Bosnische Nationalbibliothek: Und dann schaltet sich der Hohe Repräsentant ein
Im Bosnienkrieg Anfang der neunziger Jahre brannte die National- und Universitätsbibliothek in Sarajevo tagelang. Auch heute noch spiegeln sich die politischen Bruchlinien des kleinen Balkanstaats in den Konflikten um die Kulturinstitution.

Vergangenen Herbst hatten die Mitarbeiter:innen der bosnischen National- und Universitätsbibliothek in Sarajevo genug. Wieder einmal hatten sie mehrere Monate lang keinen Lohn erhalten. Zudem war die Bibliothek nach der Pensionierung des langjährigen Direktors ohne Leitung. Sich selbst überlassen, entschieden die 42 Angestellten, die Bibliothek aus Protest für die Öffentlichkeit zu schliessen. Schon Ende August hatten sie das für ein paar Tage getan, dieses Mal blieb die Bibliothek im Oktober und November ganze sechs Wochen zu.
Die Plakate, die die Mitarbeiter:innen bei ihren Demonstrationen im kleinen Park vor der Bibliothek zeigten, verwiesen auch auf die politische Dimension des Konflikts. «Mit der Auslöschung der Nationalbibliothek löscht ihr auch Bosnien und Herzegowina aus», war dort etwa zu lesen. Das mag alarmistisch klingen, hat aber einen wahren Kern. Die Bibliothek ist eine der wenigen Kulturinstitutionen, die Bosnien und Herzegowina im Ganzen repräsentieren. Müsste sie komplett schliessen, wäre dies nicht nur eine Katastrophe für die bosnische Buchkultur. Es würde auch serbischen Nationalist:innen in die Hände spielen, die gesamtstaatliche Institutionen grundsätzlich ablehnen und Bosnien und Herzegowina als Staat infrage stellen. Regelmässig droht etwa Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska – neben der Föderation Bosnien und Herzegowina der zweite Landesteil des Staates – mit Abspaltung.
Einst blühte die Kultur
Im Konflikt um die Nationalbibliothek spiegeln sich so die gesellschaftlichen und politischen Bruchlinien des kleinen Balkanstaats. Ihre achtzigjährige Geschichte ist eng mit der Geschichte Bosniens und insbesondere Sarajevos verwoben. Vielen ist sie ein Symbol für das blühende Kulturleben im Spätsozialismus, aber auch für die Zerstörungen des Krieges und das in bosnische Muslim:innen (Bosniak:innen), bosnische Serb:innen und bosnische Kroat:innen gespaltene Nachkriegsbosnien.
Gegründet wurde die Nationalbibliothek 1945. Ihre Bedeutung zeigte sich auch darin, dass sie von 1951 bis 1992 in einem der repräsentativsten Gebäude im Stadtzentrum untergebracht war, in der Ende des 19. Jahrhunderts unter österreichisch-ungarischer Herrschaft erbauten Vijećnica, dem ehemaligen Rathaus.

Dženana Tuzlak arbeitet seit 29 Jahren in der Nationalbibliothek und ist Leiterin der Bibliografieabteilung. Im Gespräch betont sie, dass es viele Vorteile gehabt habe, Teil des jugoslawischen Bibliothekssystems zu sein, und dass die «goldenen Jahre» der Bibliothek die Achtziger gewesen seien. Damals arbeiteten dort 120 Angestellte. Heute sind es gerade noch 35.
Auch der 2023 verstorbene bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan hatte gute Erinnerungen an die Bibliothek vor dem Krieg. Im Dokumentarfilm «Das Lied der Anderen» des Schweizer Regisseurs Vadim Jendreyko sagt Karahasan in der Vijećnica: «Hier in der Aula durfte man damals rauchen. Die Wände waren viel dunkler, viel weniger gepflegt, aber lebendig. Es lebte, es pulsierte alles. Stellen Sie sich vor: 70, 150 junge Menschen redeten hier, es wimmelte von Geräuschen, Stimmen und von einer Intensität.» Die achtziger Jahre gelten in Sarajevo ganz allgemein als kulturelle Blütezeit, besonders in Musik und Film.
Die Belagerung Sarajevos 1992 beendete diese Ära gewaltvoll. Sie forderte um die 14 000 Todesopfer, insgesamt kamen im Bosnienkrieg rund 100 000 Menschen ums Leben. Auch das kulturelle Erbe des Landes sollte damals gezielt zerstört werden. Die Nationalbibliothek traf es besonders hart. In der Nacht vom 25. auf den 26. August 1992 wurde sie von der Armee der Republika Srpska beschossen und geriet dabei in Brand.
1,5 Millionen verbrannte Bücher
Achtzig bis neunzig Prozent des gesamten Bibliotheksbestands, so die meisten Schätzungen, fielen den Flammen zum Opfer. Davor beherbergte die Bibliothek circa 2,5 Millionen Medieneinheiten: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Noten, Bilder, Handschriften oder auch Karten. Allein 1,5 Millionen Bücher dürften verbrannt sein. Trotz internationaler Bemühungen, den Bestand zumindest teilweise wiederaufzubauen, verfügt die Bibliothek heute nur noch über einen Bruchteil des einstigen Bestands. In eindrücklichen Bildern zeigt «Das Lied der Anderen» den Brand der Bibliothek. «Tagelang flogen verkohlte Blätter durch die Stadt», erinnert sich Karahasan.
Auch bei den Mitarbeiter:innen ist der Krieg noch immer präsent. Dženana Tuzlak etwa wohnte damals in dem für die Olympischen Winterspiele von 1984 erbauten Quartier Dobrinja und arbeitete in der Stadtbibliothek im Zentrum Sarajevos. Die acht Kilometer zur Arbeit musste sie jeweils zu Fuss gehen. Manchmal ging sie bei Granatenbeschuss. Auf dem Rückweg, erinnert sie sich, habe sie über eine Kreuzung immer rennen müssen, weil diese ständig beschossen worden sei.
Auch die noch gut zu erkennenden Einschusslöcher an der ehemaligen Kaserne, in der die Bibliothek seit 1997 untergebracht ist, erinnern an den Krieg. Während der Belagerung wurde die Strasse, an der sie sich befindet, «Sniper Alley» genannt, weil man dort dem Feuer serbischer Heckenschützen ausgeliefert war. Für die Unterbringung der Bibliothek ist das Gebäude nicht geeignet. Insbesondere die Magazinräume sind in einem schlechten Zustand.
Schon seit Jahren fordert die Bibliothek denn auch, in die 2014 wiedereröffnete Vijećnica zurückkehren zu dürfen. Die Stadtverwaltung verweigert das jedoch, sie nutzt das Gebäude stattdessen für feierliche Anlässe, Sitzungen des Stadtrats und vor allem als Tourist:innenattraktion. Karahasan hält davon gar nichts: «Nichts in diesen Räumen erinnert an die Jungen, die hier geträumt haben, sich irgendwas vorgestellt, eingebildet haben. Nichts. Hierher kommen ausschliesslich Touristen, und in einer Welt, in der Tourismus herrscht, ist niemand zu Hause.»
Nationalist:innen stellen sich quer
Die Rückkehr in das alte Gebäude wird zusätzlich dadurch erschwert, dass seit Kriegsende die rechtliche Stellung der Bibliothek nicht geklärt ist. Sie ist keinem gesamtstaatlichen Ministerium unterstellt und verfügt über kein gesichertes Budget. Jedes Jahr aufs Neue muss sie sich um Gelder aus den Mitteln des Kantons Sarajevo und der Föderation Bosnien und Herzegowina bemühen. Verantwortlich dafür sind vor allem Politiker:innen aus der Republika Srpska. Sie blockieren eine politische Lösung nicht nur für die Nationalbibliothek, sondern für insgesamt sieben Kulturinstitutionen von nationaler Bedeutung – darunter auch das bosnische Nationalmuseum, das aus finanziellen Gründen ebenfalls schon mehrmals schliessen musste.
Die serbischen Nationalist:innen versuchen zudem, die Volks- und Universitätsbibliothek der Republika Srpska in Banja Luka als eigene Nationalbibliothek zu installieren. Dabei kommt ihnen zupass, dass sie vor Jahren auf heute nur schwer rekonstruierbare Weise das Recht erhielten, die ISBN-Nummern für in der Republika Srpska publizierte Bücher zu vergeben. Die ISBN-Nummer ist eine internationale Standardnummer, die ein Buch erst eindeutig identifiziert. Weil die Verlage in der Republika Srpska die ISBN-Nummern für ihre Neuerscheinungen von der Bibliothek in Banja Luka beziehen, gelangen viele der dort erschienenen Bücher durch die Abgabe der Pflichtexemplare nur in die Bibliotheken dieses Landesteils – und eben nicht in die Nationalbibliothek in Sarajevo.
Dass sich die Krise der Nationalbibliothek im vergangenen Jahr weiter zuspitzte, lag daran, dass Gelder aus den Mitteln der Föderation nicht mehr für die Löhne der Bibliothekar:innen verwendet werden durften. Der Lohn einer Bibliothekarin mit einem Hochschulstudium in Bibliothekswesen beträgt rund 600 Euro – nicht viel mehr als der Mindestlohn in der Föderation. Monatelang erhielten die Mitarbeiter:innen nun aber gar keinen Lohn. Hinzu kam, dass nach der Pensionierung des umstrittenen Direktors kein Nachfolger bestimmt werden konnte, da der Verwaltungsausschuss schon seit Jahren unbesetzt ist und nur dieser eine neue Direktion bestimmen kann. Die Schliessung der Bibliothek infolge des Streiks hatte nicht nur zur Folge, dass keine Bücher mehr ausgeliehen und die Lesesäle nicht mehr genutzt werden konnten. Die Bibliothek stellte auch keine ISBN-Nummern mehr aus, und somit konnten in der Föderation keine Bücher mehr publiziert werden.
Der Mitarbeiter:innenprotest wurde von vielen Verlegerinnen, Schriftstellern und Wissenschaftlerinnen unterstützt, Medien berichteten ausführlich. Dies mag dazu beigetragen haben, dass der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt, eingriff. Der Hohe Repräsentant vertritt die internationale Gemeinschaft und überwacht die Einhaltung des Dayton-Abkommens, das 1995 den Bosnienkrieg beendete. 2021 hat Schmidt dieses Amt vom Österreicher Valentin Inzko übernommen. Er geniesst weitgehende Vollmachten, mit denen er etwa Gesetze erlassen kann. Das Amt ist umstritten, weil es offensichtlich undemokratisch ist. Zugleich befürchtet man jedoch auch, dass seine Abschaffung zu einer Staatskrise führen könnte.
«Wir arbeiten weiter»
Schmidt hat sich seit seinem Amtsantritt nicht viele Freund:innen gemacht. Für viel Kritik sorgten sein Auftreten und seine Entscheidungen rund um die Wahlen 2022. So änderte er, noch während die Stimmzettel ausgezählt wurden, per Dekret das Wahlrecht. Er sei damit vor allem den Forderungen der kroatischen Nationalist:innen nachgekommen, hiess es damals.
Dass der Hohe Repräsentant mit seinen Befugnissen aber auch festgefahrene Probleme lösen kann, zeigte sich im November. Schmidt hielt kurzfristig eine Pressekonferenz vor der Bibliothek ab und erklärte, dass er nun eine Mitarbeiterin als Vertreterin des Direktors einsetzen werde. Kurze Zeit später erhielt die Bibliothek Gelder, um die ausstehenden Löhne zu bezahlen. Seitdem ist sie wieder geöffnet. Zudem erteilte Schmidt dem Ministerrat Bosnien und Herzegowinas den Auftrag, innerhalb von sechzig Tagen ein Gesetz auszuarbeiten und dem Parlament vorzulegen, das die rechtliche Stellung und die Finanzierung aller sieben Kulturinstitutionen von nationaler Bedeutung klärt. Allerdings ist sein Vorgehen auch hier undurchsichtig. So weiss nicht einmal die derzeit unterschriftsberechtigte Mitarbeiterin selbst, weshalb die Wahl gerade auf sie gefallen ist.
Der Ministerrat wiederum liess die Frist am 21. Januar einfach verstreichen. Sechzig Tage für ein dreissig Jahre altes Problem, das sei doch sehr ambitioniert, sagte ein Mitarbeiter des bosnischen Ministeriums für zivile Angelegenheiten gegenüber Al Jazeera Balkans. Da es auf gesamtstaatlicher Ebene kein Kulturministerium gibt, müsste die Bibliothek am ehesten dem Ministerium für zivile Angelegenheiten unterstellt werden.
Die Zeit für eine Lösung drängt, schon für die Februarlöhne werden die Mittel wohl nicht mehr reichen. Die Hoffnungen richten sich nun erneut auf Christian Schmidt. Es ist wahrscheinlich, dass er in den kommenden Wochen selbst ein Gesetz erlässt. Wie dieses aussehen wird, ist nicht klar. Dženana Tuzlak versichert trotzdem: «Wir arbeiten auch unter diesen schweren Bedingungen weiter.»