«Favorita»: Geisterjagd im Untergrund

Nr. 24 –

Wie umgehen mit Femizid? In Michelle Steinbecks neuem Roman verstrickt sich die Protagonistin auf der Suche nach Antworten in ambivalente Geschichten und Figuren. Nur Steinbecks Sprache bleibt wunderbar luzid.

Grab der «bella Elvira» in Tolano
Ein ungeklärter Mord als reales Vorbild: Grab der «bella Elvira» in Toiano. Foto: Alamy

Laut ist die Mutter, unberechenbar, zärtlich und furchteinflössend. Und irgendwann ist sie tot. Als offizielle Todesursache wird eine Leberzirrhose angegeben, aber eine Ärztin ruft die Tochter Fila aus Italien an und sagt: «Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet.» Fila ist bei ihrer italienischen Grossmutter in der Schweiz aufgewachsen, die Mutter war nur manchmal da und dann schon bald wieder verschwunden: in der Sucht, bei irgendwelchen Männern, in Italien, Neapel, irgendwo. Die Grossmutter schimpfte und litt, und Fila wusste nie: Soll sie sich freuen, erleichtert oder traurig sein?

Der Anruf der Ärztin ist der Startschuss für dieses wilde Buch: «Favorita». Autorin und WOZ-Kolumnistin Michelle Steinbeck schickt ihre Protagonistin dafür aus der Schweiz nach Italien, zu Sexarbeiterinnen, einem von ihnen gegründeten kommunistischen Geheimzirkel, zu dekadenten Faschist:innen – und vielen Rätseln hinterher. Wurde die Mutter wirklich umgebracht, und wenn ja, von wem? Wer hat ein Interesse daran, den Mord zu vertuschen? Fila hat ihre Mutter nie richtig gekannt, hat ein verzwicktes Verhältnis zu ihrem Herkunftsland Italien, spricht die Sprache nur angelernt. Nicht einmal über ihren Rufnamen waren sich Mutter und Grossmutter zeitlebens einig – «Mimma» sagte die eine, «Fila» die andere: «Favorita» ist auch ein Buch über Zugehörigkeit und die Suche danach.

Meisterhaft imitierte Lüsternheit

Bei der Suche nach der Geschichte ihrer Mutter stösst Fila bald auf eine andere: jene der «schönen Sisina», einer jungen Frau, die vor vielen Jahren getötet wurde. Sie hat ein reales Vorbild: «La bella Elvira» nannte man die junge Frau, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in Toiano, einer kleinen Ortschaft nahe Pisa, im Wald ermordet wurde. Der Fall wurde nie gelöst, Elviras Verlobter als Hauptverdächtiger wegen mangelnder Beweise auf freien Fuss gesetzt.

Diesen Femizid nimmt Steinbeck auf. Fila beginnt, sich mit Sisina zu beschäftigen: Hat ihr Verlobter sie aus Eifersucht umgebracht, war es ihr Vater oder jemand aus der Villa, die das winzige Dorf überragt und für deren adlige Bewohner:innen die meisten der Bäuer:innen hier arbeiteten? Filas Auseinandersetzung wird obsessiv, so sehr, bis Sisina fast dauernd auch als Geist anwesend ist – und sie trifft bald auf andere, denen es ebenso ergeht. Lorenzo etwa, mit dem sie in der Villa landet, in der Sisina eine Zeit lang gearbeitet hat. Wie beim realen Vorbild war der Fall seinerzeit zum Medienereignis geworden, zahlreiche Journalist:innen reisten nach dem Mord in den kleinen Ort, um darüber zu berichten.

Im Mittelteil des Buches finden sich Zeitungsartikel über die «schöne Sisina», die Fila in einem Buch gesammelt findet – sie sind, wie Steinbeck im Nachwort schreibt, inspiriert von den Medienberichten über den Fall der «bella Elvira». «Mädchen im Wald aufgeschlitzt» oder «War die schöne Sisina guter Hoffnung?» lauten die Titel, und am Ende, nachdem Vito, Sisinas Verlobter, freigesprochen wurde: «Die Rückkehr des Helden». Steinbeck imitiert meisterhaft die vordergründig um Nüchternheit bemühte, doch oft reisserische, auch lüsterne Sprache der Berichte und zeigt, wie aus dem Mord an einer Frau allmählich eine Heldengeschichte gedreht wird. Was ist wirklich passiert? Als Leserin geht es einem nicht anders als Fila; man wird von den Berichten, den Legenden, der eigenen Fantasie verführt. Was wahr ist, wird ständig verwischt, weil die Erzählerin notorisch unzuverlässig ist, immer wieder einschläft, Dinge erträumt, schlafwandelt. Das wache Erleben beschreibt sie in ebenso wilden Farben wie die Traumwelt – ob sie noch unterscheiden kann, ist sowieso unklar.

Das poetischste Thema der Welt

Es ist ganz ähnlich wie mit Italien selbst: Oberflächlich erscheint dieses Buch oft heiter, doch nur wenig tiefer liegen düstere Lebensrealitäten. Steinbecks Sprache leuchtet, aber sie erzählt auch klar von Femizid, darüber, wie oft dieser nicht geahndet wird, es geht um Gewalt, Missbrauch und ihre Alltäglichkeit. Die Auseinandersetzung mit dem Mord an Sisina, um den sich bis heute Mythen, Legenden und Geistergeschichten ranken, und jenem an Filas Mutter, der verschwiegen und unsichtbar gemacht wird, reflektiert auch den problematischen gesellschaftlichen Umgang mit solchen Taten. «Der Tod einer schönen Frau ist das poetischste Thema der Welt, nicht wahr? Nur der Tod einer alten Nutte interessiert leider kein Schwein», sagt einmal jemand zu Fila.

Steinbeck stellt sich dabei klar auf die Seite der Frauen. Trotzdem stellt sich jede Figur, die man beim Lesen näher kennenlernt, als wunderbar ambivalent heraus: Grossmutter und Mutter, die verbündeten Sexarbeiter:innen, Fila selbst. Auch bei Lorenzo bleibt unklar, ob er Fila vor einer Explosion gerettet oder sie entführt hat; ob er Faschist, verlorener Bub oder jemand ganz anderes ist oder eben all das zugleich. Fila beargwöhnt und begehrt ihn gleichermassen, wirklich aufgelöst wird auch hier nichts. Zwischendurch und ganz zum Schluss gibts dann doch auch ein paar astreine Arschlöcher. Wird ihnen alles um die Ohren fliegen?

Buchcover von «Favorita»
Michelle Steinbeck: «Favorita». Park x Ullstein Verlag. Berlin 2024. 464 Seiten. 34 Franken.