Theater: Auf Distanz zum Mars
Sie verbindet Sinnlichkeit mit politischer Analyse: Mit «Herz aus Polyester» gewann Sarah Calörtscher den Kleist-Förderpreis. In Luzern schreibt die Autorin und Musikerin jetzt an ihrem zweiten Theaterstück.

Während die Erde zunehmend von Mikroplastik durchdrungen wird, besiedeln die Menschen mithilfe eines unbekannten Algorithmus den Mars – bis die Erdlinge schliesslich das Herz des Algorithmus fressen. Es ist kein gänzlich hypothetisches Szenario, das Sarah Calörtscher in ihrem ersten Theaterstück, «Herz aus Polyester», entwirft: In wenigen Jahren schon will Elon Musk mit seinem Unternehmen SpaceX auf dem Mars landen, um dort den Abbau von Ressourcen zu testen. Das Vorhaben schreitet so schnell voran, dass kaum mehr Zeit bleibt für die Frage, ob sich tatsächlich der Fortbestand der Menschheit sichern lässt, wenn sie sich zur multiplanetaren Spezies entwickelt.
Nicht mit einem Knall
«Herz aus Polyester» ist 2023 im Dramenprozessor entstanden, dem Förderprogramm des Theaters Winkelwiese in Zürich. Im Herbst 2024 gewann Calörtscher damit den deutschen Kleist-Förderpreis für neue Dramatik, die Uraufführung fand am Deutschen Theater in Berlin statt. Sosehr man «Herz aus Polyester» als spekulativ-poetisches Science-Fiction-Theater begreifen möchte – den Nährboden für ihre Stoffe findet Calörtscher in einer klaren Problemanalyse gesellschaftlicher Verhältnisse. Wenn SpaceX mit einem doppelt so hohen Eigenkapital wie das Jahresbudget des Schweizer Bundeshaushalts an der Kolonisierung des Mars arbeitet, zeigt sich darin auch ein technologischer Machtimperativ. Fortschrittsutopie, Hyperkapitalismus und Umweltzerstörung sind gleichermassen Symptom wie Konsequenz dieses Projekts.
Die Frage, sagt Sarah Calörtscher in ihrem Zürcher Atelier, sei nicht mehr, ob der Planet und seine Gesellschaft sterben würden – sondern wie. Doch der «Doomsday» ist bei ihr kein Knall, keine einschlagende Katastrophe. Über dem sterbenden Planeten schwebt hier ein permanentes Gefühl der Wehmut. Die Autorin zeichnet dieses Gefühl mit Figuren, greifbar und berührend – einen Schritt entfernt von dem immer noch allgegenwärtigen postdramatischen Theater, das sich seit den neunziger Jahren mehr auf die Beziehung zwischen Stück und Publikum als auf die geschriebenen Figuren und deren Beziehungen konzentrierte.
An der Schwelle zwischen Postdramatik und linearem Drama: Vielleicht lässt sich Calörtschers Erfolg auch über diese klare Erzählweise nachvollziehen, die doch auch viel Raum für Unwissen lässt. «Herz aus Polyester» erzählt eine stringente Geschichte, die poetische Sprache trägt in leicht pulsierendem Rhythmus die Handlung. Auf der Suche nach linken Perspektiven scheint die 33-Jährige eine Lücke zwischen Sinnlichkeit und politischer Analyse zu füllen.
Wenn sie spricht, ist es, als höre man ihr beim Denken zu. Calörtscher redet ruhig, ihre Sprache kommt ohne Schlagwörter aus. Immer wieder lässt sie ihre Gedanken abbiegen und formt dabei trotzdem eine beruhigende Genauigkeit. Man spürt ein Interesse an Theorie genauso wie eine Faszination für Details und Mikrokosmen. Einige Bücher liegen auf ihrem Schreibtisch: Arnold van Genneps Standardwerk «Übergangsriten», «Revolution der Verbundenheit» von Franziska Schutzbach und «Wir Untoten des Kapitals» von Raul Zelik.
Zwischen den Künsten
Calörtscher erzählt von einer «Bücherwut» am Anfang ihres Schreibens. Jeder Schreibprozess ist bei ihr in erster Linie eine Recherche, eine lange und ausufernde Suchbewegung, die den Texten vorausgeht: «Je mehr ich lese, desto mehr wird mir bewusst, dass das System, in dem wir jetzt stecken, ein gemachtes ist. Dass es ganz viele Alternativen gegeben hätte.» Sie überlegt kurz, zieht die Ärmel ihres schwarzen Hoodies über die Knöchel. «Je mehr Verknüpfungen ich nachvollziehen kann, desto mehr glaube ich, dass es auch möglich gewesen wäre, daraus auszubrechen.» Diese Möglichkeit skizziert sie in «Herz aus Polyester», wenn die Figuren in Anbetracht einer sterbenden Welt versuchen, nicht in Apathie zu verfallen: Wie lässt sich angesichts der unstillbaren Sehnsucht nach Fortschritt überhaupt ein Ausbruch denken?
Aufgewachsen ist Sarah Calörtscher in Ilanz. Seit dreizehn Jahren lebt sie in Zürich, wo sie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) zuerst Musik- und Bewegungspädagogik studiert und später in die Theaterdramaturgie gewechselt hat. Auch sonst bewegt sie sich als Grenzgängerin zwischen Künsten und Disziplinen: Nach ihrem Abschluss unterrichtet sie eine Weile als Musiklehrerin, daneben schreibt sie und macht Musik im Duo Strange Modes, zusammen mit Mathias Hauser. Auf «Eye Lights Out» (2023), dem ersten Minialbum von Strange Modes, fühlt sich das manchmal an wie ein Flug durch den Kosmos mit genug Gadgets für emotionalen Support. Ein zweites Album soll im September folgen.
Zuvor wird Calörtscher im Sommer in der Sci Art Residency forschen, einem Stipendium des Nationaltheaters Mannheim zusammen mit einem Sonderforschungsbereich zur Quantenphysik. Es wird dort um Methodenentwicklung zwischen der Physik und den Künsten gehen. Derzeit ist Calörtscher aber noch Hausautorin am Theater Luzern, wo sie im Rahmen des «Stück Labors» ihr zweites Theaterstück schreibt: «Die Rückkehr der Fährfrauen*». Es geht um Technologie und Zerfall, Klimatrauer und die Angst vor dem Loslassen – und um das alte Wissen der Sterbende begleitenden Fährfrauen, die ihre einstige Bedeutung als Hüterinnen am Übergang zwischen Leben und Tod verloren haben.
Kann man sterben üben?
Da scheint es nur konsequent, dass das Wissen über das Sterben kapitalisiert wurde. Wie eben im «Happy Dying Retreat», dem Schauplatz des Stücks, wo man das Sterben üben kann. Nur scheinen die Menschen gar kein besonderes Interesse daran zu haben – zu sehr sind sie auf Longevity aus, also darauf, ihr Leben zu verlängern. Eine junge Filmregisseurin und ein Schauspieler sind auf der Suche nach Erfüllung, es gibt einen Podcast zweier Untoter, später tritt eine Insekten- und Reptilienforscherin auf und wird von einer ausgestorbenen Froschart erzählen. So versuchen die Figuren alle auf ihre eigene Art, an ihrer Existenz festzuhalten. Doch das Leben entgleitet ihnen längst, sie befinden sich in einem Transitbereich.
Die erste Leseprobe auf der Luzerner Probebühne gestaltet sich überraschend leichtfüssig, die Figuren erscheinen fast grotesk, es wird immer wieder gelacht. Die fünf Schauspieler:innen lesen aus den ersten elf Seiten des Textes, die sie vor sich liegen haben. Deutlich zeichnet sich dabei ab, dass hier keine Moral mahnt, nichts wirkt überheblich. Der Text solle auf keinen Fall schwer wirken, sagt die Autorin.
Erdlinge, Marsmenschen, Fährfrauen, der Schauspieler, die Insektenforscherin: Sie alle erscheinen stellvertretend für ihre eigenen kleinen Welten. Ihre Sehnsüchte holen sie gerade deswegen ein, weil sie ihnen zu entkommen versuchen. In diesen Bewegungen entwickelt Calörtscher eine sanfte Klarheit. Was sie dabei zärtlich und doch konkret enthüllt, sind Ideologien und Begehren einer rastlos optimierten Gesellschaft.
«Herz aus Polyester» ist weiterhin am Deutschen Theater in Berlin zu sehen.
Strange Modes: strangemodes.bandcamp.com