Licht im Tunnel: Woyzeck, nein danke

Nr. 51 –

Michelle Steinbeck über das tote Patriarchat

Das Gericht in Venedig hat im Fall des Femizids an der 22-jährigen Giulia Cecchettin das Urteil gesprochen. Lebenslang für den geständigen, heute 23-jährigen Exfreund. Der Präsident des Senats, der als gewalttätiger Neofaschist bekannte Ignazio Benito La Russa, liess verlauten, das Verdikt sei ein «Warnsignal» für alle, die Gewalt und Kontrolle ausüben würden. Giulias Vater Gino Cecchettin sagte dagegen: «Heute haben wir alle verloren – als Gesellschaft, als Menschen. Wir müssen mehr für Prävention tun, statt nur auf Strafen zu setzen.»

Er und Giulias Schwester Elena engagieren sich seit Giulias Tod, um die gängigen Narrative, die auf einen Femizid folgen, zu entkräften. Unermüdlich wiederholt Elena, dass der Mörder ihrer Schwester kein «krankes Monster ausserhalb der Gesellschaft» sei, sondern «gesundes Kind des Patriarchats». Vater und Tochter Cecchettin ist zu verdanken, dass der Diskurs über geschlechtsspezifische Gewalt in den letzten Monaten in Italien breit geführt wurde und landesweit Demonstrationen stattgefunden haben.

Gino Cecchettin hat nun diesen November, ein Jahr nach der Ermordung seiner Tochter, die Giulia-Stiftung gegründet, die unter anderem in Schulen über geschlechtsspezifische Gewalt aufklären und sie so verhindern soll. Bei der offiziellen Eröffnung liess Bildungsminister Giuseppe Valditara in einer Videobotschaft ausrichten, es sei der falsche Weg, «ideologisch» gegen Gewalt gegen Frauen vorzugehen, indem das Patriarchat bekämpft werde. Dieses sei schliesslich bei der Reform des Familiengesetzes im Jahr 1975 «beendet» worden. Weiter behauptete er, die «steigende sexualisierte Gewalt» sei auf die «illegale Migration» zurückzuführen – was aktuelle Studien klar widerlegen.

Auch dass der erschwerende Umstand des Stalkings im Gerichtsurteil fallen gelassen wurde, ist für die Familie Cecchettin «weitere Bestätigung dafür, dass sich die Institutionen nicht um die Frauen kümmern». Wie kontrollsüchtig Giulias Exfreund schon während der Beziehung war, wie er sie isolierte und einschüchterte, bezeugen nicht nur ihre Freund:innen, sondern auch eine Liste von Giulia, die im Gericht verlesen wurde: «Fünfzehn Gründe, ihn zu verlassen». Für ihre Schwester ein Beweisstück dafür, wie Gewalt bereits vor dem «Messer oder der Faust» anfängt. Giulia sei demnach nicht allein durch ihren Ex getötet worden, sondern auch durch die gesellschaftlichen Rechtfertigungen und die Gleichgültigkeit gegenüber all jenen Vorzeichen, die einem Femizid vorausgehen.

Und doch – kontinuierliche aktivistische Aufklärung und Bildung, gestärkt durch globale Bewegungen wie #MeToo und Black Lives Matter, tragen Früchte; Widerstand zeigt sich auch in der Kunst. In Wiesbaden wird derzeit ein «Woyzeck» aufgeführt, wo sich eine neue Generation Spieler:innen geweigert hat, das ewige, vermeintlich unvermeidbare «Eifersuchtsdrama» zu reproduzieren. Stattdessen liefern sich Tabea Buser als Marie und Abdul Aziz Al Khayat als Woyzeck zum Schluss einen selbstgeschriebenen Schlagabtausch, in dem sie Geschlechterrollen und Migrantisierung anprangern, analysieren – und schliesslich die Geschichte umschreiben: «Und jetzt legt ihr mir eine Pistole in die Hand, und ich soll schiessen? / Oder ein Messer, und ich soll stechen? / Soll ich? / Muss ich? / Nein danke, ich verzichte. / Ich träume von einer besseren Zukunft für uns, und ich dichte.»

Michelle Steinbeck ist Autorin und Schwägerin der Marie am Theater Wiesbaden. Ihr Roman «Favorita» handelt unter anderem von einem historischen Femizid in Italien.