zeigen, dass diskriminierungs- und insbesondere rassismusbedingter Stress häufig mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Intrusionen (dem unkontrollierten Wiedererinnern von Stresssituationen) verbunden ist. Wegweisend in der Erforschung des Zusammenhangs von Rassismus und Erkrankungen war die US-amerikanische Gesundheitsforscherin Arline Geronimus: Sie prägte den Begriff des «Weathering», auf Deutsch Verwitterung, eine Form von chronischem Stress, der als Langzeitfolge von Diskriminierung entstehen kann.

Bereits vor dreissig Jahren untersuchte Geronimus, warum in den USA die Sterblichkeitsrate Schwarzer Säuglinge mit zunehmendem Alter der Mütter stärker stieg als bei weissen Frauen. Sie kam zum Schluss, dass ältere Schwarze Frauen länger Diskriminierung ausgesetzt waren, was sich negativ auf die Gesundheit ihrer Kinder ausgewirkt habe. Eine spätere Studie zeigte zudem, dass wohlhabende Schwarze Frauen durch «Weathering» gesundheitlich sogar stärker belastet waren als weisse Frauen mit niedrigem Einkommen.

In den 1990er Jahren, als Geronimus die «Weathering»-These entwickelte, wurde sie für ihre Forschung stark kritisiert; neuere Studien bestätigen jedoch ihre Ergebnisse. So zeigt sich etwa, dass viele von Rassismus Betroffene schon früh an Krankheiten leiden, die üblicherweise erst im Alter auftreten. Forschende können heute zudem belegen, dass Diskriminierung physiologische Veränderungen im Gehirn auslösen kann, die das emotionale Erleben, die Emotionsregulation und die Selbstwahrnehmung betreffen. Trotz dieser Forschungsergebnisse gibt es noch keine offizielle Definition von Traumata im Zusammenhang mit Diskriminierung.

Die Informationen in diesem Text basieren auf dem Artikel «Chronisch ungesund» von Fana Asefaw und Naemi Valdivia Rojas, erschienen in der «Deutschen Hebammen Zeitschrift».