25. Januar 2003. Kein normaler Tag in Graubünden: Bananen und Tränengas

Affen in Davos, Theater in Landquart. Es hätte die Party des Jahres werden sollen.

8.20 Uhr: Carparkplatz Zürich. Ein eleganter, schwarzer Car fährt auf dem grossen, beinahe leeren Parkplatz vor, «Zugvogel» steht an der Seite. Aus dem Innern klettern müde, zerknitterte Gestalten, strecken sich und begrüssen in breitem Bääärn-Düüütsch die paar ZürcherInnen, die hier zusteigen. Bald werden ihre Körper in Affenfellen stecken, ihre Gesichter hinter Bush-, Rumsfeld-, Saddam- und Usama-Masken versteckt sein.
8.55 Uhr: Zürich. Abfahrt in Richtung Davos. Endlich. Reggae-Musik plätschert aus den Boxen. Zwei Freundinnen streichen sich M-Budget-Konfitüre aufs Brot, schon bald weht auch der erste Hauch von Marihuana durch den Bus. Picknick deluxe!
9.20 Uhr: Autobahnraststätte Herrliberg. Aus den Menschen werden Affen. Dem Zauber der Verwandlung wohnt auch die Polizei bei, die in Sichtweite einen Einsatzwagen postiert hat. Die Affen quittierens mit Gegrunze. Eine Durchsage der Verkehrskoordination: Der erste Zug ist oben angekommen – ohne die Kontrolle zu passieren! Jubel! Und: «Das können wir auch!»
9.30 Uhr: Auf der A3. Eine Liste geht um. Namen, Jahrgang, Wohnort sollen die Affen angeben. «Wozu das? Etwa für die Bullen?» «Nein», beschwichtigt einer des Organisationsteams, «damit wir vor der Heimfahrt den Überblick haben, wie viele hier sind, wie viele fehlen.»
Dani ist mit 32 Jahren einer der Älteren im Bus. Er arbeitet für Greenpeace. Sein Kostüm wird er erst später anziehen, «zu heiss sonst». Nicht zum Affen wird er mutieren, sondern zu George Bush himself. «Es gibt eine neue Demo-Generation», sagt er gut gelaunt.
10 Uhr: Auf der A3. «Wir haben eine Demo-Bewilligung von Michel», sagt Affe Matthias. «Die Gummiquietschkeulen und die Wasserpistolen sind zwar nicht erlaubt, aber die Keulen haben wir trotzdem dabei.» Benjamin meint, er würde durch die Gepäckkontrolle gehen, falls dies verlangt würde. Affe Lukas ist mit seinen neunzehn Jahren einer der Jüngeren im Bus. «Ich finds wichtig, dass sich etwas verändert. Der Krieg und die Globalisierung, das gehört zusammen», begründet er seine Teilnahme am politischen Affen-Ausflug. Er studiert Umweltnaturwissenschaften an der ETH in Zürich. Politisiert wurde er aus Sorge um den Planeten. «Ich will meinen Kindern mal sagen können, dass ich etwas gemacht habe gegen die Zerstörung der Umwelt.» In seinem Umfeld beobachtet er Ohnmacht und Resignation, «aber das ist doch ein Teufelskreis», sagt er, «nichts zu tun!» Es gebe im Moment keinen Grund, nicht zu demonstrieren, «ausser Ignoranz oder Angst. Die Parole der internationalen Solidarität ist wichtig!»
10.30 Uhr: Landquart. Die Ausgangslage: Der Oltner-Bündnis-Promi-Zug ist auf dem Weg nach Davos. Kommt er ohne grössere Kontrollen in Fideris durch, sollen alle Demonstrierenden die Züge besteigen. «Wenn nicht, werden wir hier in Landquart eine Abschlusskundgebung machen. Alle zusammen», spricht Dieter Drüssel vom Oltner Bündnis auf einem Sattelschlepper ins Mikrofon. Die letzten Demonstrierenden aus der Westschweiz sind noch nicht einmal eingetroffen.
10.45 Uhr: Fideris. Angeblich sollen die Affen in den Zug umsteigen. Der steht nebenan auf dem Geleise, dazwischen Polizisten und Journalisten. Aber hallo! «Wir haben unseren eigenen Car!» Jemand prüft die Bewilligung. Jetzt heisst es, eventuell müssten sie durch die Schleuse, aber ohne sich auszuweisen. Ein Polizist steigt in den Bus. Dann heisst es plötzlich: «Wir können fahren!» Die Affen brüllen, als gäbs die finale Fütterung. Draussen entfaltet sich in der Vormittagssonne eine prächtige Schneelandschaft. «Wie im Märchen», sagt ein männlicher Affe, links und rechts kleben alle an den Fenstern und blinzeln zufrieden gen Himmel. An Gewalt und Ungerechtigkeit denkt in den nächsten Minuten, in denen es immer der Sonne entlang bergauf geht, niemand.
11 Uhr: Landquart. Ein Militärhelikopter überfliegt das Dorf Richtung Davos. Es ist kein Schweizer Exemplar, denn die knattern anders. Auf dem Bahnhofplatz haben sich 3000 Leute versammelt. Sie warten, denn das gehört zur Strategie des Oltner Bündnisses. Damit die Kontrollen in Fideris fallen. Es ist kalt. «Diese diktatorischen Allüren!», flucht ein junger Mann in schwarzen Stiefeln, «da muss eine Nachbehandlung folgen.» Die Musik, die jetzt ab Vinyl gespielt wird, ist von Rage Against The Machine.
11.35 Uhr: Davos Wolfgang. Und dann doch eine Kontrolle. Robocop-ähnliche Gestalten stoppen den Car: bullige Achseln und Schultern, an den muskulösen Armen und Beinen Plastikverschalung, dicke Gürtel mit allerlei Schnickschnack, kantige, entschlossene Gesichter. Kurz: Maschinen. Der Bus steht still. «Das sieht jetzt aber zünftig nach Gewalt aus», sagt Affe Dani. Der Koordinator mahnt über Lautsprecher: «Bitte alle hinsetzen, es läuft jetzt einer durch den Bus. Sie sind die, die uns schikanieren wollen. Aber wir lassen uns nicht schikanieren. Also ruhig bleiben.» Es sind zwei Polizisten, die den Bus abschreiten. Einer sagt: «Gahts zum Schnuufe?» Offenbar ein Zürcher Polizist.
11.47 Uhr: Davos Dorf. Geschafft. Kaum stehen die Affen im Schnee auf dem grossen, noch etwas leeren Gelände, stürzen sich die Fotografen und Kameraleute auf sie. Sichtlich erleichtert, dass mal was läuft. Die braunen Keulen, die an diesem Tag nicht in Davos sein dürften, quietschen, jedes Mal, wenn sie auf den Plastikerdball schlagen, aber auch sonst. Die braunen Pelze hüpfen auf und ab und auf und ab. Dani ist jetzt Bush in Wasserkopfformat und Anzug, in der Hand die neckische «We fuck the world»-Flagge in Stars-and-Stripes-Farben. Er ist der Star der Kameras, sein Bild wird um die Welt gehen.
12 Uhr: Landquart. Die Geleise dienen als Sitzfläche, und die Züge fahren nicht. «Wir müssen aus Solidarität hier bleiben», sagt einer aus der Basler Gruppierung Pink Block. Zwei Frauen hören zu, dann analysiert die eine: «Bewegung gespalten, Ziel erreicht.» Das Oltner Bündnis offeriert Tee. «Was du heute brauchst, sind Kohlenhydrate», meint ein Demoteilnehmer und packt Schoggistengel aus. Sein Kumpel erwidert: «Es ist schon richtig, die Kontrollen zu boykottieren. Sonst wird das der Standard für andere Jahre.»
12.30 Uhr: Landquart. Hinter dem Polizeikordon tauchen zwei Dutzend Rechtsradikale auf. Es dauert nicht lange, bis sich Globalisierungskritiker und Neonazis mit Schneebällen und Parolen bewerfen. Über die Köpfe der Polizeigrenadiere hinweg. Die sind jetzt das Netz in diesem Pingpong.
Das Spiel dauert zwei Minuten, dann schreitet die Polizei ein und drängt die Rechtsradikalen zurück ins Dorfzentrum. Dieter Drüssel vom Oltner Bündnis sagt über Lautsprecher: «Es ist sehr wichtig, dass die Polizei verhindert, dass diese Gruppe zurückkommt.» Sonst gerate die Situation womöglich ausser Kontrolle.
13 Uhr: Davos. Die grosse Party lässt auf sich warten. Immer wieder tritt jemand auf die improvisierte Bühne im Schnee, um die paar hundert Anwesenden, die es nach Davos geschafft haben, über den Verlauf der Verhandlungen in Fideris und Landquart auf dem Laufenden zu halten. Die Zuversicht kippt in Ohnmacht, dann in Ärger, bis dann doch wieder Hoffnung aufkommt. All das dauert. Eine Ewigkeit. Der Glühwein ist bald alle, die Füsse frieren, trotz Sonne und warmen Socken. Die Affen sind rastlos. In einer solidarischen Abstimmung wird beschlossen, eine friedliche Affenrunde durch Davos zu drehen.
13 Uhr: Landquart. Es geht das Gerücht um, man habe sich in Fideris auf moderate Gepäckkontrollen geeinigt. Die Demonstrierenden drängen zum Sattelschlepper, als Walter Angst vors Mikrofon tritt. Auf den Balkonen der nahe gelegenen Hochhäuser stehen Leute. Scharfgucker. Sie halten Biergläser in der Hand. Angst fragt die Menge: «Gehen wir nach Davos oder nicht, bei diesen reduzierten Kontrollen?» Ein, vielleicht zwei Sekunden verstreichen, es reicht gerade, um den Kopf zu drehen und um sich zu blicken, dann ertönt es vom Sattelschlepper: «Die Mehrheit ist dafür.»
Man bückt sich, packt die Sachen und sucht sich einen Weg zu den Geleisen, ein Freak mit besprayten Hosen beginnt zu singen. Einige zehn Meter nebenan, dort, wo sich der Grossteil der Westschweizer GlobalisierungskritikerInnen aufhält, kommt es zu einer neuen Ansammlung. Auf Französisch erklärt einer die Situation durch ein Megafon und schliesst: «Gibts Widerspruch? Wer will das Wort?» Sechs melden sich, gesprochen wird reihum. Walter Angst steht neben einem Bähnler der Rhätischen Bahn und sagt zu ihm: «Es ist eine Zangengeburt. Aber jetzt kommts gut.» Er soll sich täuschen.
15 Uhr: Davos. In Landquart unten gibts Krawall, so das Buschtelefon. Deutsche Wasserwerfer sind im Einsatz, man hört von Tränengas und verletzten Demonstranten. Einigen Affen juckts in den Fusssohlen. Wollen wir runter nach Landquart? Die grosse Frage, über die auch dieses Mal demokratisch abgestimmt wird. Einer sagt: «Ja, unbedingt!» Ein anderer mahnt zur Besonnenheit: «Affen! Wir haben seit heute einen Ruf zu verlieren. Ich bitte euch, wer nach Landquart runtergeht, ziehe sein Affenkostüm aus und gehe als ziviler Mensch.» Es murmelt, einig sind sich die Affen nicht. Aber sie bleiben, wo sie sind.
15.30 Uhr: Landquart. «Irgendwie hat man das Gefühl, nicht richtig dabei zu sein», sagt eine junge Frau zu ihrer Kollegin. Sie stehen jetzt seit fünf Stunden auf dem Bahnhofareal. Dann knallt die erste Petarde. Die Frauen drehen sich um. Eine Gruppe von Demonstrierenden steigt mit forschem Schritt über die Geleise Richtung Westseite des Bahnhofs, der Autobahn entgegen. Sie tragen dunkle Jacken und füllen leere 6-Pack-Bierschachteln mit Schottersteinen. Reissverschlüsse werden hochgezogen.
Im Niemandsland zwischen Bahngleisen und Autobahn formieren sich die Polizeigrenadiere in Zehnergruppen. Schneebälle fliegen in diese Richtung. Man hört nicht nur ein nasses Klatschen, wenn sie auf die Schutzschilder der Grenadiere treffen. Da prallen harte Elemente aufeinander.
Dann fahren die gepanzerten Wasserwerfer aus Deutschland auf, bringen sich in Position, warten. Aus grossen Rohren steigen Abgaswolken auf. «Jetzt wird das Wasser unter Druck gesetzt», sagt einer mit einer Mütze für wirklich kalte Wintertage. Langsam drehen sich die bayrischen Wasserkanonen in Richtung der herannahenden Demonstrierenden. Zuvorderst steht einer, der nicht vermummt ist und die Arme weit von sich streckt. Der Strahl trifft ihn an Hals und Oberkörper, zwei Meter fliegt er durch die Luft, dann hat er wieder Bodenkontakt.
16.30 Uhr: Landquart. Die Polizeigrenadiere rücken vor, zögerlich. Einer mit leuchtender Armbinde greift zum Megafon und wendet sich an die eigenen Leute. Seine Stimme überschlägt sich leicht: «Habt ihr etwa Angst oder was?» Der Bahnhofplatz ist vom Polizeikordon noch immer hermetisch abgeriegelt. «Schützen eins bis fünf: Feuer.» Die Tränengaspetarden fliegen durch die Luft, gemächlich, eine feine Rauchspur hinter sich herziehend, fast schon elegant. Sie landen in der Menge. Ein Mann mit kurzen blonden Haaren sagt: «Ich möchte jetzt einfach aus diesem Scheisskessel raus.»
18 Uhr: Davos. Es ist dunkel geworden in Davos. Die Affen sind müde. Man ist doch noch demonstrierend durch Davos gezogen, von Dorf bis Platz. Im Rückwärtsgang. Die Splittergruppe, die es nach oben geschafft hatte, will den Behörden nach der ganzen Warterei zeigen, dass hier etwas zünftig schief gelaufen ist. Die Demobewilligung wurde aus Protest zurückgegeben. Beim Rathaus musste dann noch die Türe dran glauben. Aber jetzt ist es leer und beinahe still geworden, plötzlich ist fast niemand mehr da. Die Affen lassen den Bus kommen. Zurück nach Zürich und Bern!

29. Januar. In den letzten drei Tagen sind auf der WoZ und bei Menschenrechtsgruppen Meldungen zu Landquart eingegangen über:
• 1 körperliche Misshandlung durch Polizeigrenadiere mit Schlagstöcken und Fusstritten, der Fall ist fotografisch dokumentiert.
• Mindestens 8 Verletzte durch Gummigeschosse, davon 6 mit Verletzungen im Gesicht.
• Zahlreiche Beschwerden nach Kontakt mit Tränengas.
Laut Polizeistatistik erlitt ein Demonstrant einen Kopfschwartenriss, verursacht durch einen Schneeball aus den eigenen Reihen. Polizisten sind keine verletzt worden.