Erwachet!: Brennt alles nieder!
Michelle Steinbeck über Staatsmorde
Pünktlich zum internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen streicht Finanzministerin KKS das Budget für Präventionskampagnen gegen häusliche, sexuelle und geschlechtsbezogene Gewalt. Im «Tages-Anzeiger» wird derweil über die «erschreckende» Femizidrate in Italien berichtet und gefragt, ob das am «Machismo» liegen könnte, der «die italienische Gesellschaft mehr präge als andere».
Anstoss zur Debatte gibt der laut offiziellen Angaben 102. Femizid des Jahres in Italien, der in den letzten Tagen international Schlagzeilen machte: Der 22-jährige mittlerweile geständige Täter war tagelang auf der Flucht, bis er in Deutschland gefasst wurde, wo er seither in Auslieferungshaft sitzt. Bereits nach der ersten Nacht im Gefängnis wird er etwa im «Messaggero» für seine Kooperationsbereitschaft gelobt und sein Befinden in die Headline gepackt: Er sei «sehr bemüht und besorgt».
Diese verbreitete Art von Berichterstattung entlarvt unwillentlich den Kern des Problems. Bestürzt wird über die Gründe spekuliert, die den jungen, bisher «unauffälligen und sympathischen» Mann zu dieser Tat gezwungen haben könnten. Von der Angst, verlassen zu werden, ist die Rede, und davon, dass er nicht damit umgehen konnte, dass die gleichaltrige Exfreundin, die kurz vor dem Uniabschluss stand, wegziehen wollte. Also «versuchte» er, wie der «Tagi» schreibt, «sie von ihren Plänen abzubringen». Dass er diesen Versuch bewaffnet und bis zum bitteren Ende ausführen musste, liegt laut Talkshow-«Experten» und Kommentarspalten aber nicht in seiner Verantwortung: Schuld sei, wie immer in solchen Fällen, die Mutter des «gestörten» Täters.
Gegenwind erfahren diese gängigen Narrative vom Umfeld der ermordeten Giulia. Ihre Schwester Elena hielt eine viel beachtete Rede, in der sie die übergriffigen Verhaltensmuster des Exfreunds beschreibt, die in einer sensibilisierten Gesellschaft als Warnsignale betrachtet worden wären. Er sei nicht das «kranke Monster», als das er oft bezeichnet werde, sondern «gesundes Kind des Patriarchats, das von Rape Culture geprägt ist». Und diese Kultur würde solches Verhalten, «das nichts anderes als das Vorspiel zum Frauenmord ist», legitimieren und akzeptieren.
«Dass zur Erklärung von Giulias Tötung von ‹Wahnsinn› oder ‹schwierigem Moment› gesprochen wird, ist respektlos», meint auch eine von Tausenden Kommiliton:innen, die sich vor der Uni Padua zu einer «Minute des Lärms» versammelt haben. «Diese Verschleierung ist das Problem; die Weigerung, der Sache ins Auge zu sehen.» Und ein Student sagt: «Als Männer müssen wir uns alle überprüfen. Wir alle haben in der Vergangenheit dazu beigetragen, ein Klima zu schaffen, das solche Taten begünstigt.»
Giulias Schwester Elena schlussfolgerte: «Femizid ist Staatsmord, denn der Staat schützt uns nicht.» Die Regierung in Rom hat nun einen Gesetzentwurf beschlossen, der Frauen besser vor Gewalt schützen soll. Dazu gehört eine Kampagne gegen Femizide – ähnlich jener, die in der Schweiz gerade vom Bundesrat versenkt wurde. Dabei zeigt eine kurze Recherche auf «Swissinfo»: In der Schweiz werden prozentual mehr Frauen in einer Paar- oder Familienbeziehung getötet als in Italien. Was Elena fordert, gilt also auch hier: «Macht keine Schweigeminute für Giulia – brennt alles nieder für Giulia! Jetzt braucht es eine Kulturrevolution. Damit Giulias Fall endlich der letzte ist.»
Michelle Steinbeck ist Autorin.