Ein Traum der Welt: Sinn für Möglichkeiten

Nr. 8 –

Annette Hug ist polypatriotisch

Dieser Tage helfen Erinnerungen an einen hoffnungsvollen Moment: Im Oktober 2018 touren zwanzig Autor:innen durch Buchläden und Kleintheater von Seoul, zehn sind aus Südkorea, zehn weitere kommen aus aller Welt, aus Dschibuti, Ägypten, Frankreich, China, aus dem Iran, aus der Schweiz, aus Schweden, Mexiko, Indonesien und Vietnam. Wenn sich alle in einem Raum befinden, bewegen sich Dolmetscher:innen zwischen ihnen und stellen sich zur Verfügung. Ihre Herkunft ist ebenfalls divers, wobei sie alle in Korea studieren. Je nach Gesprächskonstellation übersetzen sie von Persisch auf Koreanisch, Vietnamesisch auf Englisch und so weiter. Es bildet sich eine französischsprachige Clique, zu der auch eine Schweizerin und ein Dichter aus Dschibuti zählen. Hier spricht der ägyptisch-kanadische Autor Yasser Abdel-Latif von Korea als Knotenpunkt zweier Weltreligionen (Christentum und Buddhismus), wobei sich auf sehr alten und sehr neuen Handels- und Fluchtwegen islamische Besucher:innen dazugesellen.

Das Seoul Writers Festival 2018 stand noch unter dem Eindruck der erfolgreichen Demokratiebewegung von 2016. Die hatte eine zunehmend autoritäre Präsidentin, Park Geun-hye, zum Rücktritt gezwungen. Optimismus lag in der Luft und verband sich mit der Vision einer multipolaren Welt, die nicht von verfeindeten Machtzentren geprägt wäre, sondern von Knotenpunkten, von Zentren des Austauschs über Grenzen hinweg. Das Festival war Ausdruck einer Kulturpolitik, die koreanische Autor:innen im Ausland förderte, aber auch dafür sorgte, dass Weltliteratur auf Koreanisch greifbar wurde. 2018 fielen mir Plakate und Auslagen zum kenianischen Autor Ngugi wa Thiong’o auf. Er hatte in Seoul gerade einen wichtigen Preis gewonnen.

In der Hochstimmung jenes Oktobers regte sich ein patriotischer Wunsch. Das könnte die Schweiz doch auch! Hier kommt doch ebenso viel zusammen: Die Sprachen der grösseren Nachbarn, der Eingewanderten und der Durchreisenden sowie Globisch begegnen und vermengen sich, Übersetzen wird innerhalb des Landes gefördert. Das wäre doch der ideale Ort für ein grosses Festival, an dem sich Übersetzer:innen und Autor:innen aus der ganzen Welt austauschen, zum Gewinn und Vergnügen des lokalen Publikums.

In Bundesbern sieht man das anders. Die Förderung von Begegnungen mit künstlerischen Produktionen aus Asien, Lateinamerika und Afrika soll per Ende 2028 komplett gestrichen werden (vgl. «Absage an die kulturelle Vielfalt»). Weil diese Gelder aus dem Budget der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (Deza) stammen, könnte man meinen, die Schweiz kürze die Unterstützung für andere. Doch die Streichung ist in erster Linie ein Schritt der Einkapselung und der Selbstverarmung.

In Südkorea wurde 2022 Yoon Suk-yeol zum Präsidenten gewählt, er war kein Förderer der hier beschriebenen Kulturpolitik. Am 8. Dezember 2024 hat er versucht, sein Land dem Kriegsrecht zu unterstellen. Die Videos aus jener Nacht, als sich Parlamentarier:innen ihren Weg zurück in den Versammlungssaal erkämpften, unterstützt von Tausenden von Leuten, die sich spontan auf den Strassen einfanden, fügen sich jetzt an die Erinnerungen aus dem Oktober 2018. Sie gehören zu den hoffnungsvollen Bildern, die in der trostlosen Gegenwart den Möglichkeitssinn am Leben halten.

Annette Hug ist Autorin in Zürich und träumt von Korea.