Von oben herab: Zum Kotzen
Stefan Gärtner über Maurer und Weidel in der NZZ

Wie faszinierend es ist, Geschichte zu erleben, die sich wiederholt, schon weil wir Sensationen lieben, und die Sensation ist jetzt, dass einerseits das Motto allen Geschichtsunterrichts völlig falsch war, dass sich nämlich aus Geschichte lernen lasse, und andererseits die traditionslinke Überzeugung seit Marx völlig richtig, dass es der Bourgeoisie bloss um sich selbst geht. Und wenn es in ihrem Interesse liegt, den Klassenkampf mal wieder von rechts zu befrieden, tut sies: In Österreich öffnet eine sich als christlich verstehende Volkspartei einem Nazi die Tür zum Kanzleramt, in den USA kriechen Techunternehmer wie Gates und Zuckerberg vorm Faschisten im Weissen Haus, und in der «Schweizerzeit» wiederholt Ueli Maurer auf einer ganzen, in der NZZ als Anzeige weiterverbreiteten Seite die Lüge, unsere «Freiheit» sei in Gefahr, weil «Grün-links» und «sogenannte Experten» gute Meinungen wie die der AfD «einfach verbieten»: «Wir nähern uns, wenn wir Richtung Norden blicken, einem totalitären Regime.»
Zum Mitschreiben und für alle Nachgeborenen: Die Welt marschiert in den Faschismus, und ein bürgerlicher Schweizer Politiker warnt vor Links. Sie werden es, so viel ist sicher, hinterher alle nicht gewesen sein, alle, deren einzige Angst ist, dass sich die Wut einmal gegen den Besitz richtet, und die die Wut deshalb mit aller Skrupellosigkeit auf das umlenken, was sie «links» schimpfen und was im Kern wirklich links, weil schwach (oder jedenfalls: schwächer) ist, die Frauen, die Armen, die Menschen von draussen. Und weil man wieder sagen dürfen soll, was uns das linke Medienkartell so lange zu sagen verboten hat, müssen sie jetzt, Vorbild Trump, lügen, um die neue Wahrheit vorzubereiten: «Eigentlich müsste man mit Blick auf Deutschland von Stasi 2.0 sprechen.» Und Maurer einen Demagogen nennen. «Wehren wir den Anfängen bei uns!»
«Nie wieder!» bedeutet also jetzt, dass Ueli Maurer Angst hat, von der Antifa ins KZ gesteckt zu werden, weshalb es Parteien wie die AfD braucht, die ihrerseits die Antifa ins KZ stecken, so wie schon Hitler die Antifa ins KZ gesteckt hat, damit Bürgertum und Kapital ruhig schlafen konnten. Der Feind steht wieder, nein: immer noch links, weswegen die Ko-Chefin der AfD, die Hitler einen «Kommunisten» nennt, von «rot lackierten Faschisten» spricht, wenn sie Leute meint, die gegen eine Partei protestieren, die in Deutschland rechtsextreme Landesverbände unterhält. Sagt der Verfassungsschutz, weiss Gott keine linke Behörde, während die «NZZ am Sonntag» Alice Weidel in der «Kronenhalle» trifft, «ihrem Lieblingslokal», weil gegen die Eliten sein und mit den Eliten speisen nun einmal kein Widerspruch ist.
«Man sah ihr den Frust über das Totschweigen in Deutschland nicht an», schleimt also die exliberale NZZ-Autorin Margrit Sprecher und pustet den Schwindel von der totgeschwiegenen AfD in den Sonntag, denn die liberale Demokratie denkt selbst in ihren späten Tagen nicht daran, die grösste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag um Rede- und Fernsehzeit zu betrügen. «Da war keine Zornesfalte überpudert, und die Augen blickten hell und zuversichtlich.» Eine Zuversicht, die die NZZ gern teilt, denn schon «wählt jeder fünfte Deutsche die Alternative für Deutschland. […] Dabei gilt die Partei als ‹in Teilen gesichert rechtsextrem›, wie die Formel der Medien lautet», wie die Lüge der NZZ lautet, wenn die grün-linken Medien den Regen sehen und schreiben: Es regnet. «Ich bin supersensibel», zitiert die Titelzeile die herzensgute, just darum in der Schweiz wohnende Weidel, die Artfremde deportieren will und beste Beziehungen zum AfD-Nazi Björn Höcke unterhält, und da ich noch viel sensibler bin, muss ich hier aufhören. Zur Sache hat Max Liebermann 1933 ohnehin alles gesagt: «Ich kann nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte.»
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»).
An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.