Augenzeugenbericht aus Landquart (1): Was mit den Passagieren des Rheintal-Express Chur ab 15.22 Uhr tatsächlich geschehen ist
Nachfolgend habe ich aufgeschrieben, was ich und meine Kollegen an der Demonstration gegen das Wef im Januar 2004, in Chur und auf der Heimreise von der Demonstration in Landquart erlebt haben. Ich möchte vorausschicken, dass wir mit absolut friedlichen Absichten an die Demonstration nach Chur reisten und wir uns als so weit wie möglich objektiv betrachten: Wir gehören keiner radikalen Gruppierung an, sondern sind ganz einfach nach Chur gefahren, weil wir der Meinung sind, dass das Wef nicht die richtige Art und Weise ist, die heutigen politischen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen.
1. Die Demonstration in Chur
Vor dem Wef hatten wir uns einige Male überlegt, ob es angesichts der drohenden Konfrontationen überhaupt lohne, an einer Demonstration dagegen teilzunehmen. Nachdem in Chur allerdings explizit zu einer friedlichen Demonstration aufgerufen wurde, welche zudem bewilligt war, haben wir uns am Samstag auf den Weg gemacht. Maurus stieg mit mir in St.Gallen in den Zug, Dani kam in Rheineck dazu. Marius und Eva schliesslich warteten, von Zürich her kommend, bereits in Chur. Die Demonstration begann wie angekündigt um 13.30 Uhr und verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Um Nachdemos vorzubeugen, riefen die Organisatoren an der Abschlusskundgebung die Demonstranten auf, um 15.22 Uhr den Zug nach Zürich zu nehmen. Verschiedentlich hiess es, man werde in Landquart oder in Sargans noch einmal protestieren. Wir beschlossen, in Sargans ebenfalls auszusteigen und nach St.Gallen weiterzufahren, und bestiegen als beinah letzte den überfüllten, aber regulär verkehrenden Rheintal-Express. Im Zug befanden sich neben den zirka tausend Demonstranten zahlreiche normale Reisende.
2. Die Ankunft in Landquart
Der Zug setzte sich um 15.22 Uhr, also nach Fahrplan, in Bewegung, wurde allerdings an der Ausfahrt aus dem Bahnhof Chur durch zweimaliges Ziehen der Notbremse gehindert. Danach verlief die Fahrt ungestört, sogar die Minibar nahm ihren Betrieb auf. Beim ersten Halt in Landquart verkündeten einige Demonstranten, man werde nun hier aussteigen. Etwa die Hälfte der Demonstranten folgte der Aufforderung, einige versprayten darauf die Aussenseite des Zuges. Der Rest der Demonstranten sowie die normalen Reisenden blieben vorerst im Zug, wobei die SBB kurz darauf verkündeten, der Zug sei blockiert, wer weiterreisen wolle, könne durch die Bahnhofsunterführung hinauf ins Dorf gelangen.
Wir begaben uns als einige der ersten durch die Unterführung und bemerkten, dass der Bahnhof von sogenannten Robocops weiträumig abgesperrt war, weit und breit war kein Ausgang in Sicht. Hinter der Polizei hatten sich neben dutzenden Neugierigen auch zirka fünfzig Neonazis mit Transparenten aufgestellt. Auf unsere Fragen nach einem Ausgang wurde uns mitgeteilt, wir kämen hier nicht durch. Erst als sukzessive einige Rentner aus der Unterführung kamen, wurden die Gitter weggerückt. Wir baten erneut hinauszukommen. Von Seiten der Robocops, welche jede Frage nur widerwillig beantworteten (die meisten, aus dem Welschland kommend, konnten auch gar kein Deutsch), hiess es, dass man hier «aussortiere», Demonstranten kämen keine raus.
Als wir sahen, dass wegen Frauen mit Kinderwagen auch an einer anderen Stelle der Zaun geöffnet wurde, probierten wir es auch dort. In der letzten Gruppe von Touristen wäre ich selbst, eher als «Reisender» denn als «Demonstrant» gekleidet, doch noch aus dem Gelände gekommen - weil man Maurus aber zurückhielt, ging auch ich hinter den Zaun zurück. Dani, Eva und Marius hatten wir mittlerweile aus den Augen verloren. Sie berichteten später, sie seien zurück in den Zug gegangen, wohin sich die meisten Demonstranten begeben hätten. Nach einiger Zeit seien sie von der Polizei aus dem Zug getrieben worden.
3. Die Einkesselung
Die Situation im Gelände wurde nun immer prekärer: Gegen eine friedliche Demonstrantin, welche zu nahe an die Abschrankungen lief, wurde erstmals ein Wasserwerfer eingesetzt, bald darauf detonierte Tränengas. Wenig später rückte die Polizei mit Gummischrot ins Gelände vor. Via Lautsprecher wurden die Demonstranten aufgefordert, sich vor einem blauen Bauprovisorium zu versammeln, unweit der vorher genannten Ausgänge und unweit der ebendort stationierten Wasserwerfer. Von den Polizisten angetrieben begaben sich zirka 150 Demonstranten, die sich auf der Dorfseite des Bahnhofes aufhielten, auf diesen Platz, darunter auch Maurus und ich.
Die übrigen Demonstranten, also jene in und um den Zug, wurden zirka 45 Minuten später ebenfalls hierher getrieben. Gemäss unseren Kollegen hatten sich die Demonstranten auch beim Zug weitgehend friedlich verhalten. Sie selbst hätten, nachdem sie aus dem Zug getrieben wurden, versucht, auf der nördlichen Seite das Gelände zu verlassen, dort sei aber ebenfalls alles abgesperrt gewesen, zudem hätten sich mittlerweile auch die Neonazis auf diese Seite begeben. So seien sie zum Zug und damit zu den übrigen Demonstranten zurückgekehrt. Die Polizei sei nun, indem sie mit den Schlagstöcken auf die Schutzschilder pochte, immer näher gerückt und hätte erneut Tränengas eingesetzt. Sukzessive seien sie so auf den Platz vor das blaue Bauprovisorium getrieben worden. Den meisten der Demonstranten, welche nun hier eintrafen, tränten die Augen, sie sahen müde und niedergeschlagen aus.
Die Polizei stellte längs des Platzes eine neue Reihe Robocops auf, so dass der Platz nun oben (Dorfseite) sowie rechts von zirka hundert Polizisten umstellt war. Hinten war das Bauprovisorium und links der Absperrzaun. Links und Rechts des Platzes waren zwei Wasserwerfer positioniert, sobald sich ein Demonstrant zu nahe an die Polizisten bewegte, wurde dieser eingesetzt, dies geschah mehrmals. Via Lautsprecher des deutschen Wasserwerfers wurde nun verkündet, dass keine polizeilichen Mittel eingesetzt würden, sofern sich die Demonstranten ruhig und friedlich verhielten. Die Journalisten wurden aufgefordert, den Platz zu verlassen. Lediglich Herr Michel, der letztjährige Davoser Vermittler, blieb zurück.
So verharrten die Demonstranten mehr als eine Stunde lang, wobei die Polizei mehrmals verkündete, dass man sich friedlich verhalten solle. Weitere Informationen gab es nicht, dafür wurde ein Flutlichtmast der Armee aufgebaut. Ironie dieses subsidiären Einsatzes: Der Generator der Lampen lief erst beim dritten Versuch an. Dann aber war das Gefängnis, das «KZ», wie ein Demonstrant rief, «der Kessel», wie ihn die meisten Demonstranten fortan nannten, perfekt.
4. Die Personenkontrolle
Nach mehr als einer Stunde Ungewissheit hiess es, es werde nun eine Personenkontrolle durchgeführt. In Fünfergruppen sollte man sich in der vorderen rechten Ecke des Platzes besammeln. Dies gab ein wenig ein Gedränge, per Lautsprecher hiess es in militärischem Ton, man solle sich bitte «hinter die gedachte Linie zum blauen Container begeben». Soviel zur Informationspolitik.
Nachdem wir endlich vorne im Eck angekommen waren, mittlerweile war es halb acht, wurden zuerst Maurus und ich einzeln abgeführt, Marius, Dani und Eva blieben zurück. Ein Robocop fasste mich am Armgelenk und führte mich in die Tiefgarage des nahegelegenen Coop-Centers. Noch immer wusste ich nicht, was hier genau ablaufen sollte. Unten in der Tiefgarage warteten zirka siebzig weitere, vornehmlich männliche Demonstranten in einer neuerlichen Schlange. Ich selbst wurde während zwei Minuten durchsucht. Als in diesem Moment mein Handy klingelte, hiess es, dass es mir abgestellt würde, falls ich den Anruf entgegennehme. Nach der Durchsuchung wurden mir mit einer Schnurfessel hinter dem Rücken die Arme zusammengebunden. Die meisten Demonstranten wurden mit Kabelbinden gefesselt.
Maurus und ich wurden in die Schlange gereiht. Wenig später traf auch Marius hier unten ein, er war erleichtert, wenigstens uns hier zu treffen. Als ich an der Reihe war, wurde ich in einen Raum geführt, um zwei zivilen Beamten meine Personalien anzugeben, ein Beamter nahm hierfür meinen Pass aus dem Rucksack, nachdem ich ihn darauf hingewiesen hatte. Ich sagte den beiden Beamten, dass ich meiner Ansicht nach zu Unrecht festgehalten würde. Sie blickten etwas verdutzt drein und meinten, sie seien auch erst gerade hierhin beordert worden. Nach der Angabe der Personalien wurde ich einem Aargauer Kantonspolizisten übergeben, der mich auf die andere Seite der Tiefgarage führte, wo die Demonstranten auf bestimmten Parkfeldern festgehalten wurden. Noch immer gab es keine Informationen. Einige Leute, die meisten in zivil, meiner Einschätzung nach aber keine Journalisten, fotografierten und filmten die Szenerie.
Nach einer Weile tauchte ein Robocop auf und führte mich zum Ausgang der Tiefgarage, wo mir die Fesseln gelöst wurden. Als ich endlich wieder ins Freie trat, war mindestens eine weitere Stunde verstrichen, wobei mir die ganze Zeit über die Arme gefesselt waren.
5. Die Heimreise
Der Robocop führte mich nun auf den Bahnhof zurück, vorbei an zwei weissen Containern, ebenfalls mit Warteschlangen. Hier standen weitere Demonstranten für die Personenkontrolle an, anschliessend wurde ihr Gepäck durchsucht. Dani und Eva wurden vom «Kessel» direkt hierhin gebracht. Ganz offensichtlich hat die Polizei die Demonstranten also nochmals unterteilt, in starke, männliche, «gefährliche» und in schwache, weibliche. Beim Vorbeigehen bemerkte ich, dass im «Kessel» zu dieser Stunde noch immer etwa die Hälfte der Demonstranten wartete. Auf der Rampe zum Perron wurden die Demonstranten erneut festgehalten. Zum Glück trafen kurz nach mir auch Marius und Maurus hier ein, per Handy erfuhren wir, dass Dani und Eva bereits auf einen früheren Zug gebracht worden waren. Erst als der nächste reguläre Zug nach Zürich einfuhr, wurden wir frei- und aufs Perron gelassen. Der Zug fuhr um 21.27 Uhr ab, wir waren also exakt sechs Stunden lang festgehalten und schikaniert worden - ohne etwas zu essen, ohne etwas zu wissen, ohne etwas zu tun, einfach so.