Polyglotte Stimmen aus Glarus: Ein Chor von Welt

Nr. 51 –

Vielfältig und offen wollen sie sein, aber kein Integrationsprojekt: Zu Besuch in Ennenda, wo sich der Glarner Weltchor zwischen hohen Berggipfeln über schweizerische Engstirnigkeiten hinwegsetzt.

Glarner Weltchor bei der Probe
Alle müssen voneinander lernen: «Schliesslich singen alle Lieder in Sprachen, die für sie Fremdsprachen sind», sagt ­Chorleiterin Elizabeth Kalmar.

Während bereits eingesummt und eingesungen wird, trudeln die letzten Sänger:innen ein. Laut werden noch ein paar Stühle umhergerückt. Dann gehts zackig los mit der Probe, dafür sorgt Chorleiterin Elizabeth Kalmar. «Ihr müsst lauter singen!», ruft sie mehrmals der hintersten Reihe zu, wo heute bloss drei Herren den Bass bilden. Und wo immer sich manche der rund dreissig Sänger:innen mit einzelnen Liedpassagen schwertun, egal in welcher Stimmlage, trägt Kalmar sie mit ihrer vollen Stimme durch die Takte. Charmant, aber bestimmt korrigiert sie ab und an: «Ich habe etwas Mühe mit eurem Glissando», ruft sie, und erneut betrifft es die Bassgruppe. Dann wieder spart sie nicht mit Lob, als sich diese ihre Anweisungen zu Herzen nimmt.

Es ist stockdunkel an diesem Dezemberabend in Ennenda. Die steilen Felswände, die den Glarner Talboden eng umrahmen, sind draussen höchstens zu erahnen. Und drinnen, im grell ausgeleuchteten Mehrzweckraum des evangelischen Kirchentreffs, hat sich ein kleiner Lai:innenchor eingefunden, der seine Weltgewandtheit schon im Namen trägt: der Glarner Weltchor, dessen Mitglieder allesamt in der Region wohnen, aber zum Teil von sämtlichen Kontinenten den Weg ins Glarnerland gefunden haben.

Im Kern liegt die Vielsprachigkeit

Neben Elizabeth Kalmar sitzt vorne am Klavier ihr Ehemann Geza Kalmar. Die beiden leiten den Chor seit dessen Gründung vor bald zwei Jahren. Kennengelernt haben sie sich über die Musik, sie haben zusammen zuerst in Kuba studiert, wo sie aufgewachsen ist, und dann in Österreich, wo er herkommt. Im Glarnerland leben sie bereits seit über zwanzig Jahren.

Entstanden ist der Glarner Weltchor Anfang 2023, weil zuvor ein anderer eingegangen war: Der «Chor der Nationen», ein schweizweit verankertes Musikprojekt, hatte auch hier einen Ableger. Doch in den Pandemiejahren, erzählen die Chormitglieder von damals, sei die Finanzierung der professionellen Leitung und der Gebühr für die Lizenz, den Namen «Chor der Nationen» benutzen zu dürfen, unmöglich geworden. Manche von ihnen machten sich auf die Suche nach einer Folgelösung, die innert Monaten gefunden war: Die kantonale Musikschule sprang ein, indem sie Geld für einen neuen Erwachsenenchor sprach – und engagierte die Kalmars als Leitung. Der neue Chor steht auch denjenigen offen, die knapp bei Kasse sind: «Unsere Musikschule hat dafür einen eigenen Fonds», sagt Musikschulleiter Jürg Wickihalder, der die Neugründung mitinitiierte.

Seither probt der Glarner Weltchor wöchentlich, ein paar kleinere und grössere Konzerte hat er auch schon gegeben. Über zwanzig Lieder sind mittlerweile eingeübt – von den Kalmars eigens arrangiert und angepasst an die ganze Bandbreite des stimmlichen Könnens. Vier Stücke werden heute geprobt, es geht los mit «Eres tu», einem hymnischen Schlager aus Spanien; das Lied ist noch nicht allzu lange im Repertoire, an manchen Stellen klingts ordentlich schief. Rasch wirds aber wesentlich besser, schon der verrauchte Chanson-Gassenhauer «Je veux» sitzt ganz gut. Völlig sattelfest singt der Weltchor dann noch ein Lied auf Ukrainisch und eins auf Berndeutsch.

Der Glarner Weltchor will offen sein, niederschwellig, in allen Belangen möglichst divers. Die Mitglieder sind zwischen zwanzig und über siebzig Jahre alt, ein gutes Viertel kommt nicht aus der Schweiz. Was der Chor aber partout nicht sein will, ist ein Integrationsprojekt. «Bei uns sind alle willkommen», sagt Geza Kalmar. Man treffe sich, um Menschen von überall auf der Welt dieselbe Plattform zu geben, die auch die einheimischen Sänger:innen hätten. Was den Weltchor deshalb im Kern ausmache, sei seine Vielsprachigkeit. «Es ist immer besonders schön, wenn jemand vorne hinsteht, um den anderen einen Text in seiner Muttersprache beizubringen», sagt die Chorleiterin. So müssten alle voneinander lernen: «Schliesslich singen alle den Grossteil der Lieder in Sprachen, die für sie Fremdsprachen sind.»

Die Diversität des Chors wolle man nicht erzwingen, sie ergebe sich organisch durch die Offenheit der Mitglieder. Darauf musste auch der Musikschulleiter schon hingewiesen werden. Als er einmal in einem Text, ohne zu überlegen, von einem «Integrationschor» geschrieben habe, hätten die Kalmars umgehend interveniert, erzählt Wickihalder mit einem Lachen.

So ganz automatisch komme die Diversität dann doch nicht zustande, sagt demgegenüber Edith Bühler, ein langjähriges Chormitglied. «Wir bemühen uns durchaus darum, dass die Leute in den Asylinstitutionen von uns erfahren», erklärt Bühler, die selbst in der Geflüchtetenhilfe aktiv ist – in Glarus und auch in Griechenland. Diese Internationalität mitten im Bergkanton, das Singen mit Menschen aus Syrien und Kurdistan, aus Brasilien und den Niederlanden, aus Ghana, Südkorea und der Ukraine: «Das macht mich wirklich stolz», sagt Bühler.

Die vielen Gegensätze

Der weisse Plattenboden, das weisse Holztäfer an der Decke, die weiss gestrichenen Wände, die raumhohen blauen Vorhänge vor der Fensterfront – dieser Ort mit seinem zweckmässigen Flair könnte sich irgendwo in der Schweiz befinden. Und so durchschnittlich wie der Raum ist, in dem sie jede Woche zusammenfinden, so unkompliziert treten die Mitglieder des Glarner Weltchors auf, trotz des vollmundigen Namens: Dieser ist eine Vermengung des Lokalen mit dem Weitläufigen, des Verhockten mit dem Wandel, und das nicht ohne Augenzwinkern.

Vielleicht entspringt es aber nicht nur dem Zufall, dass dieser Weltchor genau hier entstanden ist, im Glarnerland mit seinen vielen Gegensätzen. Wo schon seit Jahrhunderten ein faszinierendes Zusammenspiel von zähem Konservatismus mit sozialpolitischem Pioniergeist zu beobachten ist: Der Kanton, in dem gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch eine Frau der Hexerei bezichtigt und ermordet wurde – eines der letzten dieser Verbrechen in Europa –, hat bereits im 19. Jahrhundert Kinderarbeitsverbote, Arbeitszeitbeschränkungen und einen Mutterschaftsurlaub eingeführt. An der altertümlich anmutenden Landsgemeinde werden immer wieder auch progressive Durchbrüche geschafft, etwa im vorletzten Jahr, als ein Klimaschutzartikel in die Kantonsverfassung aufgenommen wurde und sich der Kanton eines der sozialsten Musikschulgesetze des Landes verpasste.

Als sie vor Jahren in den Kanton gezogen sei, da habe sie darüber gestaunt, wie weltoffen sich dieses Alpental immer wieder präsentiere, sagt eine Sängerin nach der Probe. Womit eine andere nicht ganz einverstanden ist: Klar, im Glarnerland geschehe durchaus Progressives – aber trotz aller Gegensätze bleibe insgesamt halt doch vieles sehr beengend. «Der Glarner Weltchor ist für mich deshalb eine Oase», sagt sie. Und glaubt man ihrer Erklärung, dann ist es in Glarus eben doch wie überall in der Schweiz: «Gutes passiert hier immer dort, wo dafür gekämpft wird.»