Diesseits von Gut und Böse: Enges Herz macht schmale Lippen
«Die Sozialhilfequote ist laut dem Bund auf einem Rekordtief», frohlockten am Montag diverse Medien. Das war die gute Nachricht. Die schlechte steuerte die Caritas bei: Der Tiefststand sei kein Indiz dafür, dass die Armut abnehme.
Der Rückgang verdankt sich einerseits der erfreulichen Tatsache, dass viele Bezüger:innen wieder eine Arbeit gefunden haben. Andererseits hat sich nichts daran geändert, dass sich ein Grossteil der Betroffenen für ihre Armut schämen und es als demütigend empfinden, sich ans Sozialamt wenden zu müssen.
Eine Empfindung, die durchaus nachvollziehbar ist, wenn man sich vorstellt, am Schalter werde man von SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann empfangen. Die ist nämlich Mitglied der Sozialbehörde in Regensdorf ZH und tat am Montag in der Sendung «10 vor 10» schmallippig kund, was sie von armen Familien hält: Kinderreiche Familien würden bereits zu stark unterstützt. Wenn man noch höhere Leistungen auszahle, habe die Gemeinde noch mehr Mühe, so jemanden in den Arbeitsmarkt zu integrieren, der Anreiz, zu arbeiten, sinke immer mehr.
Dabei zeigte die Berichterstattung klar: Am stärksten von Armut betroffen sind Kinder. Rund 76 000 Kinder in der Schweiz leben unter oder an der Armutsgrenze. Statistisch gesehen sitzt in jeder Schulklasse ein betroffenes Kind. Eine Lehrerin erzählte, deren Eltern nähmen beim Schulausflug lieber einen Jokertag, um den notwendigen Beitrag nicht zahlen zu müssen. Die Kinder litten darunter, dass sie die Verhältnisse verstecken müssten und oft nicht wüssten, was sie erzählen dürfen. Für Lehrpersonen sei die Situation möglicherweise daran erkennbar, dass ein Kind häufig dieselben Kleider trage und kaputte Zähne habe, weil das Geld nicht für den Zahnarzt reiche.
Von Bundesrätin Baume-Schneiders Vorschlag, Ergänzungsleistungen statt Sozialhilfe für Familien auszuzahlen, hält Steinemann gar nichts: Ob die Eltern das zusätzliche Geld fürs Wohl der Kinder oder für ihren eigenen Konsum verwendeten, müsse man ja dann auch noch kontrollieren.
Dass es anders geht, zeigte die Bevölkerung des Kantons Freiburg im September: Mit siebzig Prozent Ja-Stimmen entschied sie, Familien am Existenzminimum finanziell zu unterstützen. Dabei war im September doch noch gar nicht Weihnachten.