Licht im Tunnel: Gerechtigkeit für Täter
Michelle Steinbeck über Frauenhass

Der Prozess im Mordfall Giulia Cecchetin hat begonnen. Die 22-jährige Studentin wurde vor weniger als einem Jahr von ihrem gleichaltrigen Exfreund getötet. Hunderttausende demonstrierten seither in Italien gegen geschlechtsspezifische Gewalt und ihre Normalisierung, allen voran Giulias Schwester Elena und der Vater Gino. Sie haben in der Öffentlichkeit wiederholt und ausdrücklich von Femizid als Folge des Patriarchats gesprochen und erklärt, welche Verantwortung Staat und Gesellschaft dabei tragen.
Auch wenn der Begriff «Femizid» mittlerweile in viele Medien Eingang gefunden hat – eine Reflexion über seine Bedeutung findet selten statt. Richtig zuzuhören scheinen die wenigsten. So titelt etwa der «Tagesspiegel»: «Dieser Mord ohne Vorwarnung macht vielen Frauen Angst». Das dominierende Gefühl ist vielmehr Wut: Es ist bekannt, dass Giulias Ex schon während der Beziehung besitzergreifend und übergriffig war – für Schwester Elena klare Warnsignale, die in einer sensibilisierten Gesellschaft ernst genommen worden wären.
Das zeigt auch der Fall Marianna Manduca, die 2007 von ihrem Ex getötet wurde. Der italienische Staat wurde damals dazu verurteilt, ihren Kindern Entschädigung zu zahlen, da vor der Tat zwölf Klagen gegen ihn eingereicht worden waren – ohne Konsequenzen. Daraus entstand die Initiative «Insieme a Marianna», die nun, zusammen mit vier anderen Frauenrechtsorganisationen, Nebenklage im Fall Cecchetin eingereicht hat. Sie wurde abgelehnt. Der Anwalt des Angeklagten zeigt sich über deren Ansinnen «verwirrt»: Im Prozess solle kein «Kulturkampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt» verhandelt werden, sondern ausschliesslich «eine gerechte Strafe» für seinen Mandanten.
Dass im Patriarchat die Gerechtigkeit vor allem für Täter hochgehalten wird und nicht für Opfer und ihre Angehörigen, zeigt sich auch in anderen aktuell prominenten Gerichtsfällen. Etwa im Verdikt, das der Andelfinger, der mindestens zwei Frauen gefesselt in einen Käfig gesperrt hatte, erhalten hat: neun Monate Gefängnis unbedingt – weniger lang, als er die beiden Frauen eingesperrt hatte. Die Frau des Verurteilten, der eine Mittäterinnenschaft angelastet wird, bekam eine gravierendere Strafe als er – zu sechzehn Monaten bedingter Haft kommen noch fünf Jahre Landesverweis. Das Gericht hat dabei die geforderte Strafe der Anklage noch erhöht.
Der Papst hat es kürzlich in einer Rede unwillentlich auf den Punkt gebracht: «Die Frau ist fruchtbare Aufnahme, Fürsorge, lebendige Hingabe.» Frauen, die sich dem widersetzen, seien «hässlich». Es ist diese Ideologie, die noch die Amoktat eines Mannes zu erklären weiss, der, so die Schlagzeile, die «Trennung von Ex-Frau nicht verkraftet» habe, weshalb er aus «Frustration» 31 Menschen verletzte.
Wie tief die Bereitschaft ist, sich mit Frauenhass auseinanderzusetzen, ist erschreckend. Nur noch belämmert wirkt die systematische Täter-Opfer-Umkehr einer NZZ, in der stattdessen über den grassierenden «Männerhass» fabuliert wird. Es wird Zeit, die richtigen Fragen zu stellen: Wieso «verkraften» so viele Männer Trennungen nicht? Wieso töten sie lieber, als dass sie sich zurückweisen lassen? Wieso wollen sie über Frauen herrschen, statt Beziehungen auf Augenhöhe zuzulassen? Wie Elena Cecchetin sagt: «Die systematische Normalisierung der patriarchalen Gewalt hängt von uns allen ab.»
Michelle Steinbeck ist Autorin. Für eine Vertiefung des Themas empfiehlt sie die Bücher der Anwältin Christina Clemm, deren Erkenntnisse auch in ihren Roman «Favorita» eingeflossen sind.