Licht im Tunnel: Melonis Stolz
Michelle Steinbeck über italienische Traditionen

In der Nacht auf den 6. Januar bringt die Hexe Befana italienischen Kindern Geschenke und Süssigkeiten. Tags darauf versammeln sich Neofaschist:innen aus dem ganzen Land in der Hauptstadt, um öffentlichkeitswirksam den Arm zum römischen Gruss zu strecken und zu brüllen. Forderungen nach einem Verbot dieses Aufmarschs laufen seit Jahren ins Leere. Heuer sollen es 1300 Rechtsextreme gewesen sein – so viele wie noch nie.
Anlass ist ein Anschlag während der «bleiernen Jahre», der Zeit des rechts- und linksextremen Terrors in Italien. Am 7. Januar 1978 wurden in Rom zwei junge Aktivisten der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano (MSI) vor ihrer Zentrale erschossen. Eine linksextreme Vereinigung reklamierte den Anschlag für sich. Am selben Abend erschoss ein Polizist im darauffolgenden Tumult einen weiteren MSI-Aktivisten.
Der MSI, 1946 von ehemaligen Funktionär:innen und Anhänger:innen des Mussolini-Regimes gegründet, existierte in dieser Form bis 1995. Mitglieder waren neben der heutigen Ministerpräsidentin Meloni auch einige ihrer engsten Abgeordneten und Minister von Fratelli d’Italia (FdI) – der Partei, die gleich das Logo des MSI übernahm.
So waren auch bei der «Gedenkfeier» von letzter Woche prominente Vertreter:innen der FdI und von deren Jugendpartei anwesend. Wie offen die «Meloni-Jugend» der Mussolini-Zeit nachtrauert und -eifert, wurde letztes Jahr dank einer investigativen Recherche des Nachrichtenportals «fanpage.it» bekannt. In den Videos überbieten sich die jungen Faschist:innen in rassistischen, antisemitischen, gewaltverherrlichenden Aussagen, machen den römischen und den Hitlergruss, auch in Anwesenheit von gar nicht jungen FdI-Abgeordneten, die zufrieden lächeln. Sie scheinen mit Meloni einig, die «ihrer» Jugend zuruft: «Ich bin stolz auf euch!»
«Fanpage» beschreibt die «martialische Inszenierung» des «Totenkults» des 7. Januar als «wichtigstes Strassenereignis» der italienischen extremen Rechten. Militärisch wird zum Platz vor dem ehemaligen MSI-Gebäude marschiert, dort in Reihen formiert. Die Namen der «Märtyrer» werden aufgerufen, worauf die Masse im Chor «Anwesend!» antwortet und den Arm zum römischen Gruss reckt. Das Ritual funktioniert dabei auf beide Seiten: Nach innen wird die politische Gemeinschaft gefestigt, nach aussen werden im Schein von Fackeln und Trauerkerzen symbolträchtige Bilder produziert.
Der römische Gruss ist in Italien verboten, strafrechtlich relevant wird er jedoch nur in bestimmten Kontexten; Gedenkfeiern zählen nicht dazu. Belangt wurde heuer stattdessen ein Passant, der während der Veranstaltung rief: «Es lebe die Verfassung, es lebe die Resistenza!» Bevor er weitergehen konnte, wurde er von der Polizei festgehalten, die seine Personalien aufnahm.
Der Rechtsextremismusexperte Paolo Berizzi sagt: «Faschistische Ideen und Inhalte prägen inzwischen weitgehend unerkannt den Alltag und das kollektive Unterbewusstsein Italiens.» Die Normalisierung von extrem rechtem Gedankengut wird auch in der Schweiz vorangetrieben – besonders von sogenannt bürgerlichen Politiker:innen und Medien. Jüngstes Beispiel: das völlig unkritische Porträt in der «NZZ am Sonntag» über Alice Weidel, das die Soziologin Franziska Schutzbach treffend «kuschelige Homestory» nennt.
Michelle Steinbeck ist Autorin und Studentin der Soziologie. Zurzeit schreibt sie über die Ästhetik der Gewalt im Faschismus.