Genozid: Das Verbrechen aller Verbrechen

Nr. 51 –

Israel wird von vielen Linken beschuldigt, gegen die Palästinenser:innen einen Genozid zu verüben. Woher stammt der Begriff überhaupt, und was meint er? Über die Karriere eines Wortes, das seine Bedeutung zu verlieren droht.

Installation «Reminiszenzen» von Józef Szajna
Kunst als Mahnmal: Installation «Reminiszenzen» von Józef Szajna. Foto: Walter Mori, Laif

Am 5. September 1972 stürmten in München Mitglieder des palästinensischen Terrorkommandos Schwarzer September das Quartier der israelischen Olympiamannschaft. Geplant war eine Geiselnahme, am Ende aber waren elf Mitglieder der israelischen Delegation tot. Zwei wurden von den Schwerbewaffneten erschossen, weil sie Gegenwehr leisteten, neun ermordet, als die Polizei sie befreien wollte.

Einige Wochen später veröffentlichte die terroristische Rote Armee Fraktion (RAF) eine Stellungnahme zum Massaker. Der Angriff sei «gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch». Er zeige «eine Sensibilität für historische und politische Zusammenhänge», wie sie «immer nur das Volk» habe. Die Tat sei Ausdruck wahrhaftiger Menschlichkeit, da sie sich gegen das «blutrünstigste und abgefeimteste» System richte, das es je gegeben habe, den westlichen Imperialismus nämlich. Der «Nazi-Faschismus» Israels kenne nur ein Ziel: den Völkermord in Palästina.

Auch heute heisst es wieder, Israel verübe einen Genozid an den Palästinenser:innen. Erhoben wird der Vorwurf insbesondere von linken Intellektuellen des progressiven Wissenschafts- und Kulturbetriebs, mittlerweile hat er sich auch in Teilen der Klimabewegung etabliert. Doch woher kommt eigentlich der Ausdruck «Genozid»? Was bedeutet er? Wie ist erklärbar, dass der Vorwurf seit Jahrzehnten immer wieder von Linken gegen Israel erhoben wird – und was sind die Folgen davon?

Die Äxte lagen bereit

Geprägt hat den Begriff «Genozid» Raphael Lemkin (1900–1959), ein polnisch-jüdischer Jurist. Als Kind schon wurde er Zeuge antisemitischer Gewalt, wie sie damals alltäglich war in der Gegend im heutigen Belarus, wo er aufwuchs. Dabei habe ihn, schreibt er in seiner Autobiografie, besonders ein Ereignis erschüttert. 1913 war ein ukrainischer Jude namens Menachem Mendel Beilis beschuldigt worden, ein christliches Kind ermordet zu haben, um sein Blut für das Pessachfest zu verwenden. Der Fall machte weltweit Schlagzeilen – doch am Ende war Beilis, nachdem er zwei Jahre in Haft verbracht hatte, glücklicherweise freigesprochen worden.

Das Klima der Angst jedoch, das während dieser Zeit geherrscht habe, sei kaum zu ertragen gewesen. Alle jüdischen Schüler der Stadt, in der Lemkins Familie damals lebte, seien Beilis genannt worden – jederzeit hätte ein Pogrom ihr Leben auslöschen können. Was wäre geschehen, hätte das Gericht Beilis nicht vom Ritualmordvorwurf freigesprochen? «Ich sah deutlich», schreibt Lemkin, «dass das Leben von Millionen von Menschen vom Votum der Geschworenen abhing. Und während diese sich noch berieten, wurden ausserhalb des Gerichtssaals schon Äxte, Hämmer und Waffen bereitgelegt.»

Lemkin fing an, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs habe er erfahren, dass jungtürkische Nationalisten 1,2 Millionen Armenier:innen ermordet hatten – «aus keinem anderen Grund als dem, dass sie Christen waren». Der junge Mann fasste den Entschluss, Anwalt zu werden.

1941 hörte er in einer Radioansprache Winston Churchills, wie dieser die Verbrechen der Nationalsozialist:innen als «crime without a name» bezeichnete, als Verbrechen ohne Namen. Dies habe ihn dazu inspiriert, den Begriff «Genozid» zu kreieren – abgeleitet aus dem altgriechischen «genos» für Volk und dem lateinischen «caedere» für Töten. Lemkin verwendete den Begriff erstmals 1944 in einem Buch über die Naziherrschaft in Europa. Mit dem neuen juristischen Terminus sollte es möglich werden, so seine Hoffnung, künftige Verbrechen dieser Art frühzeitig zu stoppen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Sartres wirkungsvolle Rede

Am 9. Dezember 1948 übernahmen die kurz zuvor gegründeten Vereinten Nationen seinen Begriff und verabschiedeten die Konvention über Verhütung und Bestrafung von Genozid. Nach dieser völkerrechtlichen Definition werden unter Genozid Handlungen verstanden, die in der Absicht zur vollständigen oder teilweisen Vernichtung einer bestimmten «nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe» erfolgen. Von zentraler Bedeutung ist die Absicht – die Intention der Vernichtung. Diese ist zwar nicht immer leicht zu belegen, aber wichtig, um den Genozid von anderen Massenverbrechen abzugrenzen, denen zwar auch viele Unbeteiligte zum Opfer fallen, aber nicht zwingend in der Absicht, sie als Gruppe auszulöschen.

Diese Unterscheidung war eine der Lehren aus dem Holocaust und basierte auf Lemkins eigenen Erfahrungen: die drohende Gewalt, die ihn und alle anderen Jüdinnen und Juden fest im Griff hatte, als damals die Äxte und Hämmer bereitgelegt wurden – keine Militärwaffen, sondern Werkzeug der ganz normalen Leute. Doch Lemkins Erfolg war trügerisch. Der von ihm ins humanitäre Völkerrecht eingebrachte Begriff schlummerte dort über Jahrzehnte. Erst in der juristischen Aufarbeitung des Genozids von Srebrenica (1993) und des Völkermords in Ruanda (1994) fand die Uno-Konvention Anwendung vor dem Internationalen Strafgerichtshof.

Sehr viel wirkmächtiger war der Begriff hingegen in der Neuen Linken, jener Bewegung, die in den USA und Westeuropa vor allem unter Student:innen und im Kunst- und Kulturmilieu populär war und die man auch als die «Achtundsechziger» kennt. Ausgangspunkt war die Auseinandersetzung der Neuen Linken mit dem Vietnamkrieg. Hier bündelten sich ihre Schlüsselbegriffe: Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus, Selbstbestimmung, Volk. Und im Dezember 1967 kam ein weiterer dazu. Einer, der noch neu und unbekannt sei, wie der französische Philosoph Jean-Paul Sartre in einer Rede erklärte: Genozid.

Wer sich dem US-Imperialismus in den Weg stelle, werde ausgelöscht, so Sartre, der damals stark unter dem Einfluss von Maos Schriften stand. Wie die antiimperialistischen und antikolonialistischen Volksbewegungen, die aufgrund ihrer Stärke anders nicht mehr aufzuhalten seien. Das Ziel des Imperialismus sei darum die Vernichtung dieser Völker, um den Kapitalismus weltweit verankern zu können. Sartres Rede, gehalten auf einem Tribunal gegen den Vietnamkrieg, fand rasch Verbreitung. Binnen weniger Monate erschien sie in verschiedenen Übersetzungen. Sehr rasch veränderte sich nun der Diskurs über den Vietnamkrieg – und verknüpfte diesen mit dem Holocaust. Sartre selbst hatte schon 1961, im Vorwort zu Frantz Fanons «Die Verdammten dieser Erde», vom Völkermord gesprochen. Doch erst jetzt, in der aktivistischen Stimmung von 68, wurde der Begriff politisiert – und zugleich seiner Geschichte entrissen.

Waren die ungeheuerlichen Verbrechen der US-Armee an vietnamesischen Zivilist:innen jedoch wirklich ein Genozid? Und wie stand es um den Imperialismus, der einseitig den USA vorgeworfen wurde? Waren die Sowjetunion und die Volksrepublik China, die Nordvietnam stark unterstützten, nicht ebenfalls imperialistische Mächte?

«Schalom & Napalm»

Auch den Sechstagekrieg vom Juni 1967 sah die Neue Linke durch die enge Linse des Antiimperialismus. Israel kam dabei einem Angriff von Ägypten, Jordanien und Syrien zuvor, besiegte deren Armeen und besetzte in der Folge weite Gebiete, darunter Gaza, die Westbank und Ostjerusalem. Die euphorische Stimmung des militärisch so erfolgreichen Kleinstaats bezeichnet der Historiker Tom Segev als Moment einer «zweiten Geburt» Israels. Tatsache ist, dass durch die Expansion etwa eine Million Palästinenser:innen über Nacht unter israelisches Besatzungsrecht gestellt wurden.

Eine unmittelbare Folge davon war, dass palästinensische Militante ihren Kampf nach Europa trugen. Schon vor dem Olympiamassaker wurden in europäischen Staaten israelische Geiseln genommen, vor allem Tourist:innen. Allein zwischen 1967 und 1977 – dem «roten Jahrzehnt», wie es der Historiker Gerd Koenen nennt – ereigneten sich über 400 Flugzeugentführungen, viele davon im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Diese trugen dazu bei, dass aus dem Regionalkonflikt das globale Medienereignis wurde, das er seither ist.

1969, ausgerechnet am 9. November, dem Gedenktag an die NS-Novemberpogrome von 1938, legte die linksradikale Gruppe «Tupamaros West-Berlin» eine Bombe im jüdischen Gemeindehaus an der Fasanenstrasse in Charlottenburg. Der Sprengsatz ging wegen eines technischen Defekts nicht hoch – das Flugblatt zum Anschlag zirkulierte trotzdem. Sein zynischer Titel: «Schalom & Napalm».

Sei es aus einer verkürzten Kapitalismus- und Imperialismuskritik, sei es aus Antisemitismus: Spätestens seit 1968 ist der Antiamerikanismus mit einer unerbittlichen Israelfeindschaft verschmolzen. In den Augen der antiimperialistischen Linken galt Israel bis zum Ende des Kalten Krieges als – so eine der Metaphern dieser Zeit – Brückenkopf des US-Imperialismus. In Europa dürften es Hunderte von Anschlägen gewesen sein, die bis in die frühen 1990er Jahre im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt gegen israelische und jüdische Firmen und Einrichtungen verübt wurden. Und in zahllosen Texten wird Israel seither die Vernichtungspolitik gegen Palästinenser:innen unterstellt.

Paradoxer Effekt

Ähnlich wie die Terroristen des Schwarzen Septembers von 1972 werden heute die Kämpfer der Hamas mitunter als legitime Vertreter palästinensischer Interessen gesehen, ihre Taten zu einem progressiven Befreiungskampf umgedeutet, ihre Opfer – ob als israelische Zivilist:innen oder gleich als Jüdinnen und Juden – einem imaginierten Kollektiv zugerechnet: der Verkörperung von Israel als Feind. Namentlich in der akademischen US-Linken gehört die Behauptung, dass Israel es in Gaza auf einen Genozid abgesehen habe, schon länger zum Repertoire. Auch nach Beginn der verheerenden Angriffe auf Gaza vom Oktober 2023 haben prominente Stimmen wie Noam Chomsky, Judith Butler oder Naomi Klein verschiedentlich diesen Vorwurf geäussert.

Keine Frage, die israelischen Militärschläge in Gaza sind empörend. Angesichts der drastischen Gewalt wird nach passenden Begriffen gesucht, um verstehen zu können, was in Israel und Gaza vorgeht. Dies kann aus Interesse, Besorgnis und Verantwortungsgefühl geschehen – in der Absicht, eine unübersichtliche Entwicklung einzuordnen, vergleichbar zu machen. Mitunter entspringen solche Versuche zur Einordnung aber dem Wunsch, Israel in diesem jahrzehntealten, verwickelten Konflikt einseitig zu dämonisieren und den Staat zu delegitimieren. Am deutlichsten dann, wenn der Vorwurf erhoben wird, Israel verfolge gegenüber den Palästinenser:innen eindeutig genozidale Ziele. Denn seit Raphael Lemkin diesen Begriff geprägt hat, gilt «Genozid» jenseits aller völkerrechtlichen und politischen Debatten in einem moralischen Sinn als «crime of crimes» – als das schrecklichste aller Verbrechen. Eine schwerwiegendere Anschuldigung gibt es nicht. Die Auswirkungen davon sind auch in der Schweiz zu spüren, wo antisemitische Taten in den vergangenen zwei Monaten sprunghaft zugenommen haben und unter Jüdinnen und Juden eine enorme Verunsicherung herrscht.

Die Politisierung des Genozidbegriffs hat zudem einen weiteren, paradoxen Effekt: Er stumpft dadurch ab. So stellte Cameron Hudson, ehemaliger Leiter am United States Holocaust Memorial Museum, schon vor einigen Jahren fest, dass es immer schwieriger werde, die Uno-Genozidkonvention auch anzuwenden. Der Vorwurf des Genozids ist mittlerweile so stark politisiert, dass die begriffliche Schärfe verloren zu gehen droht.