Kohleausstieg in Bulgarien: Staub in den Lungen
Bulgarien hat die kohleintensivste Wirtschaft in der EU, der Ausstieg soll in den nächsten Jahren vollzogen werden. Doch nichts passiert. In Dimitrowgrad kämpfen Bewohner:innen gegen ein Kohlekraftwerk.

Im bulgarischen Dimitrowgrad erzählt man sich einen Witz: Die Fensterbänke säubert man hier nicht mit dem Putzlappen und auch nicht mit dem Staubsauger. Nein, man nimmt einen Magneten. Denn der schwarze Staub, der sich Nacht für Nacht seinen Weg in die Häuser bahnt, enthält so viele Schwermetalle, dass er magnetisch angezogen wird. So erzählt es Anton Arnaudov, geboren und aufgewachsen in Dimitrowgrad im Südosten des Landes und nach kurzen Auslandsaufenthalten wieder zurück in seiner Heimatstadt. Anton Arnaudov ist Familienvater: eine Frau, eine vierjährige Tochter, ein wenige Monate alter Sohn.
Dimitrowgrad wurde ab 1947 von Jugendbrigaden als sozialistische Musterstadt aus dem Boden gestampft, für Arnaudov ist es heute die perfekte Familienumgebung: ruhiges Umfeld, wenig Kriminalität, grüne Pärke. «Das Leben hier könnte perfekt sein», sagt er. Wäre da nicht drei Kilometer von seinem Haus entfernt das Kohlekraftwerk Mariza 3, das giftige Schadstoffe in die Luft schleudert. Mittlerweile erwägt er, mit seiner Familie wegzuziehen. Er sorgt sich um die Gesundheit seiner Kinder. Doch noch möchte Arnaudov nicht aufgeben. Das liegt auch an der von ihm gegründeten Initiative: «Dischaij, Dimitrowgrad» (Atme, Dimitrowgrad).
Das Schweigen zum Ausstieg
Mariza 3 ist ein kleines Kraftwerk, gebaut 1951. Es wird dem Oligarchen Christo Kowatschki zugeschrieben, dessen Kraftwerke wegen systematischer Verstösse gegen Umweltstandards bekannt sind. Auch daran liegt es, dass die Geschichte von Mariza 3 weit über die blosse Stromerzeugung hinausgeht: Sie erzählt von einem Land, dessen Politiker:innen sich weigern, den unausweichlichen Kohleausstieg zu vollziehen. Und von Dimitrowgrader Anwohner:innen, die sagen, ihr Kampf drehe sich nur vordergründig um saubere Luft. Arnaudov sagt: «Eigentlich ist es ein Kampf gegen Korruption.»
Die Energiewende ist in der Schwarzmeerrepublik eine sensible Angelegenheit. Bulgarien ist die kohlenintensivste Wirtschaft der EU. Rund ein Drittel seines Stroms produziert das Land noch mit dem schwarzen Brennstoff. Bis 2038 müssen aber alle Kraftwerke geschlossen werden. So wurde es mit der EU-Kommission vereinbart, die dafür Milliarden an Geldern vorgesehen hat. Doch wann immer in Bulgarien davon die Rede ist, folgen Proteste von Kohlearbeiter:innen und Gewerkschaften. Insgesamt hängen 34 000 Arbeitsplätze an der Industrie.
Zudem sorgen ständige Regierungswechsel für Stillstand. Nach sieben Wahlen innert nur vier Jahren hat Bulgarien seit Januar eine neue Regierung, die das Land aus der Krise führen soll. Doch Millionen an EU-Geldern sind bereits verloren, weil Pläne für die Energiewende nicht eingereicht wurden. Dennoch ist der Ausstieg unausweichlich, schon im letzten Jahr haben die bulgarischen Kohlekraftwerke ihre Stromerzeugung halbiert. Langfristig rentiert sich diese nicht, weil die Kosten durch Emissionen zu hoch sind. Doch öffentlich anerkennen möchte das niemand.
Desislava Mikova, die im Bereich Klima und Energie bei Greenpeace Bulgarien tätig ist, sagt, das Land kämpfe damit, ein ehrliches Gespräch über den Kohleausstieg zu führen. «Es ist ein spaltendes Thema und es bringt hohe politische Kosten mit sich, die Energiewende zu erwähnen, geschweige denn, sie zu planen.» Ein spaltendes Thema, das bedeutet: Besonders jene Bulgar:innen, die eher nach Russland als zur EU schauen, protestieren gegen das nahende Kohle-Aus. Jene hingegen, deren Haltung gegenüber der Union eher positiv ist, sind eher ökologisch orientiert.
So oder so brauche es eine genaue Planung der Energiewende, sagt Mikova. «Der Markt denkt nicht an Arbeiter, an Gerechtigkeit, an den sozialen Aspekt der Energiewende.» Bergarbeiter:innen sollten Ausbildungsprogramme angeboten werden, etwa für Jobs in der grünen Energieindustrie. Doch diese Programme sind ungenügend: Es gibt Beschwerden darüber, dass hoch qualifizierte Ingenieur:innen Schulungen in MS Office bekommen. «Dann heisst es: Ist das die Gerechtigkeit, die ihr uns versprochen habt?», erzählt Mikova. In einem Interview mit der US-amerikanischen Zeitung «Politico» sagte Alexander Zagorov, Leiter des Gewerkschaftsbunds Podkrepa, Bergarbeiter:innen ohne jeglichen Plan der Energiewende zu überlassen, gleiche einer «sozialen Katastrophe».
2023 kam es in der Stadt zum Clash, als «Dischaij, Dimitrowgrad» einen Protest für saubere Luft veranstaltete – und die Angestellten des Kohlekraftwerks zu einer Gegendemonstration anrückten. «Die Leitung des Kraftwerks erzählt den Arbeiter:innen, wir würden dafür sorgen, dass sie ihre Jobs verlören», sagt Anton Arnaudov. «Die soziale Spannung in der Stadt ist gross.»
Russische Propaganda
Im Kreml reibt man sich indes wohl die Hände. Denn der russischen Regierung ist alles willkommen, was die europäische Energiewende sabotiert. So heisst es in einer Studie des in Sofia ansässigen Center for the Study of Democracy: «Der Kreml verbreitet systematisch Desinformation, die den Green Deal als wirtschaftlich kontraproduktiv darstellt.» Bulgarien ist, was die Unterstützung für Russland anbelangt, gespalten wie kein anderes Land in der EU. Propaganda über die vermeintliche Gefahr von Windrädern findet insbesondere in den Kohleregionen Anklang.
Dabei wirkt Dimitrowgrad auf den ersten Blick wie das sozialistische Vorzeigestädtchen, als das es einst gebaut wurde. Platanen säumen Alleen, Wäsche trocknet auf Balkonen in der Innenstadt. Das Theater wurde erst letztes Jahr komplett renoviert, die Zuschauer:innenstühle sind mit rotem Samt überzogen. Trotz dunkler Rauchschwaden am Himmel können die Dimitrowgrader:innen einen ungetrübten Blick in den Sternenhimmel werfen – im ersten Planetarium auf dem Balkan überhaupt, wie die Touristeninformation stolz betont. Breite Wege führen durch einen dicht bewachsenen Eichenwald, entworfen extra für die Bewohner:innen von Dimitrowgrad, die seit der Entstehung der Stadt dicht an dicht mit der bulgarischen Schwerindustrie leben. Wenig deutet hier auf das Kohlefossil hin, das nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt schwarzen Staub in die Luft wirbelt.
Schon aus der Ferne erstrahlt die weiss-grün-rote Trikolore auf dem fünfzig Meter hohen Betonzylinder. 2023 hatten Greenpeace-Aktivist:innen in Blockbuchstaben das Wort «Crime» auf den Kühlturm von Mariza 3 gepinselt, um auf die Verstösse des Kraftwerks aufmerksam zu machen. Die Werksleitung reagierte ihrerseits, indem sie den Schriftzug mit der bulgarischen Fahne übermalte. Niemand ist auf den Strassen, in der Luft liegt ein scharfer Geruch. Ein verfallenes Betriebshaus steht direkt vor dem Gelände des Kraftwerks. Über der Haustür prangt der sozialistische Stern, dessen rote Farbe langsam abblättert.
Der Südosten Bulgariens, in dem auch Dimitrowgrad liegt, ist die letzte Region der Europäischen Union, die unter starker Schwefeldioxidbelastung leidet. Das Gelände des Kohlewerks nimmt Besucher:innen mit auf eine Zeitreise, Mariza 3 wirkt wie eine Bastion der Vergangenheit: vor dem Green Deal, vor der Energiewende, vor dem ökologischen Bewusstsein des Kontinents; als das schwarze Gold noch den stolzen Wohlstand ganzer Regionen sicherte. Die ersten Wohnblöcke der Stadt wurden parallel zum Werksgelände von Mariza 3 errichtet.
Heute ist belegt: Das Kraftwerk Mariza 3 ist die Hauptquelle von Schwefeldioxid in Dimitrowgrad. «Wenn man den Zustand des Gebäudes sieht, kann man sich vorstellen, wie die Arbeitsbedingungen dort aussehen», sagt Mikova. Kraftwerke wie Mariza 3 hätten ihre Lebenszeit längst überschritten, Standards würden nicht erfüllt. Doch weil die Behörden nicht über den Kohleausstieg sprechen, so Mikova, «operieren Kraftwerke wie dieses vermutlich bis zum letzten Moment im Jahr 2038».
Eine eigene Messstation
Das dürfte auch am Oligarchen Kowatschki liegen: Er wurde einst von «Forbes» zu einem der mächtigsten Bulgar:innen gekürt. Neben Mariza 3 soll er noch fünf weitere Kohlekraftwerke im Land besitzen. Die Europäische Staatsanwaltschaft ermittelte bereits gegen ihn. Durch gefälschte Angaben zu Emissionen soll Kowatschki rund 74 Millionen Euro für EU-Kohlenstoffzertifikate eingespart haben. Seine Lizenz behielt er trotzdem. Desislava Mikova sagt, jene Kraftwerke, die Kowatschki gehörten, verursachten allesamt ähnliche Probleme. Eine Anfrage der WOZ liess die Gemeinde Dimitrowgrad unbeantwortet. Das bulgarische Umweltministerium schreibt, es seien bereits vier Bussgeldbescheide über mehr als 800 000 Bulgarische Lew (umgerechnet rund 390 000 Franken) gegen die Leitung des Kraftwerks ausgestellt worden. Der Schwefeldioxidausstösse sei man sich bewusst. Massnahmen seien bereits getroffen worden, etwa die Installation einer Wärmebildkamera, die den Austritt von Gasen aus beiden Schornsteinen überwacht.
Anton Arnaudov sagt, man spüre es direkt, wenn Mariza 3 in Betrieb sei: «Die Luft fühlt sich dann schwer an in der Lunge.» Bulgarien hat die höchste Todesrate durch Luftverschmutzung in der EU. Insbesondere Lungenkrankheiten unter Kindern sind in den Kohleregionen weit verbreitet. «Das ist etwas, was jeder bulgarische Bürger für diese Industrie bezahlt», sagt Mikova.
Weil die Warnungen der Stadtverwaltung verspätet kamen und sich nur auf die Werte im Stadtzentrum bezogen, haben Arnaudov und seine Mitstreiter:innen eine eigene Messstation aufgebaut. Sobald die Werte überschritten sind, holen sie ihre Kinder von den Spielplätzen, schliessen die Fenster und verbringen den Rest des Tages im Haus. Mittlerweile gibt es auch einen Kanal auf dem Messengerdienst Viber, der aktuelle Luftwerte bekannt gibt. In einer Facebook-Gruppe tauschen sich die Dimitrowgrader:innen aus: «Hier die Morgendosis an frischer Luft, eine Dufttherapie für die Seele», schreibt sarkastisch eine Userin und postet dazu ein Foto dunkelgrauer Qualmwolken vor ihrem Fenster.
Zermürbendes Warten
2022 wollte die regionale Umwelt- und Wasserinspektion Mariza 3 wegen Verstössen gegen Umweltrichtlinien schliessen. Seitdem wird gerichtlich darüber verhandelt, welchen Anteil das Kraftwerk an der Luftverschmutzung hat. Eine Anfrage der WOZ zum Zustand des Kraftwerks und zur Luftverschmutzung in Dimitrowgrad liess dessen Leitung unbeantwortet. Anfang Dezember kam die Nachricht aus Brüssel: Bulgarien wird abermals auf Millionen an EU-Geldern verzichten müssen. Die Europäische Kommission gab bekannt, dass 653 Millionen Euro nicht ausgezahlt werden – aufgrund nicht erfüllter Verpflichtungen in der Korruptionsbekämpfung und im Energiesektor.
An einem sonnigen Wintertag Ende November 2024 ist es mal wieder so weit: Im Gerichtsgebäude in Chaskowo, Verwaltungssitz der Region, sollen unabhängige Expert:innen den Zustand des Kraftwerks beurteilen. Ein kleiner Raum mit niedriger Decke, vorne ein Pult aus dunkelbraunem Kirschholz. Darüber das Wappen von Bulgarien. Drei goldene Löwen, die den nationalen Leitspruch symbolisieren: In der Einheit liegt die Stärke. Die zwei Bänke für das Publikum sind voll, gekommen sind vor allem Mitglieder von «Dischaij, Dimitrowgrad». Ein Wort, das immer wieder leise erklingt an diesem Nachmittag: Korupzija – Korruption. Zwischendurch sarkastisches Lachen. Im Publikum glaubt kaum jemand daran, dass die, die heute über den Zustand des Kraftwerks urteilen sollen, wirklich unabhängig sind.
Nach drei Stunden zäher Diskussion ohne Ergebnis verkündet die Richterin einen nächsten Termin Ende März. Stöhnen im Publikum. Für Arnaudov und seine Mitstreiter:innen geht das zermürbende Warten vorerst weiter. Denn während des Verfahrens darf das Kraftwerk weiterlaufen.