Von oben herab: Die Erledigung der Kindheit

Nr. 11 –

Stefan Gärtner hat den neuen Migros-Spot gesehen

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Ich weiss ja nicht, wie viele von meinen Jahrhundertgedanken das Jahrhundert (oder auch nur die nächste Woche) überdauern werden, aber dieser hier ist doch wirklich hübsch: dass Aldi, wenigstens phänomenologisch, die Blaupause eines künftigen sozialistischen Supermarkts ist. Jedes Produkt gibt es allenfalls zwei (statt zwanzig) Mal, die Produkte tragen unverhohlen ausgedachte Quatschnamen («Knusperone»), die den kapitalistischen Werbezwang geradezu karikieren, und man kann alles bedenkenlos einpacken, weil sich Preisvergleiche erübrigen. Der Slogan «Gutes für alle» wäre dann einer, den die DDR sich mal hätte abschauen sollen, vielleicht gäbe es sie dann noch.

Der Slogan der Migros dagegen lautet «Sparen im grossen Stil», und da wird es gleich falsch, und damit wir nicht zweifeln müssen, was daran falsch ist, lässt es der Werbespot (bei Youtube unter «Migros Produkte») auf Uneindeutigkeit erst gar nicht ankommen. Allora: Ein Bub kriegt von der Mama Einkaufsgeld. Vor dem Migros-Regal mit den Taschentüchern kommt ihm ein Gedanke: Statt das Markenprodukt kaufe ich die günstige Hausmarke, und da die Taschentücher daheim eh in der Zierbox landen, merkt es niemand, und das gesparte Geld kommt in meine Schublade.

Wie jede gute Geschäftsidee, die hier hälftig daraus besteht, die Mama übers Ohr zu hauen, wird sie sogleich grösser, denn so lässt sich auch mit den anderen Produkten aus dem reichhaltigen Migros-Sortiment verfahren, und die Kinder aus der Nachbarschaft sind natürlich gern dabei: Billig einkaufen, teurer verkaufen, so geht Marktwirtschaft, und also träumt unser Junge von Gel im Haar und einem Zwischenhandelsimperium, das nicht mehr nur ein paar Rappen, sondern so viele Scheine abwirft, dass es eine Geldzählmaschine braucht und die brillantenbesetzte Veloklingel längst nicht das Ende, sondern erst der Anfang ist.

Vorm Schlafengehen liest der Bub dann «The Basics of Moneymaking», bis ers vor der Mama unter der Bettdecke versteckt, denn die Alten glauben ja noch, Kindheit sei etwas, was eher mit Fussballspielen und Schmutzig-Making zu tun habe. Wie schrecklich weit gefehlt! «Kindheit» ist ja sowieso eine vergleichsweise junge Erfindung, denn bis in die Neuzeit hinein waren Kinder ganz einfach kleine Erwachsene, und da die Welt sich ja auch sonst Richtung Mittelalter zurückentwickelt, können wir es auch gleich offiziell gut finden, wenn der Nachwuchs sich mehr für BWL als für Boygroups interessiert und nicht vom entscheidenden Tor bei der Fussballmeisterschaft träumt, sondern von coolen Sonnenbrillen und ausschweifenden Orangensaftpartys.

Eigentlich schon wieder schön, wenn wir die Wahrheit gesagt kriegen, und die FDP-Mutter aus dem Kindergarten, die ihre Tochter jetzt, ohne weiteren Grund, ein Jahr früher einschulen lässt, weil sie dem Kindergarten mangelnden Fördereinsatz vorwirft – schliesslich liest auch der Neunjährige im Spot schon englische Wirtschaftsbücher! –, würde das Migros-Filmchen vermutlich so «witzig» finden wie der allgemeine Youtube-Kommentar («Super!!!»).

Da lachen wir gern mit, denn «Sparen im grossen Stil» meint nicht etwa, dass wir im grossen Stil fossile Brennstoffe sparen oder Flächen für Hallen, in denen dann der Unsinn lagert, den wir kaufen, weil wir bei der Migros im grossen Stil gespart haben – nein. Wir tun einfach alles im grossen Stil, und wenn die Welt dann im grossen Stil zugrunde geht, dann wenigstens mit Stil, falls die Zierbox für die Taschentücher nicht sein gerades Gegenteil ist.

Übrigens wissen wir natürlich, dass auch Aldi im grossen Stil spart, etwa bei den Beschäftigten und den Zulieferinnen aus der Landwirtschaft, damit Eigner und Management die teuren Sonnenbrillen kaufen können. Noch wer spart, macht also alles falsch. Ausnahme freilich: solche Spots. Die lassen sich, ich bitte, sparen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.