Marianne Faithfull (1946–2025): Die Muse abgeschüttelt
Triggerwarnung: Auch dieser Nachruf kommt nicht aus ohne die Männer, die Kunst und Leben der Marianne Faithfull prägten. So wie kaum ein Nachruf auskam ohne zwei misogyne Plattitüden: erstens die Muse, dafür bestimmt, Männer zu inspirieren; zweitens die Sängerin, für die berühmte Männer Lieder schrieben. Ihr Liebhaber Mick Jagger nannte die junge Marianne Faithfull «angel with big tits» und schrieb ihr mit Keith Richards den ersten Hit auf den so gebrandmarkten Leib und für ihre Sopranstimme: «As Tears Go By», 1964.
38 Jahre, viele Abstürze, Rehabs und Comebacks später, ihre Stimme jetzt eine Oktave tiefer, kündigte Faithfull am Montreux Jazz Festival ihren «Song for Nico» an: «Wir hatten wenig gemeinsam, ausser: Wir waren beide Chick Singers in den Sixties.» Die beiden Worte spuckte sie mit Verachtung aus. «Nico war eine unterschätzte Frau», sagte die ewig unterschätzte Faithfull über die Sängerin von The Velvet Underground, auch sie eine sogenannte Muse dieser Zeit. In ihrer autobiografischen Spiegelung rekapituliert Faithfull Nicos Begegnungen mit Brian Jones, Andy Warhol und Lou Reed. Und mit Alain Delon, dem Vater von Nicos Sohn, auch das eine tragische Geschichte. Delon war 1968 Faithfulls Filmpartner in «La Motocyclette». Faithfull spielte darin eine Femme fatale als Easy Rider, verkörperte ein zeittypisches Paradox: Befreiungsikone und gleichzeitig Männerfantasie in Biker-Leder.

Fast vierzig Jahre später wird sie in der Rolle der «Irina Palm» gefeiert, in der Tragikomödie spielte Faithfull eine Sexarbeiterin, deren gealtertes Gesicht die Kunden hinter der Wand mit dem Loch nicht zu sehen bekommen. Auf ähnliche Weise reflektierte die Sängerin ihr eigenes Image. Schon 1979, da war sie 32, begann mit dem Album «Broken English» quasi ihr Alterswerk. Darauf thematisierte Faithfull sexistische Altersdiskriminierung und Klassismus, der Titelsong war der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof gewidmet. Musikalisch wie performativ liess sie sich von der karibisch-britischen New Wave inspirieren.
Faithfull überlebte Junkie-Elend, Krebs und Krisen und wurde 78 Jahre alt. Man kann ihr Werk lesen als Kampf gegen die Deutungshoheit von Männern, nicht ohne ironischen Twist: Im letzten Drittel ihres Lebens standen jüngere männliche Musiker Schlange, um mit ihr zu arbeiten: Damon Albarn, Jarvis Cocker oder Nick Cave, alle verbeugten sich für ein Stück Faithfull-Charisma.