Energiepolitik in Deutschland: Revolution, made in Germany

Nr. 27 –

Vor zwei Jahren beschloss Deutschland die «Energiewende». Beim grossen Ringen um Geld und Einfluss ist bisher die Frage unbeantwortet geblieben, wie ein grünes Stromsystem überhaupt aussehen soll.

Grüne Felder neben dichten Wäldern, malerische Bauernhöfe unter weissen Wölkchen, Reihenhäuser vor dem Bahnhof. Vom 125 Meter hohen Kesselhaus des Kohlekraftwerks Datteln 4 herab sehen die Städte Castrop-Rauxel und Datteln aus wie die Kulisse einer Modelleisenbahn. Früher schlug hier das Herz des Ruhrgebiets, die Schornsteine qualmten, und die Kohle aus den Bergwerken lieferte die Energie für das deutsche Wirtschaftswunder. Aber wo sich bis 1972 die Zeche Emscher-Lippe in den Boden frass, steht jetzt ein Aldi-Logistikzentrum. Wo früher mit dem 1964 erbauten Datteln 1–3 stolz das modernste Kohlekraftwerk Deutschlands stand, ist heute ein begrünter Hügel. Das Werk wurde 2001 geschlossen und abgerissen. Kein Bedarf mehr.

So könnte es wieder kommen. Denn Datteln 4, das fast fertige, auf höchste Effizienz getrimmte Steinkohlekraftwerk, das mit seiner blau glänzenden Fassade am Dortmund-Ems-Kanal mehr aussieht wie eine Bankenzentrale, ist eines der grössten Fossilien des fossilen Zeitalters. 1100 Megawatt Leistung, ein 180 Meter hoher Kühlturm: eine Kathedrale der Kohle für 1,2 Milliarden Euro. Und ein Projekt, das heute niemand mehr bauen würde. Das liegt nicht so sehr daran, dass Datteln 4, das seit zwei Jahren in Betrieb sein sollte, wegen einer Klage von AnwohnerInnen gegen fehlerhafte Behördenplanung vorerst nicht ans Netz geht. Sondern vor allem an den Windrädern, von denen man auch von hier oben ein paar sieht. Denn derzeit fordert die nächste industrielle Revolution im Ruhrgebiet ihre Opfer.

Das neudeutsche Wort für diese Revolution heisst «Energiewende». Seit die Regierung des viertgrössten Industriestaats der Welt vor zwei Jahren beschloss, in ein paar Jahrzehnten praktisch völlig aus der Atom- und Kohleenergie auszusteigen, befindet sich dessen Energiepolitik im Ausnahmezustand: Am 30. Juni 2011 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Paket aus acht Gesetzen, das diese Revolution regeln sollte. Darin ging es unter anderem um den Ausstieg aus der Atomkraft bis 2022, den Ausbau des Stromnetzes, die Dämmung von Häusern, Geld für den Klimaschutz und Energieeffizienz.

Voll entbrannter Kampf um die Energiewende

Nach zwei Jahren Energiewende ist die Bilanz gemischt. Der Atomausstieg wird umgesetzt, der Ausbau von Solar- und Windkraft geht zügig weiter. Der Netzausbau ist beschlossen, manches Prozedere vereinfacht. Auf der anderen Seite lahmt die energetische Sanierung der Häuser. Das Ziel, bis 2020 insgesamt eine Million Elektroautos auf die Strasse zu bringen, ist inzwischen utopisch. Ganz schlecht steht es um die Effizienz: Verbesserungen, von der EU gefordert, wurden vom Wirtschaftsministerium blockiert und verwässert, genauso wie tiefere Grenzwerte für den Spritverbrauch von Autos und die Sanierung des EU-Emissionshandels.

Und nun, kurz vor der Bundestagswahl am 22. September, ist der Kampf um die Energiewende voll entbrannt. «Wir sind mitten in einem grossen Experiment», sagt Christian Hey, Generalsekretär des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), dessen ExpertInnen die Bundesregierung beraten. Eine Regierung, die für Hey in Energiefragen «ein erratisches Stop and go» liefert. «Wir werden Zeugen, wie das 20. Jahrhundert versucht, das 21. Jahrhundert zu verhindern.»

Datteln 4 ist ein Symbol des 20. Jahrhunderts. Wer mit Franziska Krasnici vom Betreiber und Bauherren Eon mit Helm, Warnweste und Sicherheitsschuhen durch das riesige Kraftwerk im Wartestand stiefelt, der sieht blitzende Maschinen im Stillstand, leere Kohlebunker, ein angerostetes Wasserbecken und eine Leitwarte, auf der ein Computer zu Trainingszwecken den Betrieb des Kraftwerks simuliert. Vom höchsten Punkt des Kesselhauses aus schweift der Blick noch zu einem halben Dutzend dampfender grosser Kohlekraftwerke. «Allein Eon hat hier im Revier 2000 Megawatt stillgelegt», sagt Krasnici. Die Zukunft der Kraftwerke ist ungewiss. Und die der grossen Stromkonzerne Eon, RWE, Vattenfall und EnBW ebenfalls. Plötzlich produzieren ihre Kunden den Strom selbst. Die Stromkonzerne verlieren Marktanteile und bauen Arbeitsplätze ab.

Deutschland hat seine Chancen auf eine ordentliche Revolution 1848, 1918 und 1968 verpasst, 1989 stürzte nur im Osten die alte Ordnung. Der neue Regimewechsel hat hingegen bessere Chancen: Auch zwei Jahre nach dem Beginn der Energiewende ist der Totalumbau der Energiewirtschaft in Umfragen sehr populär. Letztens haben sogar die ExpertInnen der Internationalen Energieagentur in Paris, sonst eher Kohle- und Atomfans, der Energiewende ihren Segen erteilt. Und seit dem 18. April 2013 hat die Energiewende auch ein Datum: An jenem Donnerstag erzeugten Sonne und Wind zum ersten Mal an einem Werktag über Stunden mehr Strom als Kohle, Atom, Öl und Gas. Selbst die Chefin der Energielobby BDEW (Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft) gibt zu, dass es «einen Rollentausch zwischen erneuerbaren und konventionellen Energiequellen» gibt.

«Völlige Klarheit, was zu tun ist»

Ein Junitag in Berlin: An der Fassade des Luxushotels Intercontinental baumeln vier AktivistInnen von Greenpeace mit einem riesigen Plakat: Es zeigt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor arktischem Eis und rauchenden Schloten und die Schlagzeile «Von der Klimakanzlerin zur Kohlekanzlerin». Im Hotel sitzen dicht gedrängt unter Kristalllüstern mehr als tausend ManagerInnen der deutschen Energie- und Wasserfirmen und wollen wissen, wohin die Reise mit der Energiewende geht. Merkel weiss, dass sie ihrer Zuhörerschaft viel zumutet: «Diese Legislaturperiode war für die Energiepolitik besonders turbulent», ruft sie in den Saal, «aber die nächste wird es auch.» Die ehemalige Umweltministerin fachsimpelt mit der Branche, bedankt sich artig für deren gute Arbeit, lobt ihre eigenen Erfolge und schimpft auf die Bundesländer, die ihr bei der Energiewende mal zu schnell und mal zu langsam sind. Und sie verspricht dem BDEW, dessen Chefin Hildegard Müller eine ihrer engsten Vertrauten ist, alles auf einmal: die Förderung der Erneuerbaren einzuschränken, die Stromnetze auszubauen, einen neuen Strommarkt zu schaffen und natürlich «die Kosten für die Energiewende zu begrenzen». Die ManagerInnen danken ihr mit tosendem Applaus.

Sie sind dankbar für Merkels Zusicherungen. Denn wie bei jeder richtigen Revolution herrscht auch hier das Chaos: Der Bau von Solaranlagen und Windparks boomt, gleichzeitig gehen Solarfirmen pleite. Gaskraftwerke werden gebraucht, aber nicht gebaut, bei Kohle ist es genau andersherum. Der Strompreis wird zur politischen Waffe, obwohl bei anderen Energieträgern die Preise schneller steigen. Umweltverbände wollen die Energiewende, aber keine neuen Stromleitungen. Die Industrie jammert über hohe Preise, profitiert aber vom billigen Strom. Und die ExpertInnen drängen auf schnelle Entscheidungen, aber erst mal passiert nichts.

Alle fordern einen «Masterplan» – und Merkel schwört, sie habe «völlige Klarheit, was zu tun ist». Dabei ordnen sich erst langsam Koalitionen, Kompetenzen und Kosten. Der Verbraucherschutz ärgert sich über steigende Strompreise, die der Subvention von Ökostrom durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) angelastet werden (vgl. «Das Erneuerbare-Energie-Gesetz»). Die EU prüft, ob Deutschland seine Unternehmen auf verbotene Weise subventioniert. Ein Sprecher von Eon schimpft: «Bei der Energiewende läuft vieles nicht rund. Die Netzstabilität nimmt ab, der Bau neuer Leitungen stockt, und der Umbau wird teurer als nötig.» Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) opponiert offen gegen die Umweltpolitik der Regierung, und die UmweltschützerInnen monieren, es gehe zu langsam und zu zaghaft voran.

Dabei geht durchaus etwas. Der Anteil der Erneuerbaren an der gesamten Stromerzeugung ist bereits auf etwa 23 Prozent geklettert – viel schneller als gedacht. Der subventionierte Markt ist so dynamisch, dass ExpertInnen bis 2020 einen Anteil von 50 Prozent für möglich halten. Die Preise für Solaranlagen seien stark gefallen, mit weniger Investitionen werde mehr Ökostrom geerntet, jubelt die internationale Ökoenergielobby REN 21. Und auch der offizielle Monitoringbericht der Bundesregierung lobt: Der Energieverbrauch gehe zurück, der Anteil der Erneuerbaren wachse schnell, die Stromversorgung sei sicher und nicht übermässig teuer.

Das Ancien Regime als Revolutionär

Umweltminister Peter Altmaier (CDU) sonnt sich in der Bewunderung des Auslands für «The German Energiewende», tut aber zu Hause alles, um die Entwicklung zu bremsen: Die schnelle Wende werde zu teuer, überlaste die Netze und schaffe falsche Strukturen, so seine Warnungen. Tatsächlich geben auch viele AnhängerInnen der Erneuerbaren zu, dass der Energiemarkt umgebaut werden muss, sobald Wind und Sonne nicht mehr ein Nischendasein führen: Dann sollen auch die ÖkostromproduzentInnen Verantwortung für stabile Netze und den Bau von Stromleitungen übernehmen. Die zentrale Frage heisst: Wie wird aus der angefangenen Revolution eine nachhaltige Herrschaft der neuen Energien? Ein Konzept dafür hat Altmaier noch nicht geliefert.

Einer der grössten Widersprüche dieses Umsturzes: Er wird vom Ancien Regime gemacht. Die CDU-FDP-Koalition schwenkte erst 2011, nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima, hastig auf den neuen Kurs ein. Ein Jahr zuvor hatte sie noch voll auf die Atomkraft gesetzt. Praktisch über Nacht legten die Stromkonzerne auf Druck der Politik acht Atomkraftwerke mit einer Leistung von 8,4 Gigawatt still – das entspricht zwei Dritteln der gesamten Stromleistung der Schweiz. Ein langjähriger Grosskonflikt der deutschen Gesellschaft war plötzlich entschärft. Selbst bei der hochbrisanten Frage eines Atomendlagers soll jetzt ein Allparteienkompromiss den Weg weisen.

Keine der damaligen Befürchtungen ist eingetreten: Kein Blackout stürzte das Land ins Chaos, Deutschland ist nicht abhängig vom Stromimport, die Wirtschaft ist nicht abgewandert, sondern boomt mitten in der europäischen Krise. Die Strompreise für die Industrie sind so niedrig, dass 2012 der Konzern Norsk Hydro ankündigte, seine stromfressende Aluminiumproduktion in Neuss zu verdreifachen.

Die Energiewende hat bislang gut funktioniert und mit ihrer Geschwindigkeit Freunde und Feinde überrascht. Doch die Wachstumsschmerzen sind nicht zu übersehen: Vor allem die Stromnetze sind wegen des plötzlich auftretenden massiven Angebots von Elektrizität aus Wind und Sonne überlastet. Die alten Netze wurden von den Stromkonzernen nicht erneuert, jetzt werden die Probleme gern den Erneuerbaren in die Schuhe geschoben. 1800 Kilometer neue Leitungen sind gerade beschlossen worden – sie sollen den im Norden billig produzierten Windstrom zu den industriellen Zentren im Süden transportieren.

Alle reden über Strompreise

Kalt erwischt hat die Wende die Stromkonzerne. Ihr Anteil an der Stromerzeugung ist von 85 auf 70 Prozent gefallen – der Zuwachs an dezentralen Solar- und Windparks, das Energiesparen und das intelligente Stromnetz waren bislang nicht ihre Stärken. Die Stadtwerke der Kommunen und inzwischen 600 Energiegenossenschaften graben den ehemaligen Monopolisten immer mehr das Wasser ab. Die Konzerne setzen auf die Windkraft vor der Küste, doch viele Offshorevorhaben stocken. Die Investitionen der Konzerne haben nicht mehr die garantierten zweistelligen Renditen wie früher, ihre AktionärInnen stellen peinliche Fragen. Deshalb haben sie die Gegenrevolution ausgerufen: die Wende schlechtreden und die Menschen verunsichern.

Eines haben sie erreicht: Zwei Jahre nach dem Start des «Gemeinschaftswerks für die Zukunft», wie 2011 die Energiewende genannt wurde, redet das Land jetzt vor allem über die Strompreise. In einem Trommelfeuer konservativer Forschungsinstitute und vieler Medien wurden die Zahlen immer grösser: 20 Milliarden Euro pro Jahr, 180 Euro pro Haushalt, und Umweltminister Altmaier setzte noch einen drauf: «Eine Billion Euro bis 2040» werde die Energiewende kosten, sagte er. In der Tat ist die «EEG-Umlage», mit der die höheren Kosten für Ökostrom auf die privaten Haushalte verteilt werden, seit 2009 von etwa 1 auf 5,2 Cent pro Kilowattstunde gestiegen, und sie wird weiterklettern. Auch dies trägt zur Erhöhung der Stromkosten bei, die für Privatleute in den letzten zehn Jahren von etwa 16 auf 26 Cent pro Kilowattstunde zugelegt haben.

Dabei werden gern Äpfel mit Birnen verglichen: So treiben auch andere Faktoren wie etwa Steuern den Strompreis hoch, der immer noch ein kleiner Ausgabenposten der Haushalte ist. Und paradoxerweise steigt die «EEG-Umlage», wenn mehr günstiger Ökostrom auf den Markt kommt (weil dann auch der normale Strompreis sinkt und weiterhin die Mehrkosten des Ökostroms ausgeglichen werden). Von sinkenden Strompreisen profitieren vor allem die vielen Unternehmen, die aus vermeintlichen Wettbewerbsgründen von der Umlagenzahlung befreit sind.

Als ausgerechnet die wirtschaftsliberale FDP und der Eon-Chef ihr Herz für die Armen entdeckten, denen «Energiearmut» drohe, erklärte der Generalsuperintendent der Evangelischen Kirche Berlin: «Die Bedürftigen in unserem Land sind nicht durch die Energiewende bedürftig geworden, sondern weil die Kluft zwischen Arm und Reich zu gross geworden ist.» Die Caritas wiederum hat Arbeitslose zu EnergieberaterInnen für arme Haushalte geschult. Ihr Ergebnis: Durch Aufklärung und kostenlose Energiespargeräte könne ein Haushalt mit zwei Personen durchschnittlich hundert Euro im Jahr sparen. «Die EEG-Umlage ist kein guter Indikator für den Preis der Energiewende», sagt SRU-Chef Hey.

«Im Preis des Ökostroms sind vor allem Innovations- und Produktionskosten enthalten», die tendenziell sänken, sagt Claudia Kemfert. Sie leitet die Energieabteilung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Kemfert steht der CDU nahe und ist Revolutionärin, keine Revoluzzerin. Sie schildert die Lage in ihrem Buch «Kampf um Strom» so: «Die Energiepolitik in Deutschland hat sich in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem laut gestritten und dabei jegliches Handeln blockiert wird.» Sie warnt, die nächsten zehn Jahre würden «darüber entscheiden, wie unsere Stromversorgung in Zukunft aussehen wird». Momentan sieht sie schwarz: Die Förderung für Ökostrom werde beschnitten, der Netzausbau verzögert, und in der Zwischenzeit «bauen die grossen Konzerne Kohlekraftwerke».

Renaissance der deutschen Kohle

Das ist der nächste Widerspruch der deutschen Energiewende: Während Kanzlerin Merkel lobt, dass Deutschland seine Klimaschutzziele übererfüllt habe, steigen die CO2-Emissionen wieder an. Schuld daran ist vor allem die Renaissance der deutschen Braunkohle, des dreckigsten Energieträgers. In alten, abgeschriebenen Kohlekraftwerken erzeugen die Energiekonzerne Billigstrom. Denn die CO2-Zertifikate im europäischen Emissionshandel wurden von schwacher Klimapolitik und Wirtschaftskrise auf einen Tiefpreis gedrückt. Dadurch lohnt sich die Produktion von klimaschädlicher fossiler Energie wieder – nicht aber der Neubau von weniger schmutzigen und flexiblen Gaskraftwerken.

Hingegen werden in den nächsten Jahren vom angeblichen Klimaschutzchampion Deutschland etwa zehn neue Kraftwerke für Steinkohle gebaut. Eigentlich hätten es gar noch zwanzig mehr sein sollen. Doch der Umweltbewegung gelang es, einige Projekte zu verhindern. Und der Strommarkt begünstigt derzeit zwar Braunkohle, nicht aber Steinkohle. Darum hat nun auch Datteln 4 ein Problem.

Gemäss Gerd Rosenkranz, Energieexperte beim Umweltverband Deutsche Umwelthilfe (DUH), wollen die Konzerne im derzeitigen Kohleboom noch einmal möglichst viel Gewinn aus den fossilen Strukturen pressen, um damit den Sprung in das Zeitalter der Erneuerbaren zu finanzieren. «Man muss den Konzernen deutlich sagen, dass sie hier gerade Milliarden investieren, die sich nicht amortisieren werden», sagt Rosenkranz. Er geht davon aus, «dass wir irgendwann Verhandlungen über einen Kohleausstieg führen, wie wir das mit den Atomkraftwerken gemacht haben». Das hiesse, der Staat garantiert Laufzeiten und Rendite für Kohlekraftwerke, die jetzt gebaut werden und sich am Markt nicht mehr refinanzieren. Ein Unding, findet der Chef des Umweltbundesamts, Jochen Flasbarth: «Entschädigungen darf es nicht geben. Auch die Konzernmanager können lesen.»

Strommarktdesign und Kapazitätsmarkt

Der Spezialist für solche Verhandlungen wäre Rosenkranz’ ehemaliger Chef bei der DUH, Rainer Baake. Baake hat als Staatssekretär für den grünen Umweltminister Jürgen Trittin den rot-grünen Atomausstieg 2002 verhandelt. Baake ist ein Vordenker der Revolution: weisser Stoppelbart, zurückhaltender Typ, sanfte Stimme, aber knallhart, wenn es darauf ankommt. Nach zwanzig Jahren als Kämpfer für grüne Parteierfolge und Umweltschutz sucht er jetzt den Konsens. Er leitet die Agora-Energiewende, einen Thinktank, der von Stiftungen finanziert wird und die Akteure der Energiepolitik zusammenbringt. Von der Agora stammen Gutachten zu Stromnetzen, dem günstigsten Ausbau der Erneuerbaren oder zur Stromnachfrage. Ihr Vorteil: Sie sind oft konsensfähig bei PolitikerInnen aller Couleur, bei Umwelt- und Wirtschaftsverbänden.

Über das Schicksal der Energiewende entscheidet für Baake ein abstraktes Wort: Strommarktdesign. «Schnell nach der Bundestagswahl im September müssen wir klären, wie zukünftig der Strommarkt aussehen soll», sagt er. Welche Kraftwerke braucht man für ein bedarfsgerechtes Stromangebot bei schwankendem Strom aus Erneuerbaren? Und wie rentieren sich Kraftwerke, die nur ab und zu laufen, dann aber unentbehrlich sind?

Die Lösung liegt im nächsten Wortmonster: im Kapazitätsmarkt. Unternehmen bekommen Geld dafür, Kraftwerke in Reserve zu halten, also praktisch als Versicherung gegen Stromausfall. Wie soll solch ein Markt aussehen? Soll er die Braunkohle oder das Gas bevorzugen? Sollen Reserven staatlich angeordnet oder vom Markt bestimmt werden?

Es sind diese Fragen, die für Baake darüber entscheiden, wie die Revolution in normale Bürokratie überführt wird. Und wer davon profitiert. «Wir können das vorbereiten, aber Entscheidungen muss natürlich die Politik treffen», sagt Baake. «Auch der Atomausstieg 2002 wurde gegen Widerstände durchgesetzt. Eine Regierung muss regieren, dafür ist sie gewählt worden.»

Das wissen auch die ManagerInnen beim BDEW-Treffen in Berlin. Bevor die Kanzlerin erscheint, unterhält der Moderator mit den neusten Umfragen zur Wahl: «Zum ersten Mal ist die FDP wieder bei fünf Prozent», sagt er. Raunen und Gelächter bei den ZuhörerInnen. Sie wissen, was dieses Ergebnis bedeuten würde: Eine Neuauflage der Koalition von CDU und FDP würde bei der Energiewende so weitermachen wie bisher. Gleichzeitig bremsen und Gas geben. Irgendetwas zwischen Revolution und Verzögerungstaktik.

In Datteln verabschiedet sich Franziska Krasnici. Für ihr bislang unbenutztes Kohlekraftwerk Datteln 4 ist sie zuversichtlich: «Wir erzeugen hier den Strom für die Deutsche Bahn, der wird immer gebraucht.» Aber auch die Bahn will immer grüner werden. Schon jetzt verspricht sie ihren KundInnen einen Fernverkehr mit «100 Prozent Ökostrom». Aus Datteln kommt der nicht.

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz

Den Boom der Erneuerbaren ausgelöst hat das Stromeinspeisegesetz, das 1991 von der CDU beschlossen wurde: Zum ersten Mal gab es für Anbietende von Ökoenergie feste Preise. Die rot-grüne Koalition beschloss 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das lukrative Vergütungssätze für zwanzig Jahre und die Abnahme des Stroms durch die Netze garantiert. Weil diese Kosten nicht den Staatshaushalt belasten, sondern direkt auf die Haushalte umgelegt werden, gilt das EEG nicht als Subvention und ist deshalb EU-konform.

Das EEG fördert Strom aus Wind, Sonne, Biogas, Geothermie und Wasserkraft und verteilt jährlich etwa fünfzehn Milliarden Euro um. Beteiligungen an Wind- und Solarparks gelten mit Renditen von um die fünf Prozent als lukrative Geldanlagen.

Der Ursprung der Energiewende

Für die Ökobewegung ist die Energiewende nicht 2, sondern 33 Jahre alt: 1980 erschien eine Studie des Ökoinstituts Freiburg mit dem Titel «Energiewende». Seitdem trieb eine Szene aus Tüftlern und Erfinderinnen neue Energieformen wie Windkraft und Solarenergie voran – oft belächelt und manchmal behindert von Stromkonzernen und den PolitikerInnen der grossen Parteien. Im gleichen Jahr wurde der parlamentarische Arm der Ökobewegung gegründet: Die Grünen.

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