Biografie: Von wegen grosser Kladderadatsch

Nr. 11 –

Marx marxistisch kritisieren: Eduard Bernstein zählt zu den bedeutendsten Figuren in der Geschichte der Sozialdemokratie. Nun liegt eine monumentale Biografie des Sozialisten vor.

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historisches Foto von 1929: Sozialdemokrat Eduard Bernstein unterwegs auf der Strasse
«Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles»: Der Sozialdemokrat Eduard Bernstein (hier 1929) wollte der Arbeiter:innenbewegung den Utopismus austreiben. Foto: AKG-Images

Eduard Bernstein war eine zentrale Figur im «Revisionismusstreit», der Ende des 19. Jahrhunderts die sozialistische Bewegung in Atem hielt. Von der jungen Rosa Luxemburg wurde er heftig attackiert. Zugleich war er aber noch viel mehr und auch ganz anders, als ihn seine zahlreichen Gegner bis heute sehen. Der Historiker Klaus Leesch hat kürzlich eine umfangreiche Biografie Bernsteins vorgelegt, die manche Legende richtigstellt – in zwei Bänden und auf fast 1800 Seiten.

Für seine Darstellung hat er die Bernstein-Nachlässe in Amsterdam, Moskau und Berlin durchforstet. Bernsteins Werdegang und die Stationen seines langen Lebens – er wurde 82 Jahre alt – werden beleuchtet. Leesch lässt buchstäblich nichts aus, jedes biografische Detail wird mit Belegen erörtert, was mitunter den Fluss der Darstellung stört.

Der 1850 geborene Bernstein hat nie studiert, eine Zeit lang arbeitete er in einer Bank, bevor er als Journalist dank Fleiss, Talent und enormer Belesenheit zu einem der führenden Intellektuellen der Sozialdemokratie wurde. Ein «richtiger» Politiker wurde er trotzdem nie, Parlamentarier war er nur einige Jahre als Abgeordneter im Reichstag.

Im Zürcher Zentralhof

Als Sozialdemokrat verfolgt, hat Bernstein zehn Jahre lang in der Schweiz gelebt – die längste Zeit davon in Zürich (im Zentralhof). Auf Druck der deutschen Regierung wurde er dann 1888 ausgewiesen und ging mit seiner Familie nach London. Dort wurde Friedrich Engels sein Freund und Mentor, der viel vom «grossartigen Burschen» hielt.

Seinen Nachruhm verdankt Bernstein dem Streit um seine Thesen zu Lage und Entwicklung der Sozialdemokratie, die er ab 1897 in der Parteipresse verbreitete und 1899 in Buchform vorlegte. Obwohl er das «marxistische» Erfurter SPD-Programm von 1891 für revisionsbedürftig hielt, hat er sich den Stiefel des «Revisionisten» nie ganz angezogen. Bis zuletzt begriff er sich als Marxist, auch wenn er viele marxsche Theorien für unfertig oder unklar hielt.

Bernstein war überzeugt: Um auf Grundlage der marxschen Theorie weiterzuarbeiten, müsse man sich zu Marx und zu Engels kritisch verhalten. Marx gelte es marxistisch zu kritisieren und – wo nötig – auch zu berichtigen. So sah das auch sein Freund Karl Kautsky. Für diesen war Bernstein einer der Kirchenväter des Marxismus: Immerhin hatte Engels ihn und August Bebel zum Nachlassverwalter der marxschen Manuskripte erkoren.

In einer autobiografischen Skizze schrieb Bernstein, dass er die Grundgedanken des Marxismus nach wie vor für richtig halte. Zugleich aber habe er versucht, der sozialistischen Bewegung den Utopismus auszutreiben, etwa den Glauben an den bevorstehenden Zusammenbruch des Kapitalismus. Dass dieser bis heute in der Linken verbreitet ist, macht Bernsteins ungebrochene Aktualität aus.

Die Prosperitätsphase, die nach dem Ende der grossen Depression 1895 begonnen hatte, liess ihm zufolge nämlich keinen baldigen «Kladderadatsch» erwarten. Bebel und Kautsky waren darüber nicht erfreut, weil Bernstein so die Taktik der Fundamentalopposition infrage stellte und sogar für eine Zusammenarbeit mit den Liberalen plädierte. Bernstein ging auch anderen Glaubenssätzen des Marxismus ans Leder, etwa hinsichtlich der Widersprüche der Werttheorie. Die politische Ökonomie ist allerdings nicht Leeschs Sache, er verlässt sich auf einige wenige Stimmen aus der Sekundärliteratur und geht auf vieles nur am Rand ein.

Vordenker der Einheit Europas

Im Ersten Weltkrieg spielte Bernstein eine wichtige Rolle in der Organisation des Widerstands der SPD gegen die Kriegskredite. Ihm ist es auch zu verdanken, dass die Dokumente zum Kriegsausbruch, die zumindest eine Mitschuld der deutschen Regierung belegten, nach 1918 veröffentlicht wurden. 1921 war er einer der Hauptautoren des neuen «Görlitzer Programms» der SPD, in dem erstmals von den «Vereinigten Staaten von Europa» die Rede war.

Bernstein war vielseitig und hat auch bemerkenswerte historische Studien hinterlassen, etwa seine Geschichte der Deutschen Revolution. Dazu kommen Dutzende von Broschüren zu theoretischen und politischen Fragen wie auch zahllose Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Sein Projekt, eine Engels-Biografie zu schreiben, hat er leider nie verwirklicht. Eine Gesamtausgabe seiner Schriften gibt es bis heute nicht. Sie würde mindestens 25 Bände umfassen.

In den siebziger Jahren gab es eine kurze Bernstein-Renaissance in der Sozialdemokratie. Es war ein Versuch, ihn gegen den Marxismus-Leninismus in Stellung zu bringen: Bernstein hielt die Oktoberrevolution für gescheitert, den Leninismus für eine Ansammlung von Schlagworten, die sowjetische Gewaltherrschaft für ein Unglück. Leeschs Biografie erinnert nun auch an die vielen weiteren Facetten seines Denkens und Wirkens – die Facetten eines Mannes, der eben weit mehr war als bloss der Vater des Revisionismus.

Buchcover von «Eduard Bernstein (1850–1932). Leben und Werk»
Klaus Leesch: «Eduard Bernstein (1850–1932). Leben und Werk». 2 Bände. Campus Verlag. Frankfurt am Main 2024. 1788 Seiten.