Deportationen in den USA: Amerikanischer Albtraum
Donald Trump will mehr Menschen ausschaffen als je zuvor. Bedroht sind nicht nur illegal in die USA Eingereiste, sondern alle ohne gültiges Visum. Eine von ihnen ist Sofia Espinoza aus Nicaragua.

Protest gegen die Grenzschutzbehörde ICE in Kalifornien. Foto: Gabrielle Lurie, Laif
An diesem Tag im Juni kamen bewaffnete Beamte der Migrationsbehörde ICE zum ersten Mal in Sofia Espinozas Viertel. Die Warn-App, verbunden mit Kameras, die Anwohner:innen überall in der Nachbarschaft aufgestellt haben, ging los. Espinoza, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung wissen möchte, bekam Angst.
Am Nachmittag sitzt sie an einem Holztisch in Glendale, einem Vorort von Los Angeles. Das Haus ist gross und gemütlich: ein Klavier, zwei Hunde, Familienfotos, Bilder an den Wänden. Ebendieses Haus wird Espinoza bald verlassen. Die 27-Jährige zählt die Tage bis zum Rückflug in ihre Heimat Nicaragua: Es sind noch sechs. Bis vor einer Woche hatte sie einen Job als Zahnarzthelferin. Aber plötzlich ist ihr Aufenthaltstitel nicht mehr gültig, und sie lebt in ständiger Angst, ausgeschafft zu werden. «Ausgerechnet jetzt, wo ich mich an das einsame und langweilige Leben in den USA gewöhnt habe, muss ich wieder gehen.»
Fokus auf urbane Zentren
3000 Menschen – so viele soll die Behörde ICE jeden Tag festnehmen und ausschaffen, wenn es nach der US-Regierung geht. In den vergangenen Wochen führte ICE Razzien vor Baumärkten, auf erntereifen Feldern oder in Autowaschanlagen durch. In Schulen und Gerichtsgebäuden wurden Menschen festgenommen und in Handschellen abgeführt. Ihren Familien wird teils der Kontakt verwehrt, Anwält:innen dürfen nicht mit ihnen sprechen.
Nachdem er kurzzeitig zurückgekrebst war, kündigte US-Präsident Donald Trump am Wochenende an, die Abschiebepraxis weiter auszudehnen: «Wir müssen unsere Bemühungen verstärken, illegale Einwanderer in den grössten Städten Amerikas wie Los Angeles, Chicago und New York festzunehmen und abzuschieben.»
Der Fokus auf die urbanen Zentren ist kein Zufall: Städte wie Los Angeles haben sich zu «sanctuary cities» ernannt, zu Zufluchtsstädten, die der ICE ihre Zusammenarbeit verweigern. Diese liberale Lokalpolitik ist Trump ein Dorn im Auge. Razzien und Festnahmen in Landwirtschaftsbetrieben, Hotels und Restaurants sollen dagegen vorerst ausgesetzt werden, weil sie der amerikanischen Wirtschaft schadeten, wie der Präsident auf «Truth Social» bekannt gab.

Los Angeles ist auch der Ort, an dem vor rund zwei Wochen die Proteste begannen, die sich am vergangenen Wochenende unter dem Slogan «No Kings» auf rund 2000 Städte ausweiteten. Die Angelenos, von denen fast die Hälfte lateinamerikanische Wurzeln haben, demonstrierten gegen das brutale Vorgehen der Behörde ICE. Polizist:innen schossen Gummigeschosse und Tränengas, Hunderte wurden festgenommen. Dabei sind viele Polizisten selbst Latinos. Auf einigen Uniformen waren ihre Namen zu lesen: García, Ramos, Hernandez.
Sofia Espinoza hat das Haus seit Beginn der Proteste nicht mehr verlassen. Als sie vor rund zwei Wochen den Bus zum Kickboxtraining nehmen wollte, erlaubte es ihr die Tante nicht. Sie wäre gerne wie früher in Nicaragua auch selbst bei den Protesten dabei, sagt sie. Aber das wäre in ihrer Situation gefährlich. Und wenn die Polizei jetzt Gummigeschosse gegen Demonstrant:innen einsetze, wer wisse, ob nicht bald echte Kugeln abgefeuert würden, wie es das Militär 2018 bei Protesten in Nicaragua getan hat?
Damals protestierten in Espinozas Heimat Hunderttausende gegen Sozialreformen der Regierung. Espinoza studierte gerade Medizin, als die Proteste auch auf die Universität übergriffen und ihre Kommiliton:innen das Unigebäude besetzten. Die Regierung schlug die Proteste brutal nieder, 350 Menschen starben, auch ein Cousin von Espinoza. «Damals waren wir alle politische Aktivist:innen. Wir konnten nicht anders», sagt sie.
Visum statt Illegalität
Die Familie beschloss, Sofia und ihre jüngere Schwester vorübergehend zur Tante in die USA zu schicken: Im Pass hatten die beiden von einem früheren Besuch noch ein Touristinnenvisum, mit dem sie einreisen durften. Möglich war dies auch, weil Espinoza aus einer Mittelklassefamilie stammt: Ihre Mutter ist Anwältin und konnte den Töchtern ein Studium finanzieren. Vier Monate lang blieb Espinoza bei ihrer Tante, dann begann sie ein Zahnmedizinstudium in Costa Rica, wo es sicherer war als zu Hause. Schliesslich kam Bidens «Humanitarian Parole».
Bis zu 30 000 Migrant:innen pro Monat durften aufgrund der Menschenrechtslage in ihren Heimatländern Nicaragua, Kuba, Haiti und Venezuela mit dem Flieger in die USA einreisen und zunächst für zwei Jahre bleiben. Dadurch wollte die Biden-Regierung irreguläre Grenzüberschreitungen eindämmen. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten kamen unter dem Schutzstatus «Humanitarian Parole» in die USA.
Im September 2023 stieg Sofia Espinoza in ein Flugzeug nach Los Angeles. Ihr Visum war auf zwei Jahre begrenzt, wohnen durfte sie im Haus ihrer Tante. Alles an der neuen Stadt fühlte sich zunächst fremd an. Und doch hoffte sie, einen Weg zu finden, um für immer hierzubleiben. Und es lief gut, so gut, dass ihre Chefin ihr ein Arbeitsvisum sponsern und ihr nach der Pensionierung die Praxis überlassen wollte. Um ein solches Visum zu erhalten, hätte Espinoza aber nach Nicaragua zurückkehren und Jahre warten müssen, erklärte ihr eine Anwältin.
Ende März beschloss Trumps Regierung, den legalen Status von Personen mit «Humanitarian Parole» aufzuheben, faktisch also einer halben Million Menschen das Visum zu entziehen. Mitte April stoppte eine Bostoner Bundesrichterin den Entscheid. Ende Mai hob der Supreme Court diese Verfügung wieder auf. Espinoza erfuhr von einem Freund vom Gerichtsentscheid, der über ihr Schicksal bestimmte – zumindest denkt sie das: «Ich gehe davon aus, dass ich illegal im Land bin. Aber wie soll ich das herausfinden? Niemand hat mich benachrichtigt.»
In Nicaragua nicht mehr willkommen
Dass Menschen selbst das Land verlassen, weil sie die Situation nicht mehr verkraften, gehört zur erklärten Strategie der US-Regierung. Sie nennt es «self-deportation». Hatte Espinoza niemals den Gedanken, ohne Aufenthaltstitel hierzubleiben? Sie schüttelt erschrocken den Kopf, ihr Blick hinter den eckigen Brillengläsern ist ernst. Schon die jetzige Lage hält sie kaum aus. Auch hat sie wie die allermeisten Migrant:innen aus Nicaragua nie einen Asylantrag gestellt, obwohl die Chance auf den Flüchtlingsstatus für diese zwischen dreissig und vierzig Prozent liegt und damit höher ist als für viele andere Herkunftsländer. «Asyl zu beantragen und abgelehnt zu werden, ist gefährlich. Zurück in Nicaragua, würden sie mich dafür ins Gefängnis stecken.»
In Nicaragua verfolgt Espinozas Mutter Tag und Nacht die Nachrichten aus den USA und ist heilfroh, dass ihr Kind bald heimkommt. Ob ihre Regierung sie ins Land lassen wird, weiss Espinoza nicht. In der Vergangenheit wurden Menschen zurückgewiesen und verloren ihre Staatsangehörigkeit. «Man sagt uns, es sei sicher zurückzukehren. Solange wir nicht die Regierung kritisieren.»
Drei Tage vor ihrem Flug erzählt Sofia Espinoza am Telefon, sie habe es zu Hause nicht ausgehalten und ihre Cousine besucht. Ihre Stimme klingt freudig, fast erleichtert. Bald ist der Albtraum vorbei.