Brasilien: «Meine Sorge gilt den Weissen»
Ailton Krenak ist als erster indigener Autor in die Brasilianische Akademie der Literatur aufgenommen worden. Als Schriftsteller sieht er sich dennoch nicht. Das indigene Verständnis des Kollektivs schütze vor einem aufgeblähten Ego, sagt er.
WOZ: Ailton Krenak, Brasilien brennt. Noch nie wurden landesweit so viele Buschfeuer registriert wie 2024. Der Amazonaswald und andere artenreiche Ökosysteme wie das Pantanal und der Cerrado standen in Flammen. Rauchschwaden bedeckten zeitweise mehr als die Hälfte des Landes.
Ailton Krenak: Es wirkt, als wollten die Weissen der Erde den Todesstoss versetzen. Wenn der Wald brennt, brennt die ganze Welt. Diese Vorstellung finden Sie in der Kosmovision aller indigenen Völker Brasiliens. Bei den Yanomami ist das Wort «Wald» gleichbedeutend mit «Welt». Denn wo Wald ist, da gibt es Wasser und Luft, Wolken, Wind, Regen und Wachstum. Der Wald ist ein heiliger Ort, erschaffen durch das Zusammenspiel unzähliger Lebewesen. Wer ihn zerstört, vernichtet das Leben selbst. Diese Feuer, fast alle durch Brandstiftung ausgelöst, sind Terrorakte. Es stecken Kriminelle dahinter: Grossgrundbesitzer, Viehzüchter, Landräuber. Oft geht es gar nicht darum, neue Anbau- oder Weideflächen zu schaffen, sondern um Landspekulation. Das organisierte Verbrechen streckt seine Hände nach Amazonien aus. Es mischt im illegalen Holzhandel mit, im Raub öffentlicher Ländereien und in der Goldsuche.
Brasilien erlebt parallel noch eine zweite Umweltkatastrophe. Die Amazonasregion wurde in den vergangenen Jahren von einer nie dagewesenen Dürre heimgesucht. Ausgerechnet im Regenwald blieb der Regen aus. Einst mächtige Ströme schrumpften zu Rinnsalen, Schiffe lagen auf Grund, Menschen stapften durch die Flussbetten.
Es ist die Reaktion des Planeten auf den Klimawandel. Das sage nicht ich, sondern die Wissenschaft. Die veränderten Temperaturen führen zu weniger Niederschlag im Einzugsgebiet Tausender Amazonaszuflüsse in den Anden. Wenn aber das Wasser im Amazonasbecken fehlt, kommt dort der Kreislauf aus Verdunstung, Wolkenbildung und Regen nicht in Gang. Die Wolkenbildung wird zudem durch die Abholzung beeinträchtigt, denn ohne Wald gibt es keine Feuchtigkeit, die verdunsten kann. Amazonien erlebte noch nie eine so lang anhaltende Dürre, die Pegel erreichten neue Tiefststände, viele Gewässer erhitzten sich. Die Flussdelfine, die mythisch verehrt werden, wurden regelrecht gekocht. Aber die meisten Menschen sehen nicht, was passiert, weil sie in Städten leben. Sie werden erst aufwachen, wenn keine Lebensmittel mehr ankommen, wenn es kein Wasser und keinen Strom mehr gibt und alles um sie herum in Flammen steht.
Aktivist und Erfolgsautor
Ailton Alves Lacerda Krenak (71), Autor, Umweltschützer und Philosoph, zählt zu den bedeutendsten Stimmen des indigenen Brasilien. Er wurde bekannt, als er sich in den achtziger Jahren für die Verankerung indigener Rechte in der neuen brasilianischen Verfassung einsetzte. 2024 wurde er als erster Ureinwohner in die Brasilianische Akademie der Literatur aufgenommen. Zuvor hatte er eine Trilogie kurzer Bände veröffentlicht. Darin übt Krenak scharfe Kritik an der westlichen Gesellschaft und bietet Lösungsansätze aus indigener Perspektive. Der erste Band, «Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen» (BTB-Verlag, 2021), war in Brasilien ein Bestseller und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Machen Sie sich Sorgen um das Überleben der indigenen Völker?
Nein, meine Sorge gilt den Weissen. Wir Indigenen haben 500 Jahre Gewalt und Kolonialisierung überlebt, aber die Weissen zerstören sich selbst. Der Rauch ihrer Brände zieht in die Städte und macht das Atmen dort lebensgefährlich. Vor einigen Monaten verwüsteten Überschwemmungen den Süden Brasiliens. Am stärksten waren die Orte am Guaíba-Fluss betroffen. Sein Name stammt vom alten Tupi-Wort «kûaíba». Es bedeutet schlechte, sumpfige Bucht. Die Indigenen wussten, dass man dort nicht siedelt. Aber die deutschen und italienischen Einwanderer liessen sich nicht davon beeindrucken. Die Indigenen sagten: «Ihr wollt unser Land haben, aber es ist nicht unser Land, es ist das Land des Wassers. Das Wasser wird kommen und es sich zurückholen.»
Nomen est omen?
Kennen Sie den Küstenort, an dem die beiden Atomkraftwerke Brasiliens stehen und derzeit ein drittes gebaut wird? Er wurde von den Indigenen «itaorna» getauft. Die Vorsilbe «ita» bedeutet in Tupi-Guaraní Felsen. Und «orna» heisst weich oder verrottet. Brasiliens Atomkraftwerke stehen auf unsicherem Grund. Als die Indigenen die Kraftwerksbetreiber darauf hinwiesen, sagten diese: «Ihr seid gegen die Kernkraft.» Die Indigenen antworteten: «Wir wissen nicht genau, wie die Kernkraft funktioniert. Aber wir wissen, dass ihr dumm seid.»
Es zeigt sich ein grundlegend anderes Verständnis der Welt.
Seit meiner Kindheit weiss ich: Wir müssen die Erde fragen, was sie will, statt sie unserem Willen zu unterwerfen. Wenn wir es nicht tun, hat es Konsequenzen. Die indigenen Völker leben dementsprechend.
Sie sind dieses Jahr als erster Ureinwohner in die altehrwürdige Brasilianische Akademie der Literatur mit ihren vierzig Mitgliedern aufgenommen worden. Waren Sie überrascht?
Ja, weil ich ja gar kein Schriftsteller bin, sondern Geschichtenerzähler. Bis zu meinem 20. Lebensjahr konnte ich nicht lesen und schreiben. Ich habe es mir selbst beigebracht. Aber meine grösste Fähigkeit ist seit meiner Kindheit das mündliche Erzählen. Ich vergleiche mich gerne mit einem westafrikanischen Griot, also einem, der das Wissen, die Lieder und die Mythen seines Volkes bewahrt und weitergibt. Ich stehe in einer oralen, einer indigenen Tradition. Die Texte meiner Bücher waren alle einmal Reden und Vorträge. Meine Literatur wird aus dem Mund geboren.
Bedeutet Ihre Aufnahme in die Akademie einen Wandel im Umgang mit Brasiliens Ureinwohner:innen?
Mit mir ziehen endlich die indigenen Stimmen, die über Jahrhunderte unterdrückt wurden, in diese Institution ein. Meine Texte sind relativ kurz und handeln vom schlechten Zustand der Welt. Sie sind in freundlicher Sprache verfasst, aber es sind keine Wohlfühltexte, sondern Texte zum Unwohlsein. Sie fordern zu radikalen Veränderungen im Denken und Handeln auf. Dass das ankommt, überrascht mich – und es freut mich, weil es zeigt, dass wir Indigenen endlich gehört werden. Die Akademie spiegelt jetzt erstmals, nach fast 130 Jahren, etwas besser die Vielfalt der Erzählungen in unserem Land wider.
Mit Ihrem schmalen Band «Ideen, um das Ende der Welt zu vertagen» landeten Sie 2019 einen Überraschungserfolg. Es ist ein Pamphlet gegen die Idee einer globalisierten Menschheit, in der alle die gleiche Kultur und dieselbe Sprache und den gleichen Geschmack haben. Der Band verkaufte sich in Brasilien mehr als 50 000-mal und wurde in mehrere Sprachen übersetzt, auch ins Deutsche. Haben Sie einen Nerv getroffen?
Viele Menschen spüren, dass wir von einer Erzählung eingelullt werden, die besagt, dass wir zu einer einzigen Menschheit gehören. Diese Menschheit ist im Kern kolonial und patriarchalisch und auf Geld und Waren fixiert. Es ist eine merkantile Menschheit, und die Wertschätzung eines Menschen für einen anderen erfolgt unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Alles ist durchdrungen von der Idee des Bürgers als Konsument. Aber wie können wir diese schöne neue Menschheit sein, wenn mehr als die Hälfte der Menschen in Armut leben und es gar nicht zählt, was sie erleben und zu sagen haben? Die Modernisierung hat Abermillionen Menschen aus den Wäldern und vom Land vertrieben, die heute in Favelas und an den Peripherien der Städte leben. Sie wurden aus ihren Gemeinschaften gerissen und in diesen Mixer namens «globalisierte Menschheit» geworfen. Aber wenn die Menschen keine Verbundenheit mehr mit ihren Vorfahren haben, wenn sie keine Sprache und kein Gedächtnis mehr haben, wenn sie keinen Bezug mehr zu den Dingen und den Orten haben, die ihre Identität ausmachen, dann werden sie verrückt.
Eine Folge der Globalisierung ist für Sie der Verlust der indigenen Sprachen. Man schätzt, dass seit der Ankunft der Portugies:innen um das Jahr 1500 rund 1100 indigene Sprachen in Brasilien verschwunden sind. Heute existieren noch etwas mehr als 200. Welchen Stellenwert haben sie?
Sie werden noch immer als minderwertig betrachtet. In unseren Nachbarländern ist das anders. In Paraguay und Peru sind indigene Sprachen Amtssprachen, in Bolivien werden 37 indigene Sprachen offiziell anerkannt. Aber in Brasilien gibt es offiziell nur das Portugiesische, obwohl hier die grösste sprachliche Vielfalt Südamerikas herrscht. Bis in die achtziger Jahre galten indigene Sprachen nicht als Sprachen. Während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985, aber auch schon unter dem Autokraten Getúlio Vargas in den dreissiger Jahren war es verboten, indigene Sprachen zu sprechen. Erst in der Verfassung von 1988 wurde auf mein Betreiben hin das Recht der indigenen Völker auf Ausübung ihrer Muttersprache und ihrer Kultur verankert.
Ihre Muttersprache ist das Krenak.
Ja, aber ich beherrsche es leider nur passiv. Das Krenak-Volk zählt heute rund 700 Menschen, und unsere Sprache wird nur noch von den alten Frauen gesprochen. Wir haben eine Geschichte voller Brüche, Flucht und Gewalt. Die Portugiesen nannten die Krenak einst Botokuden – nach den Holzpflöcken, den «botoques», die sie in Lippen und Ohrläppchen trugen. Man erzählte, dass sie Kannibalen seien, darum führte man einen «gerechten Krieg» gegen sie. In der Militärdiktatur steckte man die Krenak in Arbeits- und Umerziehungslager. Immer wieder wurden ihre Gemeinschaften auseinandergerissen, mussten die Männer flüchten, wurden die Krenak von Holzfällern, Siedlern und Viehzüchtern bedrängt. So wurden die Frauen zu den Bewahrerinnen der Sprache.
Wie haben es die Krenak und andere indigene Gruppen geschafft, als Volk zu überleben?
Ich glaube, aus zwei Gründen. Erstens sehen wir uns als Teil eines grossen Ganzen. Wenn ein junger Indigener aufwächst, soll er die Traditionen seiner Vorfahren kennenlernen. Er soll sich als Mitglied seines Volkes betrachten. Er kann trotzdem neue Wege gehen. Er kann Anwalt oder Arzt werden, aber es ändert nichts daran, wer er ist. In der Kultur der Weissen ändert es alles. Man zieht dann an einen exklusiven Ort, geniesst Privilegien, fühlt sich besonders. Wir Indigenen lernen, dass wir nicht ausserhalb unserer Gruppen existieren. Ich habe als Kind oft gehört: «Vergiss nicht, woher du kommst. Sonst verläufst du dich auf deinem Weg.» In einer zunehmend erodierenden Welt sind die Indigenen mit dem Kollektiv verbunden. Das wirkt gegen die westliche Idee vom persönlichen Erfolg, die zu einer Aufblähung des Egos führt.
Und der zweite Grund?
Unsere Verbundenheit mit der Erde. Sie stärkt die Widerstandsfähigkeit. Wissen Sie, was der Name meines Volkes, Krenak, bedeutet? «Kren» heisst Kopf und «nak» ist die Erde. Wir sind aus Erde gemacht. Dieses Selbstverständnis vereint uns. Die Erde ist für uns ein Subjekt, kein Objekt, das man so lange zerstören kann, bis man merkt, dass man sich selbst zerstört. Die Europäer haben eine zivilisatorische Abstraktion geschaffen: Sie glauben, dass der Mensch eine Sache ist und die Natur eine andere. Aber sie irren sich.
Sie selbst waren 2015 von einer Umweltkatastrophe betroffen.
Ich lebe mit meiner Familie am Ufer des grossen Rio Doce. Wir nennen den Fluss Watu und singen für ihn: «Du gibst uns Nahrung, du gibst uns Gesundheit, du kümmerst dich um unsere Kinder.» Wenn ein Baby etwa dreissig Tage alt war, wurde es ins Wasser des Watu getaucht. Das war keine Taufe, sondern eine Art Impfung. Aber jetzt können wir die Kinder nicht mehr zum Watu bringen, weil vor bald zehn Jahren Millionen Kubikmeter Giftschlamm aus dem Rückhaltebecken einer Eisenerzmine strömten und den Watu verseuchten. Die Schuld für das Verbrechen trägt Vale, einer der drei grössten Minenkonzerne der Welt. Der Watu ist gestorben, sagen die Krenak. Aber für Vale war es lediglich ein Unfall, und das Unternehmen wirbt jetzt mit dem Slogan: «Heute das Morgen verändern.» Die Konzerne haben den Mythos der Nachhaltigkeit erschaffen, um ihre Angriffe auf die Natur weniger brutal erscheinen zu lassen.
Brasiliens Indigene haben zuletzt kritische Zeiten durchlebt. Der 2022 abgewählte Expräsident Jair Bolsonaro erklärte sie zu Feind:innen des Fortschritts und ermunterte zur Invasion ihrer Territorien. Er sagte: «Der Indio will so sein wie wir.» Jetzt ist Lula da Silva Präsident, ein Linker. Er hat versprochen, die Interessen der Ureinwohner:innen ernst zu nehmen. Trotzdem brennt jetzt der Amazonas, und es werden indigene Reservate angegriffen.
Die Attacken sind nicht mehr die gleichen wie unter Bolsonaro. Brasilien stand am Rand eines Bürgerkriegs, es war tief gespalten. Mit Bolsonaro waren radikale evangelikale Christen an die Macht gelangt, die alles für Teufelszeug halten, was nicht ihren ultrakonservativen Vorstellungen entspricht. Unter Lula gibt es jetzt erstmals ein Ministerium für indigene Völker, das von einer Indigenen geleitet wird. Auch das Umweltministerium wurde gestärkt. Und doch sind diese Institutionen schwach geblieben, weil die Wirtschaft für Lula Priorität hat. Er will Entwicklung um jeden Preis und erfüllt die Wünsche der Agrar- und der Minenindustrie. Deswegen kommt es immer wieder zu Gewalt gegen die Ureinwohner. Holzfäller, Goldsucher und Rinderzüchter dringen in unsere Reservate ein und bedrohen uns.
In Brasilien wird derzeit diskutiert, ob in der Amazonasmündung Öl gefördert werden soll. Präsident Lula befürwortet die Bohrungen.
Es wäre eine Tragödie mit Ankündigung. Wir erreichen gerade ein weiteres Stadium in der Ausbeutung des Amazonasbeckens, die vor 500 Jahren begann. Nach dem Kautschukboom, dem Goldrausch, der Abholzung und der Verwandlung des Dschungels in Agrarfläche wuchert das Geschwür nun tief in die Erde hinein. Es entspricht der Dynamik des globalisierten Kapitalismus, der der Erde alles entreisst, was sich zu Geld machen lässt. Das grosse Unglück der indigenen Völker Lateinamerikas ist, dass sich die Nationalstaaten nie als Vertreter der Interessen aller Bewohner betrachtet haben, sondern die Wachstumslogik von Eroberung und Ausbeutung fortsetzen.
Warum sind Sie derzeit ein so gefragter Mann? Das Publikum strömt massenhaft zu Ihren Auftritten, Sie werden im Fernsehen interviewt, es gibt Dokumentarfilme über Sie.
Das westliche Denken mit seinem egozentrierten Menschenbild steckt in einer Sackgasse. Der westliche Mensch hat immer das Gefühl, dass ihm etwas fehlt, er kann nie zufrieden sein. Er lebt in einer Kultur des Mangels. Und ihm wird ständig vermittelt, dass er nicht genug leistet. Jetzt kriegt er Panik, weil er spürt, dass sein Lebensstil in die Katastrophe führt. Er weiss nicht, was auf ihn zukommt, aber er hat Angst. Er glaubt, dass wir Indigenen ihm irgendwie weiterhelfen könnten. Die Menschen kommen zu mir, weil sie Trost möchten. Sie wollen hören, dass sie nur etwas nachhaltiger leben müssten – ein bisschen weniger Müll produzieren, ein bisschen weniger Energie verbrauchen –, damit Mutter Erde wieder ins Gleichgewicht kommt. Aber ich habe keinen Trost, ich schreibe keine Selbsthilfebücher. Ich habe nur radikale Kritik und Warnungen. Als Geschichtenerzähler ist das mein Weg, um das Ende der Welt hinauszuzögern.
Umweltkatastrophe: Gift im Rio Doce
Am 5. November 2015 brach in der Nähe von Mariana im Bundesstaat Minas Gerais der Damm eines Rückhaltebeckens einer Eisenerzmine. Es kam zu einer der schwersten Umweltkatastrophen in der Geschichte Brasiliens. Die Mine wurde von Samarco betrieben, einem Joint Venture des brasilianischen Bergbaugiganten Vale und der australischen BHP Billiton. Eine Flut aus etwa 43,7 Millionen Kubikmetern toxischem Schlamm ergoss sich ins Tal und zerstörte das Dorf Bento Rodrigues komplett. Mindestens neunzehn Menschen verloren ihr Leben, Tausende wurden obdachlos. Der Schlamm verschmutzte den Rio Doce, einen der wichtigsten Flüsse Brasiliens, an dessen Ufer Ailton Krenak mit seiner Familie lebt. Ein Teil der giftigen Masse floss 650 Kilometer weit bis zur Mündung in den Atlantik.
Millionen Menschen entlang des Rio Doce verloren den Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das Ökosystem des Flusses wurde stark geschädigt, ganze Populationen von Amphibien und Fischen verschwanden. Die giftigen Rückstände im Schlamm machten den Boden unfruchtbar und führten zu anhaltender Wasserverschmutzung. Bewohner:innen der betroffenen Regionen litten unter Atemwegserkrankungen und Hautirritationen. Tausende verloren ihre Existenzgrundlage in der Landwirtschaft oder Fischerei.
Gegen Samarco, Vale und BHP Billiton wurden zahlreiche Klagen wegen Umweltverbrechen und fahrlässiger Tötung eingereicht. 2016 kam ein erster Vergleich in Höhe von zwei Milliarden US-Dollar für die Umweltsanierung und Entschädigungen zustande. 2021 folgte ein weiterer Vergleich über sieben Milliarden Dollar. Dennoch berichteten viele Betroffene, dass die Entschädigungen nur schleppend oder gar nicht ausbezahlt würden. Einige Opfer suchten deshalb vor internationalen Gerichten Gerechtigkeit.
Bis heute wurde kein Verantwortlicher persönlich zur Rechenschaft gezogen. Im November 2022 sprach ein brasilianisches Bundesgericht sieben Angeklagte, darunter den ehemaligen Präsidenten von Samarco, vom Anklagepunkt Umweltverbrechen frei. Auch die drei Bergbauunternehmen und die Prüfgesellschaft, die den fehlerhaften Damm zertifiziert hatte, wurden entlastet. Bereits 2019 hatte ein Gericht die Mordermittlungen gegen mehrere Verantwortliche eingestellt.
Die Tragödie führte zwar zu verschärften Sicherheitsvorschriften für Minen, doch es mangelt bis heute an der konsequenten Umsetzung. 2019 ereignete sich die nächste Katastrophe: Der Damm einer Abraumhalde einer Eisenerzmine des Vale-Konzerns in der Nähe der Stadt Brumadinho brach. 272 Menschen, darunter viele Mitarbeiter:innen des Unternehmens, wurden unter toxischem Schlamm begraben, der sich ins Tal ergoss und Wälder, Felder und Flüsse verwüstete. Die Aktienkurse von Vale fielen – jedoch nur für kurze Zeit.
Philipp Lichterbeck