Margaret Atwood: Mehr als spekulative Fiktionen

Nr. 40 –

So radikal wie die kanadische Autorin Margaret Atwood in ihren Büchern dystopische Welten entwirft, so engagiert politisiert sie im Alltag für eine bessere Welt. Dafür wird ihr an der Frankfurter Buchmesse der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen.

Seit dem 4. Oktober ist die US-amerikanische Erfolgsserie «The Handmaid’s Tale» auch im deutschsprachigen Raum zu sehen, wenn auch nur auf einem Streamingdienst. Als «beste Dramaserie» räumte die Geschichte der Magd Offred, die aus der fiktiven totalitären Republik Gilead erzählt, gleich fünf Emmys ab. Die Vorlage lieferte der bereits 1985 erschienene gleichnamige Roman («Der Report der Magd», 1987) der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood. Volker Schlöndorff verfilmte ihn 1990 unter dem Titel «Die Geschichte der Dienerin».

Es handelt sich um die düstere Vision einer religiös inspirierten Überwachungsgesellschaft, in der die Mägde unter Applaus aller übrigen Frauen zu Gebärmaschinen umfunktioniert werden. In den USA ist die Serie so populär, dass bei den Anti-Trump-Demonstrationen Spruchbänder hochgehalten wurden mit der Aufschrift: «Make Margaret Atwood fiction again», womit ausgedrückt werden sollte, dass Donald Trump die Erfüllung des bösen Omens in Atwoods Roman sei. Atwood, die in Toronto selbst an einer Demonstration der «Women’s March»-Bewegung teilgenommen hat, stellt allerdings klar, dass Trump kein religiöser Fundamentalist sei, was es umso schwieriger mache, ihn zu bekämpfen. «Mein Lieblingsschild», sagte sie in einem Interview, «war das einer Frau von Mitte siebzig: ‹After 60 years I am still holding the same fucking sign›» (Nach sechzig Jahren halte ich immer noch dasselbe verdammte Schild). Für die Menschen habe die Wahl Trumps wie ein Weckruf gewirkt.

Tochter eines Insektenforschers

Eine «Ruferin» ist auch Margaret Atwood, die neben zahlreichen Romanen auch Gedicht- und Erzählungsbände, Essays, Kinderbücher und Comics veröffentlicht hat. Neben ihrem umfangreichen Werk war es nicht zuletzt ihr gesellschaftspolitisches Engagement, das die Jury des Deutschen Börsenvereins veranlasste, sie für den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu nominieren. Atwood habe als eine «der bedeutendsten Erzählerinnen» in ihrem Werk immer wieder «politisches Gespür» und «Hellhörigkeit für gefährliche unterschwellige Entwicklungen» bewiesen und in ihren dystopischen Romanen gezeigt, «wie leicht vermeintliche Normalität ins Unmenschliche kippen kann».

Die Entscheidung stiess nicht überall auf begeisterte Aufnahme. Vielleicht, weil die Autorin, die im November ihren 78. Geburtstag feiert, gerne vom literarischen Olymp in die sozialen Niederungen herabsteigt: dorthin, wo Menschen ausgebeutet und diskriminiert werden, wo die Natur gefährdet ist und Katastrophen aller Art drohen. Atwood nimmt nicht nur an Demonstrationen teil, sondern engagiert sich auch für den Erhalt des Regenwalds und kämpft gegen die Plastikverschmutzung der Weltmeere. Trumps geplanter Austritt aus dem Klimaschutzabkommen und seine rücksichtslose, industriefreundliche Wachstumspolitik bringen sie auf die Palme. Zusammen mit der Initiative «Trump Forest» skandalisiert sie beispielsweise auf Twitter, dass dieser Strategie 739 500 Bäume in den USA zum Opfer fallen werden. Mit der Natur kennt sich Atwood aus: Als Tochter eines Insektenforschers hat sie ihre Kindheit in den Wäldern Kanadas in einem Blockhaus verbracht und ist mit dem sensiblen ökologischen Gleichgewicht vertraut.

Ihre mittlerweile in fünfzehn Romanen vorgestellten Dystopien will sie nicht als spekulative Fiktionen verstanden wissen. Es ist kein Zufall, dass feministische Themen darin ihren festen Platz haben. Denn der Feminismus ist ein Querschnittsthema, das bei Atwood überall hineinspielt. Sie hat beobachtet, wie sich in den neunziger Jahren viele junge Frauen vom Feminismus abwandten, weil sie das, was die Vorgängerinnengeneration erkämpft hatte, für selbstverständlich nahmen. Nun müssen sie feststellen, dass diese Errungenschaften schnell wieder zur Disposition stehen können. An schwesternübergreifende Solidarität glaubt Atwood, wie gerade «Der Report der Magd» zeigt, dennoch nicht unbedingt. Vielleicht schon eher an eine Solidarität der Klone und Mischwesen aus der Welt der «Craker», wie sie in der «MaddAddam»-Trilogie («Oryx und Crake», «Das Jahr der Flut», «Die Geschichte von Zeb») in Erscheinung treten.

Die darin vorgeführte Experimentalanordnung zeigt aggressionsgereinigte Figuren in denaturierten Umgebungen und ultimativen Überlebensgemeinschaften, deren Miteinander ständig durch äussere Widrigkeiten und innere Gefährdungen auf die Probe gestellt wird. Dass die Autorin dabei gelegentlich einem sehr christlich konnotierten Schöpfungsmythos aufsitzt, schmälert die Radikalität ihrer Versuche nicht. Atwood, die einmal Automechanikerin werden wollte und eine grosse Tüftlerin ist, kann sich für technische Errungenschaften so sehr begeistern, dass es schon fast wieder befremdet. Etwa, wenn man ihr auf Twitter in Hochleistungslabors folgt, wo künstliche Nahrungsmittel oder Leder erzeugt werden. Und sie darüber spekulieren hört, dass, sobald die Lebensmittelversorgung schwieriger werde, ein Aufstand gegen die Regierung drohe. «Und je nachdem, wie dieser Aufstand ausgeht, wird es danach völlige Anarchie geben oder aber ein totalitäres Regime.» Sie verfolgt solche Entwicklungen genau, auch über den Rechtsruck in Deutschland ist auf ihrem Twitter-Account zu lesen.

In 97 Jahren zu veröffentlichen

Bei allem Engagement ist Margaret Atwood eine extrem fleissige Autorin. Allein im vergangenen Jahr sind drei Bücher von ihr auf Deutsch erschienen. Im Erzählband «Die steinerne Matratze» legt sie böse und mit bissigem Humor Rechenschaft über die Bedrängnisse des Alters ab. Die Romane «Hexensaat» und «Das Herz kommt zuletzt» haben zwar beide ein Gefängnis als Schauplatz, könnten aber unterschiedlicher nicht sein. Bei «Hexensaat» handelt es sich um eine eigenwillige Adaption von William Shakespeares «Sturm». Ein von einem Konkurrenten ausgebooteter Theaterregisseur sinnt wie Prospero auf Rache und studiert mit den Insassen eines Gefängnisses das Shakespeare-Stück neu ein. Aufgeführt wird sozusagen ein Stück im Stück mit einer auf die Kunst, aber auch auf die Kunstproduktion fokussierten zweiten Ebene: ein Buch, das so gefangen nimmt, dass man sofort seinen alten Shakespeare aus dem Regal zieht.

In «Das Herz kommt zuletzt» fungiert das Gefängnis als Fluchtort vor einer von Banden und Katastrophen bedrohten Aussenwelt. Stan und Charmaine wird ein hübsches Einfamilienhaus zur Verfügung gestellt – wenn sie sich verpflichten, jeden zweiten Monat im Knast zu verbringen. Im Gefängnis, lernen sie, herrscht eine Freiheit, die es sonst nirgendwo mehr gibt.

Einen vierten Roman hat Atwood übrigens in einer einzigen Kopie einem norwegischen Verlag überlassen, der ihn in 97 Jahren zusammen mit Texten vieler anderer AutorInnen veröffentlichen will. Die Idee könnte aus dem Fantasiearsenal Atwoods stammen. Denn auch die Craker üben sich in Aufschreibsystemen, Erinnerungskultur und der Kunst der Flaschenpost.

Bei allen Untergangsszenarien, die Atwood in ihren Büchern entwirft, weiss sie zwischen Fiktion und Realität doch deutlich zu unterscheiden. Gilead im «Report der Magd» ist eben kein unmittelbarer Wiedergänger von Trump-Land. Dennoch nimmt sie Leute wie Trump oder Vizepräsident Mike Pence beim Wort – etwa wenn diese das Abtreibungsverbot umsetzen wollen. Trumps Fake-News-Obsession lenke nur von dem ab, was er eigentlich wolle.

Donald Trump würde Margaret Atwoods Romane sicher als Höhepunkt dessen bezeichnen, was er «Fake News» nennt. Denn das Entziffern von Literatur ist eine hehre Kunst. Solange es überlebende LeserInnen gibt, die sie beherrschen wie die Craker, besteht noch ein bisschen Hoffnung.

Frankfurter Buchmesse : Französischsprachige AutorInnen

Nicht die Literatur aus Frankreich stehe im Zentrum an der Frankfurter Buchmesse vom 11. bis am 15. Oktober, sondern die Literatur in französischer Sprache. So Paul de Sinety, der den Auftritt des diesjährigen Gastlands Frankreich an der Buchmesse koordiniert, in einem Radiointerview. Stolz wies er darauf hin, dass rund 130 französisch sprechende SchriftstellerInnen aus Afrika, Asien, dem Maghreb oder aus Amerika an der Buchmesse anwesend sein würden.

Man könnte nun spekulieren, dass in Frankfurt vielleicht rege Diskussionen stattfinden, die der Frage nachgehen, warum auf so vielen Kontinenten denn überhaupt französisch gesprochen wird. Mehr noch, dass es vielleicht sogar im offiziellen französischen Pavillon zu Debatten über Frankreichs koloniale Vergangenheit und Gegenwart kommen könnte. Doch danach sieht es nicht aus. Die Themen im Gästepavillon, in dem sich jedes Jahr das eingeladene Gastland präsentiert, kreisen um drei unverfängliche Schlagworte: die Werte der Gastfreundschaft, die Vielfalt der französischsprachigen Literatur, die Förderung der Jugend. Kaum anzunehmen, dass daraus eine Diskussion entsteht, wie wenig gastfreundlich Frankreich mit den Kindern aus den ehemaligen Kolonien umgeht oder mit welch subversiver Sprachmacht diese zurückschlagen.

Der Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler Wajdi Mouawad jedenfalls hat die Werte der französischen Gastfreundschaft am eigenen Leib erlebt: Als Jugendlicher kam er mit seiner Familie aus dem Libanon nach Frankreich. Ohne die erhoffte Aufenthaltsgenehmigung mussten sie Frankreich jedoch bald wieder verlassen und zogen nach Kanada weiter. Heute ist der 49-Jährige international bekannt, sein 2003 verfasstes Theaterstück «Incendies» («Verbrennungen») wurde 2010 von Dennis Villeneuve unter demselben Titel verfilmt und für den Oscar nominiert.

Damals hat Frankreich Mouawad nicht im Land gewollt. Doch nun schmückt sich die Nation gerne mit dem international renommierten Autor: Wajdi Mouawad, der seit letztem Jahr das Théâtre national de la Colline in Paris leitet, wird die Eröffnungsrede an der Buchmesse halten.

Silvia Süess