Frankfurter Buchmesse: Philippinische Literatur, gibt es das?

Nr. 41 –

Im deutschsprachigen Raum ist die Literatur des diesjährigen Gastlands an der Buchmesse bisher kaum bekannt. Woran das liegt und weshalb es höchste Zeit ist, philippinische Bücher zu lesen.

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Kinder schauen Bücher an bei einer privaten Gemeindebibliothek in der Stadt Makati bei Manila
Der Zugang zu Büchern ist auf den Philippinen aus wirtschaftlichen und klimatischen Gründen eher schwierig: Private Gemeindebibliothek in der Stadt Makati bei Manila.   Foto: Eloisa Lopez, Reuters

Bereits lange vor der diesjährigen Frankfurter Buchmesse herrschte in der philippinischen Community in und um Deutschland viel Trubel und Vorfreude. Und jetzt, als die Messe immer näher rückt, laufen auch die diversen Chatgruppen aus meinem philippinischen Freundeskreis heiss. Wie jedes Jahr steht die Literatur eines Landes im besonderen Fokus, diesmal sind die Philippinen dran. Erwartet werden viele Besucher:innen, aber auch Autorinnen und Künstler aus den Philippinen selbst wie auch aus der Diaspora. Schon im Vorfeld haben diverse Veranstaltungen in Frankfurt einen Vorgeschmack auf die eigentliche Buchmesse gegeben, und im Anschluss reisen einige der philippinischen Autor:innen, die für die Messe eingeflogen werden, zu kleineren Literaturfestivals im Umland weiter.

So wie manch ein:e Gastgeber:in nach einer Party gerne in Erinnerungen schwelgt, sollen sich wohl auch die Besucher:innen der Buchmesse fühlen. Gute Laune, fröhliche Musik und der Duft von gedämpftem Kokosreiskuchen sollen dann noch in der Luft liegen, wenn die Gäste schon längst wieder gegangen sind. Das Künstler:innenhaus Mousonturm in Frankfurt brachte es mit der Namensgebung seines Festivals (18.–29. September) auf den Punkt: «Sincerly yours, the Philippines». Das klingt fast so, als wollten die Philippinen den Spiess eigentlich umdrehen und Frankfurt willkommen heissen.

Die Autorin, die Buchmesse

Lenny Kaye Bugayong ist in Zürich geboren und aufgewachsen. Sie unterrichtet Tagalog, ist akkreditierte Gerichtsdolmetscherin für Tagalog und hat die Plattformen «Halo-Halo» und «studiyo filipino» mitgegründet, wo sich Menschen aus dem deutschsprachigen Raum zur Kultur der Philippinen austauschen. Sie hat in der Schweiz und auf Hawaii englische Sprach- und Literaturwissenschaft studiert und gibt diesen Herbst das Lesebuch «Alamat. Philippinische Volkserzählungen» (Buske-Verlag) heraus.

Die Frankfurter Buchmesse dauert vom 15. bis 19. Oktober 2025. Lenny Kaye Bugayong empfiehlt folgende Veranstaltungen im Zusammenhang mit dem Gastland Philippinen:

«How Do We Write about Climate Change?», ein Gespräch zwischen einer Dichterin, einer Bürgerrechtlerin und einem Klimaaktivisten auf der Suche nach Möglichkeiten, über die Klimakatastrophe zu schreiben und dabei etwas zu bewirken.

«Sicherheitspolitik und Menschenrechte – Handlungsspielräume in Zeiten von Krieg und Krisen», ein Gespräch mit Friedensnobelpreisträgerin Maria Ressa über den Kampf gegen Repression, Desinformation und digitale Gewalt.

«Das Meer der Aswang», Lesung mit Autor Allan Derain und seiner Übersetzerin Annette Hug, in der er über seine anthropologische Schatzsuche spricht und sie davon, wie man seinen Fund ins Deutsche überträgt.

 

Dass die Philippinen heuer Ehrengast sein würden, stand bereits vor zwei Jahren fest. Im Spätsommer 2023 nahm die dreiköpfige Direktion der Buchmesse am Philippine Book Festival in der philippinischen Stadt Davao teil und verkündete die frohe Botschaft höchstpersönlich. Das muss ein Wagnis gewesen sein, denn Davao ist die einwohnerreichste Stadt von Mindanao, jener Insel, die immer wieder mit Unruhen für Schlagzeilen sorgt. Mit der Entscheidung für die Philippinen tappten die Organisator:innen aber vermutlich auch deshalb etwas im Dunkeln, weil die philippinische Literatur im deutschsprachigen Raum bis dato kaum bekannt ist.

Dass Leser:innen in Ländern wie Deutschland und der Schweiz mit der grössten Wahrscheinlichkeit alle ihnen bekannten philippinischen Titel an einer Hand aufzählen können, wenn ihnen überhaupt einer in den Sinn kommt, liegt wohl einerseits daran, dass sie vermutlich generell nicht besonders viel über das Land berichten könnten. Doch selbst wer bereits einmal auf den Philippinen war, verbindet mit dem diesjährigen Ehrengast wahrscheinlich nicht primär die Literatur.

Das beginnt schon damit, dass es für Leser:innen im deutschsprachigen Raum rein logistisch gar nicht so einfach ist, an philippinische Bücher zu kommen, besonders auch in ihrer Originalfassung. Immerhin: Die Hände von Amazon reichen doch nicht ins Unendliche. Dazu kommen weitere Faktoren. Zum Beispiel werden auf den Philippinen selbst laut dem philippinischen Schriftsteller und Literaturkritiker Ramon ­«Bomen» Guillermo im internationalen Vergleich weniger Bücher gelesen. Wirtschaftliche Gründe, aber auch ungünstige klimatische Bedingungen können dazu führen, dass Schulen, Bibliotheken oder gar Buchhandlungen nicht ausreichend ausgestattet sind. Abgesehen davon, dass oft das Geld fehlt, um grössere Bestände an Büchern anzuschaffen, können auch Naturkatastrophen wie Taifune, Überschwemmungen oder Erdbeben bei Bibliotheken, Archiven und im Lager von Verlagshäusern verheerende Schäden anrichten, die dann wiederum ins Geld gehen.

Über diese praktischen Ursachen hinaus spielen auch (neo)koloniale Strukturen eine Rolle. Wie bereits am genannten Beispiel von Amazon deutlich wird, sind unser Bild der digitalen Revolution und die Idee, dass heute alles per Mausklick verfügbar ist, von unseren Wahrnehmungen im Globalen Norden geprägt. Dass dabei Akteur:innen aus dem Globalen Süden weitreichend ausgeblendet, gar ausgebeutet werden, zeigt, dass sich mit den neusten Technologien altbekannte Strukturen nicht auflösen, sondern lediglich verlagern. Ungleichheiten, zwischen denen, die wahrgenommen werden, und jenen, die in unseren Feeds unsichtbar bleiben, zu erkennen, erfordert heute einen höheren Grad an Vorstellungskraft, aber auch an Empathie.

Die Stars schreiben auf Englisch

Doch fortdauernde koloniale Strukturen machen sich im Fall der philippinischen Literatur auch dadurch bemerkbar, dass Bücher, die in philippinischen Sprachen verfasst sind, kaum im internationalen Bewusstsein sind, weil sie äusserst selten in andere Sprachen übersetzt werden. Die philippinische Professorin Luna Sicat Cleto, die auch Prosa und Lyrik in ihrer Muttersprache Tagalog schreibt, bezeichnete ihre Wahl, in einer philippinischen Sprache zu schreiben, einmal als karrieretechnischen Suizid. Man kann mit Lokalsprachen wie Tagalog (das von manchen bevorzugt «Filipino» genannt wird) zwar bei kleinen Verlagen unterkommen; die heute auf der Weltbühne gefeierten Stars, etwa Gina Apostol oder Miguel Syjuco, schreiben jedoch auf Englisch.* Auch dieses ist nämlich auf den Philippinen Amts- und Bildungssprache und geniesst erst noch grösseres Prestige. In dieser Hinsicht bietet der Gastauftritt immerhin eine Chance: Zahlreiche Werke wurden auf die Frankfurter Buchmesse hin neu herausgegeben oder neu aufgelegt. Etwa dreissig Titel wurden zudem ins Deutsche übersetzt, darunter vier aus dem Tagalog.

Dreht man einen Globus im Uhrzeigersinn, bis Europa verschwindet, taucht der philippinische Archipel am östlichen Rand des asiatischen Kontinents auf. Wer dem Äquator weiter nach Osten folgt, trifft auf die Amerikas. Durch ihre zentrale Lage als Knotenpunkt für Handelsbeziehungen, aber auch in der Schusslinie zwischen verschiedenen Weltmächten, trafen und treffen sich auf den Philippinen somit seit Jahrhunderten Kulturen aus allen Erdteilen. Dank der Werke philippinischer Autor:innen und ihrer Übersetzer:innen erfahren wir, wie es sich anfühlt, diesem ständigen Durchlauf ausgesetzt zu sein. Wie sieht unsere Welt eigentlich «von hinten» aus? Wie entsteht Feminismus in einem von Katholizismus und Schönheitsköniginnen geprägten Land? Und woran können sich Menschen noch festhalten, wenn sich der katholische Glaube, der ihnen aufgebunden wurde, als Bär entpuppt hat? Die Bücher ermöglichen uns auch, reale Geschehnisse aus Sicht der Betroffenen nachzuzeichnen, wie zum Beispiel mit «Dekada ’70» (deutsch: «Die 70er», übersetzt von WOZ-Autorin Annette Hug) von Lualhati Bautista (1945–2023), erstmals 1983 erschienen. Darin beschreibt die Autorin die Existenzangst der philippinischen Mittelklasse während der Herrschaft des Diktators Ferdinand Marcos Sr. und was schliesslich zu dessen Sturz führte.

Was sich im Vorfeld dieser Buchmesse auch gezeigt hat: Was philippinische Literatur überhaupt ist, lässt sich nicht so leicht eingrenzen. Zu den modernen kolonialen Strukturen – wie der Vormundschaft der USA seit Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Einzug des Englischen – kommen frühere koloniale Um- und Missstände seit dem 16. Jahrhundert hinzu, die dazu geführt haben, dass ein bedeutender Teil der frühen philippinischen Literatur nur in mündlicher Form überlebt hat. Vieles, was eigentlich zu ihrer Tradition gehört, kann man also gar nicht nachlesen. Es bleibt uns jedoch mittels der einen oder anderen Redewendung, manchmal auch durch den Volksglauben erhalten, was dann wiederum durch Bilderromane wie «Trese» überliefert wird. Der erste Band des Comics von Budjette Tan und Kajo Baldisimo, in dem es um mythologische Gestalten der philippinischen Unterwelt geht, wurde 2024 von Jens R. Nielsen unter dem Titel «Trese. Mord am Balete Drive» ins Deutsche übersetzt, nachdem das Buch bereits 2021 für Netflix adaptiert worden war.

Schreiben in der Diaspora

Tatsache ist aber auch, dass ein wesentlicher Teil der philippinischen Literatur gar nicht in den Philippinen entsteht. Sie sind eines der Länder mit der grössten Diaspora weltweit; ein gutes Sechstel der geschätzt 115 Millionen Staatsangehörigen leben anderswo. Zu dieser Zahl kommen jene hinzu, die sich zwar als philippinisch verstehen, jedoch in erster, zweiter oder x-ter Generation im Ausland leben und – aus welchen administrativen Gründen auch immer – aus den Statistiken verschwinden. Zählt man die Werke von Candy Gourlay und ihren Jugendroman «Wild Song» – über ein Mädchen, das 1904 in einem Menschenzoo landet – offenbar gemeinhin noch zur philippinischen Literatur dazu, obwohl die Autorin seit Ende der achtziger Jahre in London lebt, ist es bei im Ausland geborenen Literat:innen wie Jia Tolentino aus den USA, Autorin der sozialkritischen Essays «Trick Mirror» (gleicher Titel auf Deutsch), nicht mehr so eindeutig.

Die philippinische Literatur ist so weitläufig, wie man den Begriff definiert. Was zum Kanon gehört, mag von Professor:innen an philippinischen Eliteuniversitäten bestimmt worden sein, die sich meist in oder in der Nähe von Manila befinden. Im Kontext der Buchmesse wurde er aber auch von Kulturbeamt:innen geprägt, die ihren Rang innerhalb eines komplexen kulturpolitischen Systems wahren wollen und deshalb auch wissen, auf wessen Schlips man lieber nicht tritt. Schliesslich ist die Frankfurter Buchmesse aber auch einfach der weltweit grösste Marktplatz für Bücher, auf dem Kreative, Autorinnen, Agenten, Verlage und nicht zuletzt auch Leser:innen gemeinsam aushandeln, was für sie zur philippinischen Literatur gehört. Diese pulsierende Vielfalt zeigt sich nun auch im reichhaltigen Programm dieser Buchmesse und lässt uns schliessen: Philippinische Literatur – ja, die gibt es durchaus.

* Korrigenda vom 10. Oktober 2025: In der Printversion sowie in der ursprünglichen Onlineversion wurde Beverly «Bebang» Siy als Autorin genannt, die ihre Bücher vorwiegend auf Englisch publiziert. Das ist nicht korrekt, Siy schreibt in ihrer Muttersprache Tagalog.