Bosnien: Dicke Luft in Tuzla

Nr. 10 –

In der nordbosnischen Stadt Tuzla ist die Luftverschmutzung schlimmer als in Beijing, die Lungenkrebsrate liegt weit über dem europäischen Durchschnitt. Weil die Politik nichts tut, nehmen die EinwohnerInnen die Dinge selbst in die Hand.

Smog über der drittgrössten bosnischen Stadt: Für die Feinstaubbelastung gibt es nicht einmal eine gesetzliche Grenzwert­regelung.

Der Himmel hängt tief über der Stadt. Wegen des dichten Smogs sieht man nur wenige Meter weit. Aus den Kaminen steigt weisser, gelber, rötlicher oder blauer Rauch – je nachdem, womit gerade geheizt wird. Das Atmen fällt schwer. Der Geruch von verbrannter Kohle beisst in der Nase und brennt in den Augen.

In den vergangenen Wintern war die Luft in Tuzla, der drittgrössten Stadt Bosniens, besonders schlecht. «Im Dezember 2015 zum Beispiel hat Peking wegen der Feinstaubbelastung die Alarmstufe Rot ausgerufen», erzählt Dzemila Agic, Direktorin des unabhängigen Umwelt- und Energiezentrums Tuzla. «Die entsprechende Höchstwertgrenze haben wir im selben Monat ganze zehn Mal erreicht. Doch Alarm hat es deswegen keinen gegeben.» Auch der gesetzliche Schwefeldioxidgrenzwert wurde in diesem Dezember an 25 Tagen teils massiv überschritten. Eine Gruppe von AktivistInnen in Tuzla wollte der Untätigkeit der Behörden nicht länger zuschauen. Professoren, Ärztinnen, Umweltfachleute, Rotkreuz-Mitarbeiter und andere Interessierte schlossen sich zusammen und gründeten die Grupa za cist zrak (Gruppe für reine Luft).

Mittlerweile haben sich in mehreren Vororten weitere AktivistInnen zusammengetan. Im nahen Lukavac, wo wichtige Messstationen stehen, engagiert sich nun selbst der Bürgermeister. Die Grupa kann bereits konkrete Erfolge verzeichnen. So wurde kürzlich ein von ihr vorgeschlagenes Alarmstufenkonzept vom Umweltministerium gutgeheissen. «Ende Januar war die Luft so schlecht, dass die höchste Alarmstufe ausgerufen wurde. Schulen blieben geschlossen. Besonders erfreulich war, dass der Kanton das Kohlekraftwerk Termoelektrana, einen der Hauptsünder der hiesigen Luftverschmutzung, anwies, den Ausstoss seines grössten Kamins vorübergehend herunterzufahren», berichtet Dzemila Agic.

Die Stadt Tuzla erwägt auf Druck der Grupa zudem ein Verbot des Heizens mit Kohle, die einen zu hohen Schwefelgehalt aufweist. Die Mehrheit der Haushalte ist nicht ans Zentralheizungssystem angeschlossen und heizt nach wie vor damit. Der Brennstoff wird in den Minen rund um Tuzla abgebaut und ist günstig. Doch insbesondere die Braunkohle ist oft von minderwertiger Qualität. Nebst Schwefel enthält sie auch viele Schwermetalle.

Heizen mit dem Hausmüll

Bis anhin gibt es weder Kontrollen noch Vorschriften für die Brennstoffe, die die Bevölkerung verheizt. «Weil viele sehr arm sind, verbrennen die Einwohner oft auch Hausmüll, was noch schädlicher ist. Und wegen der ungenügenden Wärmedämmung vieler Häuser verheizen sie umso mehr davon», sagt Dzemila Agic. So geraten giftige Gase und Feinstaubpartikel in die Atmosphäre.

Die Grupa beschäftigt vor allem der Feinstaub. Denn hier gibt es nicht einmal eine gesetzliche Grenzwertregelung. Das entbinde die PolitikerInnen von ihrer Verantwortung, klagt Agic. «An einem besonders schlimmen Tag hat mir ein Vertreter des Umweltministeriums ins Gesicht gesagt, die Luft sei doch in Ordnung, es werde ja kein Grenzwert überschritten. Das ist einfach nur absurd.»

Daraufhin sei der Plan zur gesetzlichen Verankerung von Grenzwerten und Alarmstufen vorangetrieben worden. «Es ist uns bewusst, dass Grenzwerte und Alarmstufen allein noch keine Lösung sind. Aber sie setzen die Politik unter Druck und sensibilisieren für das Thema», sagt Agic. Oft mangle es an Wissen und Bewusstsein. Zudem sei es ein heikler Bereich, da sich die Behörden selbst an der Nase nehmen müssten. «Hitzefrei geben sie gern und schnell, weil dafür die Natur verantwortlich ist. Alarmstufe Rot wegen Luftverschmutzung hingegen – das käme einem Eingeständnis des eigenen Versagens gleich.»

Spitzenwerte bei der Messstation

Die schlechte Luft steht im Winter still, hängt bewegungslos wie eine Glocke über der Stadt. Nebst Heizungen und Verkehr ist vor allem die Industrie für die Verschmutzung verantwortlich. Und unter ihr leidet Tuzla, einst blühendes Zentrum der jugoslawischen Industrie, besonders. Rund um die Stadt gibt es zahlreiche Kohlewerke, in Minen werden Salz und Quarz abgebaut, und auch die Chemieindustrie ist hier ansässig. Und eben, am westlichen Stadtrand: das Kohlekraftwerk Termoelektrana. Der Riese produziert über die Hälfte der Elektrizität von ganz Bosnien und verbrennt mit veralteter Technologie Unmengen von Kohle. Und weil Termoelektrana ungenügende Filter eingebaut hat, schleudert das Kraftwerk zwanzigmal mehr Schwefeldioxid in die Luft als vom Gesetz erlaubt. Die Messstation, die am nächsten beim Kraftwerk liegt, erzielt stets die höchsten Werte.

Brisant dabei ist: Das Kraftwerk gehört dem bosnischen Staat. Doch seit die Grupa das Ministerium auf die hohen Werte hingewiesen hat, funktioniert die Messstation nicht mehr. Nehmen die Behörden die Luftverschmutzung einfach so in Kauf? «Lange Zeit hatte die Verschmutzung keinerlei Konsequenzen. Wohl auch deshalb, weil sich niemand beschwert hat», sagt Dzemila Agic. «Seit einigen Jahren muss das Werk der Stadt Geld für den Schaden bezahlen. Das Problem ist nur: Bis jetzt ist dieses nicht in den Umweltschutz investiert worden – sondern hauptsächlich in die Verkehrsinfrastruktur.» Die Stadt selbst will sich dazu nicht äussern, Anfragen blieben unbeantwortet.

Und auch die Verantwortlichen des Kohlekraftwerks Termoelektrana hüllen sich in Schweigen. Immerhin speist dieses einige öffentliche Verwaltungsgebäude und Wohnhaussiedlungen mit Fernwärme und erspart der Bevölkerung so weitere Kohleheizungsemissionen. Zudem scheint sich auch die angestrebte Annäherung an die Europäische Union positiv auf die Politik des Unternehmens auszuwirken: Auf Druck der EU hat Termoelektrana im Herbst 2015 einen Plan präsentiert, wie das Kohlekraftwerk seine Emissionen in Zukunft vermindern könnte.

Doch auf die Umsetzung dieses Plans möchte sich die Grupa lieber nicht verlassen. «Es interessiert die Verantwortlichen schlicht zu wenig, was sie mit ihrer Produktion verursachen und wie sehr wir darunter leiden», sagt der junge Lokalpolitiker Goran Stojak, Ortspräsident des Bezirks Bukinje, der in der Nähe des Kraftwerks liegt. Er hat sich ebenfalls den AktivistInnen angeschlossen.

Zwei Ärzte für 5000 Leute

Am stärksten betroffen ist das Quartier Divkovici. Vor einigen Jahren haben hier noch 500 Menschen gelebt. Die meisten sind in der Zwischenzeit weggezogen – oder gestorben. Heute zählt der Ort noch 50 Seelen. «Und von den verbliebenen Einwohnern hat ein Grossteil Krebs. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt etwa vierzig Jahre», sagt Stojak. In der ganzen Region gebe es nur zwei Ärzte, die für 5000 Leute zuständig seien. Viel zu wenige, um alle PatientInnen angemessen zu betreuen. «Im Normalfall würde es wohl reichen», meint Stojak, «aber nicht, wenn so viele von ihnen krank sind.»

Gleich neben seinem Dorf liegt eine der grossen Kohleschlackedeponien. Hier wird gelagert, was bei der Kohleverbrennung übrig bleibt. Mittels Pipelines pumpt das Kraftwerk die mit Wasser gemischte Schlacke hierher und überflutet damit das Brachland. Das Restwasser fliesst zurück in die Kanäle und schliesslich in die Jala, die durch Tuzla fliesst. Stojak stapft auf der Deponie den Hügel hoch und trägt mit den Händen die dünne Erdschicht ab, die sich über die Schlacke gelegt hat. «Jetzt ist die Schlacke feucht, doch wenn die Sonne scheint und der Wind bläst, weht es alles zu uns herüber. Die Asche lagert sich dann zentimeterdick auf unseren Häusern ab – auf dem Dach, auch im Dachstock, im Garten, überall.»

Die Schlacke enthält giftige Schwermetalle. In einer wissenschaftlichen Studie wurde die Deponie kürzlich untersucht. Dabei konnte im Boden von Bukinje eine hohe Konzentration an Arsen, Kadmium, Chrom und Nickel nachgewiesen werden. Das Ackerland, das die Deponie umgibt, ist unbrauchbar geworden. Doch die meisten hier leben an der Armutsgrenze und sind auf den Eigenanbau von Gemüse angewiesen. So gelangen die giftigen Metalle zwangsläufig in die Nahrungskette. In einigen Haarproben der EinwohnerInnen wurde Arsen gefunden.

Stojak engagiert sich schon seit Jahren gegen die Termoelektrana. Das Kraftwerk sei mächtig, sagt er, einer der grössten Betriebe der Region. Nur wenige trauten sich daher, öffentlich über das zu reden, was nicht gut laufe – aus Angst, die Arbeit zu verlieren oder in andere Schwierigkeiten zu geraten. Auch er selbst sei schon bedroht worden. Beim Rundgang durchs Dorf bleibt er einmal abrupt stehen und zeigt kopfschüttelnd auf ein Plakat, das an einem Gartenzaun hängt – es ist die Werbung eines Bestattungsunternehmens.

Die Ärztin Nurka Pranjic, Vorsteherin der Universitätsklinik für Pathologie und Toxikologie, untersucht seit Jahren die Auswirkungen der Luftverschmutzung. Bei der Grupa kämpft sie an vorderster Front. «Die schlechte Luft ist eine enorme Belastung und führt mit der Zeit zu schweren Kreislauf- und Lungenerkrankungen. Viele Feinstaubpartikel sind so klein, dass sie tief in die Lungen eindringen und bis ins Blut gelangen», sagt Pranjic. In Tuzla und Umgebung erkranken doppelt so viele Menschen an Lungenkrebs wie im europäischen Durchschnitt. Die ungenügenden Sozialleistungen des Staates und überteuerte Medikamente verschärfen die Situation.

Die Grupa za cist zrak will deshalb dort einspringen, wo die Politik versagt. Sie will sich um diejenigen Anliegen der Menschen kümmern, die bis anhin hinter den Wirtschaftsinteressen zurückstehen mussten. Nächstes Ziel ist der Bau einer Schwefelreinigungsanlage im Kohlekraftwerk Termoelektrana – trotz enormer Schwefeldioxidemissionen fehlt eine solche nach wie vor. Und auch der Kampf für eine gesetzliche Verankerung von Feinstaubgrenzwerten dauert an. «Damit sich die Politiker nicht länger hinter den Grenzwerten verstecken können, die es gar nicht gibt», lacht Agic bitter. Sie weiss, dass es in ihrem Land Ausdauer und Hartnäckigkeit braucht. Mut gebe ihr die Tatsache, dass die Menschen bereits ein Bewusstsein für die Luftverschmutzung entwickelt hätten. In der ganzen Stadt werde mittlerweile darüber geredet.

Nun steht der Frühling vor der Tür, die Luft wird frischer und klarer. Bald heisst es aufatmen für die EinwohnerInnen von Tuzla. Doch bis der nächste Winter kommt, ist es nur eine Frage der Zeit.

Feinstaub

Feinstaub besteht aus Schwebepartikeln in der Luft, die von Auge nicht wahrnehmbar sind. Man unterscheidet zwischen PM10 (Partikel mit einem Durchmesser von höchstens 10 Mikrometern), PM2,5 (Durchmesser höchstens 2,5 Mikrometer) und Partikeln im Nanometerbereich.

Je kleiner das Teilchen, desto gesundheitsschädigender ist sein Potenzial: PM10 gelangt in die Lungen, PM2,5 bis in die Lungenbläschen, Nanopartikel bis in die Blutbahn und einzelne Zellen. Für PM2,5 und Nanopartikel gibt es keinen gesundheitlich unbedenklichen Grenzwert.