Theater: Offene Visiere

Zunächst sitzt «der Verdingte» (Urs Bihler) auf einer Schräge im Hintergrund der weissen, steril gehaltenen Bühne, als würde ihn das alles nicht betreffen. Dabei ist es im Grunde seine Geschichte, um die es an diesem Abend geht. Weil aber «die Männer in dieser Familie nicht reden», ist es seine Enkeltochter (Anja Andersen Rüegg), die das Schweigen bricht und in die Abgründe familiärer Traumata schaut.
Im Dramenprozessor, dem Förderprogramm des Theaters Winkelwiese, entstanden, kommt das Stück der Freiburger Autorin Anaïs Clerc auch hier zur Uraufführung. Regie führt Melanie Durrer, und auch sonst ist es ein junges, weibliches Team, das diese Auseinandersetzung inszeniert, die es nie gab. Die Möglichkeit, mit «dem Grössten» über sein Aufwachsen als Verdingter zu sprechen, ist passé. Leberschaden, wie «der Mittlere» (Urs Jucker) gleich zu Beginn «der Kleinsten» am Telefon mitteilt. Praktisch, dass wir im Theater sind: Bühne frei für eine Aussprache, wie sie hätte aussehen können.
Einfach sind die Themen nicht. Der Grossvater, der entwurzelt und «in allerschönsten Lederschuhen» zurückgepflanzt wird. Der darüber nicht spricht, auch nicht über den Übergriff des Pfarrers. Genauso wenig wie sein Sohn, der sich abmüht, damit es die eigene Tochter besser hat. Die dann weggeht, um Schauspiel zu studieren, ihrerseits Übergriffe erlebt und von ihrem Vater vielleicht etwas anderes gebraucht hätte als die Rolex zum Schulabschluss. «Einfach mal glücklich sein»: Auch nicht einfach am Ende einer Genealogie von Verletzungen.
Zunächst scheint es, als hätten die drei nicht mehr gemein als drei Generationen knielanger Shorts und die Clogs, die nach Designerschuhen aussehen, eigentlich aber ländlichen Ursprungs sind. Dabei betrifft er sie doch, der Kummer der anderen, ragt hinein in ihre Leben. Der Vorteil einer erdachten Aussprache gegenüber Familienzwisten, wie sie irgendwie jede:r kennt: etwas weniger Shitshow, dafür offene Visiere, aus denen sogar Entschuldigungen hinauspurzeln. Ein Theaterbesuch, der zum Gespräch einlädt – mehrgenerationaler Besuch empfohlen.