Kino: Das Fieber der Echtzeit
900 Millionen sind live dabei: Der Thriller «September 5» bereitet das Olympiaattentat von 1972 als Wendepunkt der Mediengeschichte auf.

München ist ein so mondäner wie geschichtsträchtiger Ort: 1919 entstand hier eine kurzlebige Räterepublik, später wurde die Stadt zur Brutstätte des deutschen Faschismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die bayerische Metropole vor allem 1972 ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit: Während der Olympischen Sommerspiele, die damals in München stattfanden, ermordete das palästinensische Terrorkommando «Schwarzer September» neun Athleten und zwei Trainer des israelischen Teams.
Das Blutbad infolge einer gescheiterten Befreiungsaktion spätnachts war auch ein Desaster für die Bundesrepublik als Gastgeberin der Spiele. Deutschland wollte heitere Spiele präsentieren, ganz anders als 1936, als das Naziregime in Berlin Olympia für eine Propagandashow genutzt hatte. Statt als Sommermärchen endete das Spektakel jedoch damit, dass abermals Juden in Deutschland ermordet wurden.
«September 5», der neue Kinofilm des Schweizer Regisseurs Tim Fehlbaum («Hell»), macht aus dem historischen Stoff einerseits einen Thriller – in dieser Hinsicht vergleichbar mit Steven Spielbergs «Munich» (2005), der vom Rachefeldzug des Mossad gegen die Drahtzieher des Olympiaattentats erzählt. Andererseits aber bereitet er die Ereignisse primär als mediengeschichtliches Lehrstück auf: Die Stunden der Attacke werden aus der Sicht eines Teams des US-Fernsehsenders ABC geschildert, das damals vor Ort war.
Hektik im Kontrollraum
Dieser Zugang bietet sich an: Im Abspann ist zu erfahren, dass München ’72 das erste Mal war, dass dank Satellitentechnik live im Fernsehen über einen Anschlag berichtet wurde; 900 Millionen weltweit verfolgten die Ereignisse vor den Apparaten. Es handelt sich also um so etwas wie die Stunde null der Echtzeitberichterstattung – deren jüngste Evolutionsstufe wären dann die Attentäter von heute, die ihre Angriffe selbst live streamen. Im Film konzentriert sich das Geschehen so auf den Kontrollraum von ABC: «September 5» zeigt nicht viel mehr Action als das Treiben von Journalist:innen, die durch düstere Büroräume eilen, hitzig diskutieren oder gebannt auf Bildschirme starren.
Für die ABC-Mitarbeiter:innen beginnt der 5. September 1972 früh; schon vor Sonnenaufgang bereitet man sich auf die – wie man da noch meint – anstehenden Sportübertragungen vor. Es liegt also friedliche Stille über dem Olympischen Dorf, als die junge Deutsche Marianne Gebhardt (Leonie Benesch), die als Übersetzerin für ABC arbeitet, eine Zigarette in der Morgenröte raucht. Bis sie plötzlich Schüsse hört. Zunächst ist völlig unklar, was los ist, also telefoniert man hektisch herum oder versucht, an Informationen zu kommen, indem man pünktlich das Radio anschaltet, um die 6-Uhr-Nachrichten des Bayerischen Rundfunks zu hören. Fehlbaums Film gelingt es hervorragend, das Fieber zu vermitteln, das die US-Reporter:innen damals ergriffen haben muss, als ihnen allmählich bewusst wurde, dass sie gerade Historisches erleben.
Deren Entscheidung, live von der Geiselnahme zu berichten, war keine Selbstverständlichkeit, immerhin handelte es sich bei dem Team um Geoffrey Mason (John Magaro) um Sportjournalist:innen, die nun in Windeseile auf Krisenberichterstattung umschulen mussten. Das brachte moralische wie logistische Probleme mit sich: Wie kommt man an Bilder vom Ort des Geschehens? Was, wenn jemand erschossen wird: Überträgt man das dann? Und würde man die Kameras abschalten, wenn die Liveübertragung dazu führt, dass Leben in Gefahr geraten?
Irgendwie aus dem Nichts
Letzteres wurde am Nachmittag virulent, als deutsche Polizisten sich das erste Mal daranmachten, die Geiseln zu befreien. ABC zeigte, wie sich die Beamten auf den Dächern heranpirschten, bis den Fernsehleuten dämmerte, dass auch die Geiselnehmer die Bilder sehen könnten, da es in der israelischen Teamunterkunft TV-Geräte gab. Diese Polizeiaktion wurde schliesslich abgeblasen.
«September 5» entwickelt sich so zum dramatischen Kammerspiel um eine exzellente Darsteller:innenriege. Man nimmt diesen Figuren ab, wie sehr die sich überschlagenden Entwicklungen, die wenig Zeit zur Reflexion liessen, genauso ihr Gewissen strapazierten, wie sie auch ihren professionellen Jagdinstinkt kitzelten. Die vielleicht grösste Attraktion des Films liegt aber in der lustvoll dargebotenen Ausstattung. Das aus heutiger Sicht altertümliche Gerät, mit dem hier ständig hantiert wird, springt geradezu in die Augen: Festnetztelefone mit grossen Wählscheiben werden traktiert, klobige Kopfhörer über den Ohren getragen, Walkie-Talkies zur mobilen Kommunikation genutzt.
Genauso wenig zu übersehen ist aber, dass sich «September 5» höchstens marginal für den Konflikt interessiert, zu dessen Geschichte die Münchner Geiselnahme gehört. Angesichts der aktuellen Eskalation in Israel und Palästina fällt das erst recht auf (auch wenn der Film bereits Monate vor dem 7. Oktober 2023 abgedreht war). Man könnte argumentieren, dass es dem Thriller eben um einen mediengeschichtlichen Wendepunkt und nicht um Weltpolitik geht. Dass aber die Gewalt im Nahen Osten hier irgendwie aus dem Nichts in Bayern landet, bleibt trotzdem eine Leerstelle.
«September 5». Regie: Tim Fehlbaum. Deutschland 2024. Jetzt im Kino.