Abschieberazzien in den USA: Verstecken und durchhalten
Die Zahl der Abschiebungen ist gestiegen, zuletzt liess die Trump-Regierung öffentlichkeitswirksam Flüge nach Venezuela starten. Für Migrant:innen in Chicago hat sich der Alltag schlagartig verändert.

Yoseiby Perez, die in Wirklichkeit anders heisst, sitzt Ende Januar an einem Tisch im Büro der NGO Instituto del Progreso Latino im Little Village, einem Stadtteil von Chicago. In der Ferne ragen die Wolkenkratzer wie stumpfe Bleistifte in den trüben Himmel, auf den Dächern der Backsteinhäuser schmilzt langsam der Schnee. Ein Sozialarbeiter hat sie mit seinem Auto von der Flüchtlingsunterkunft, in der sie lebt, zum Interview gefahren. Niemand darf erfahren, wo sich die Unterkunft befindet, zu hoch ist das Risiko, dass die Mitarbeiter:innen der Einwanderungs- und Zollpolizei ICE auf sie aufmerksam werden. Perez, achtzehn Jahre alt, aus Caracas, Venezuela, ist erst seit ein paar Monaten im Land. Als sie am 11. Mai 2024 die Grenze zu den USA überquerte, rief sie ihre Mutter an und sagte, sie habe es geschafft. Gegenseitig gratulierten sie sich zum Muttertag, so erzählt sie es. Die Mutter habe erregt geklungen, erleichtert, aber auch besorgt.
In der Unterkunft, erzählt sie, leben noch mindestens 800 andere Migrant:innen. Yoseiby, ihr Freund und der dreijährige Sohn teilen sich ein Zimmer von etwa zwölf Quadratmetern mit einer anderen Familie. Es ist ihre dritte Bleibe in neun Monaten. Es gibt einen Gemeinschaftsraum, jemand wäscht und kocht für sie, Gerichte aus Venezuela, manchmal mexikanische Tortillas. Ihr Alltag hat sich verändert, und zwar schnell und zum Schlechteren: Früher ging sie mit dem Kind im Park spazieren, kaufte Erdbeeren oder Kiwis im Supermarkt ein, im Sommer gingen sie alle zusammen ins Freibad. Sie wischt auf ihrem Handy und zeigt ein Foto: Alle drei lachen unbeschwert in die Kamera. Jetzt steht die Zeit still. Yoseiby verlässt die Unterkunft nicht mehr. Sie schläft viel oder läuft die Treppen auf und ab – Ausdauertraining.
Abschiebeflüge nach Venezuela
In den USA leben grob geschätzt vierzehn Millionen Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Ein Drittel der Einwohner:innen Chicagos sind Latinos und Latinas. So gut wie jede:r von ihnen hat Familie oder Freund:innen, die ohne geregelten Status in den USA leben. Sie arbeiten auf dem Bau, in Restaurantküchen, als Taxifahrer oder Putzkräfte, haben in diesem Land ihre Kinder zur Welt gebracht. US-Präsident Donald Trump hat lateinamerikanische Migranten Vergewaltiger, Mörder und Diebe genannt. In seiner Antrittsrede hatte er gedroht, «Millionen und Abermillionen» dorthin zurückzuschicken, wo sie hergekommen seien.
Am Montag dieser Woche veröffentlichte das Weisse Haus auf X ein Foto mit der Überschrift «Make America Safe Again» mit der Ankündigung, Flüge nach Venezuela für «illegal aliens» wieder aufzunehmen. Auf dem Bild zu sehen ist ein Flieger der venezolanischen Fluggesellschaft Conviasa, Männer steigen die Passagiertreppe hoch. Zoomt man näher heran, erkennt man die Fesseln an ihren Füssen. Am Abend landeten zwei Flüge mit insgesamt 190 Menschen in Caracas. Beweise dafür, dass es sich wie behauptet bei den Männern um Kriminelle und Gangmitglieder handelt, führte die Regierung nicht an.
Eine Zufluchtsstadt in Gefahr
Mitarbeiter:innen von NGOs sagen, viele der Abgeschobenen seien Gefängnisinsassen. Allerdings häufen sich in demokratisch regierten Städten auch willkürliche Massenverhaftungen. Ebenso stiegen zuletzt Festnahmen am Arbeitsplatz und in Gerichtssälen leicht an. Schulen, Kirchen oder Krankenhäuser bleiben zwar trotz Drohungen sichere Orte. Anders als in Trumps erster Amtszeit habe sich aber einiges verändert: Die Behörden benutzen andere Tricks, schieben auch ohne gerichtliche Anhörung ab, setzen Militärfahrzeuge ein. Unter US-weiten Protesten errichten sie gerade ein neues Zeltlager in dem berüchtigten Gefangenenlager Guantánamo.
Ebenfalls am Montag berichtete der Fernsehsender NBC, Trump drehe angeblich durch vor Wut: Obwohl die Zahl der Abschiebungen seit seinem Amtsantritt gestiegen sei, bleibe sie hinter seinen Erwartungen zurück.
Das ist kein Zufall. NGOs, Aktivist:innen und Lokalpolitiker:innen im ganzen Land haben sich vorbereitet. Der Bürgermeister von Chicago, Brandon Johnson, hat allen, die die Stadt ihr Zuhause nennen, seinen Schutz versprochen. Chicagos Ortskräfte, kündigte er an, würden die Zusammenarbeit mit der ICE verweigern. Seit Wochen führt die Stadt «Know Your Rights»-Kampagnen durch, in denen sie Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus ihre Rechte erklärt. Beispielsweise, dass sie nicht verpflichtet seien, ihre Haustür zu öffnen, wenn kein Durchsuchungsbescheid vorgelegt wird.
In einem Interview mit CNN beklagte der «Grenzzar» Tom Homan, solche «Sanctuary Cities» würden die Festnahmen von «Kriminellen» erschweren. «Chicago», sagte er, «da sind sie viel zu gut informiert. Man hat ihnen beigebracht, sich vor der ICE zu verstecken.» Während Trumps erster Amtszeit war es Homan gewesen, der den Plan mitentwickelte, «zur Abschreckung» Eltern an der Grenze von ihren Kindern zu trennen.
Ana Gil Garcia, die Begründerin der Illinois Venezuelan Alliance in Chicago, erzählt mit triumphierender Stimme am Telefon von Homans Wut: Bisher zumindest würden die Schutzmassnahmen wirken. Doch als sie am vergangenen Wochenende eine Flüchtlingsunterkunft besuchte und eine ihrer Schützlinge sie bat, Taufpatin für ihr Baby zu werden, lehnte Garcia ab: «Wenn die Eltern abgeschoben werden, was soll ich dann tun?» Vor einigen Tagen erst nahmen ICE-Kräfte einen Mann in Chicago fest, der gerade sein Kind zur Schule gebracht hatte.
Permanent verbreiten sich solche Meldungen wie ein Lauffeuer, führen zu Panik und Stresssituationen. Die Frauen in der Unterkunft hätten geweint, erzählt Garcia, einige von ihnen seien erst seit zwei Monaten im Land. «Sie fragen: War alles umsonst, der Weg durch den Dschungel, all die Leiden? Sieht unser Leben jetzt so aus: ein Leben in Angst?» Sie habe nicht gewusst, was sie ihnen antworten solle, sagt Garcia.
Seit 1985 ist Chicago eine «Sanctuary City», eine von über hundert sogenannten Zufluchtsstädten in den USA. Für Millionen Migrant:innen war die Stadt ein Ort der Hoffnung auf ein besseres Leben, auf Glück gewesen. Doch in diesen Tagen gibt es viele Mütter, die um das Schicksal ihrer Kinder bangen, und viele Kinder, die Angst haben, ihre Eltern zu verlieren. Vor allem diejenigen, die aus den «barrios», den Armenvierteln Venezuelas, stammen, fürchten nach einer möglichen Abschiebung die «watchdogs»: von der Regierung lokal eingesetzte Spione, die Regierungskritiker:innen aufsuchen, sie ins Gefängnis sperren oder ermorden.
Schutzstatus aufgekündigt
Ende Januar hatte Trump seinen Gesandten für Sondermissionen, Richard Grenell, zum Besuch nach Venezuela geschickt: Er sollte den autoritär regierenden Präsidenten Nicolás Maduro zur Aufnahme von Abgeschobenen drängen und die Freilassung von sechs in Venezuela inhaftierten US-Amerikanern erreichen. Die Trump-Regierung drohte ansonsten mit Konsequenzen. Nach den Gesprächen verliess Grenell das Land mit den freigelassenen «Geiseln». «Wir wissen nicht, welche Details der Deal zwischen Maduro und Trump beinhaltet», sagt Garcia.
Die Biden-Regierung hatte Einwander:innen aus von Armut und Konflikten gebeutelten Herkunftsländern wie Venezuela noch einen kollektiven temporären Schutzstatus gewährt. Der Exodus aus Venezuela ist die grösste Fluchtbewegung in der jüngeren Vergangenheit Südamerikas. Mehr als 7,7 Millionen Venezolaner:innen haben ihr Land verlassen, etwa 800 000 davon leben in den USA. Vergangene Woche kündigte die US-Regierung den temporären Schutzstatus für mehr als 300 000 Venezolaner:innen auf, er läuft im April dieses Jahres aus.
Wenn Yoseiby Perez’ Freund nicht pünktlich um zehn Uhr abends von seinen Gelegenheitsjobs in die Geflüchtetenunterkunft zurückkehrt, befürchtet sie, sie hätten ihn geholt. Wenn sie ihn abschöben, wolle auch sie nach Venezuela zurück, sagt sie. Aber bis es so weit ist, kratzen sie jeden Cent zusammen und überweisen das Geld nach Hause, Mindestbetrag für jede Überweisung: zwanzig Dollar. Sie könnten sich eine Wohnung suchen, aber sie wollen das Geld für die Miete in Anwaltskosten für ihren Asylantrag investieren. Ihre Familie in Caracas setzt sie unter Druck, auf keinen Fall zurückzukehren. Sie müsse durchhalten, sagen sie.