Autorinnen in Afghanistan (1): «Wir bedecken unsere Haare und feilschen einfach weiter»

Nr. 13 –

Die Gehilfen der Taliban patrouillieren, Jeans gibt es immer weniger. Trotzdem ist der Basar für eine Frau im Rollstuhl der freiste Ort in Afghanistan. Um sich zu schützen, erzählt die Autorin dieses Textes anonym.

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Illustration von Noémie Fatio: Schmuck, Büstenhalter, Lippenstifte, Kleider und Parfümflakons

Ich nenne mich Lajward, bin 29 Jahre alt und habe Muskeldystrophie. Lajward ist nicht mein echter Name. Wenn man über die Situation von Frauen in Afghanistan schreibt, wird das von den Taliban schnell als Kooperation mit dem Ausland und als Spionage gewertet. Es ist also zu gefährlich, meinen Namen zu nennen. Ich schreibe trotzdem darüber, weil ich möchte, dass die Welt erfährt, wie eine junge Frau wie ich in diesem Teil der Welt lebt.

Ich lebe mit meinen Eltern, meinen fünf Brüdern und meiner Schwester zusammen. Seitdem die Ärzte bei mir Muskeldystrophie diagnostiziert haben, schmelze ich jeden Tag ein wenig – wie ein Schneemann. Von morgens, wenn mich ein Familienmitglied aus dem Bett in den Rollstuhl hebt, bis abends, wenn es zurück ins Bett geht, schaue ich aus dem Fenster in die Bäume auf unserem Hof.

Als Kind habe ich ganz normal die Schule besucht und bin so lange zu Fuss dorthin gegangen, bis ich mich irgendwann nur noch in einem Rollstuhl fortbewegen konnte. Irgendwann hat eine Hilfsorganisation eine Rampe in unserer Schule installiert, sodass ich wenigstens weiter lernen konnte. Nur ist das eben nicht überall so. In Afghanistan gibt es keine barrierefreien Orte. Deswegen denke ich immer zuerst an Treppen. Als ich neben meinem regulären Unterricht noch Fremdsprachen lernen wollte, hiess es: «Wenn dich jemand die Treppen hoch ins Klassenzimmer trägt, kannst du kommen.» Meine Klassenkameraden wollten das aber nicht, und so musste ich zu Hause bleiben.

Irgendwann wurde der Rollstuhl so sehr zu einem Teil von mir, dass es sich anfühlt, als würde ich berührt, wenn jemand den Fuss auf einen Reifen setzt. In der Schule und der Universität wurde ich immer angeschaut, als ob ein Mädchen im Rollstuhl vor allem Hilfe und Mitleid bräuchte, und auch die Lehrpersonen hatten anscheinend nicht verstanden, dass mein Körper und mein Geist voneinander getrennt funktionieren. In manchen Bereichen bin ich talentierter, in anderen weniger, so wie gesunde Menschen eben auch. Als ich einmal Klassenbeste war, sagte ein Lehrer, ich hätte grosses Glück gehabt. Dabei war es harte Arbeit und kein Glück.


Bevor die Taliban erneut an die Macht kamen, habe ich ein Jurastudium abgeschlossen und erste literarische Texte im Ausland veröffentlicht. Ich schreibe zwar immer noch, aber ich fühle mich damit nicht mehr sicher. Ich äussere mich auch in den sozialen Medien nicht mehr. In einer Zeit, in der schon gesunde Menschen in ihren Rechten eingeschränkt werden, ist es so kaum noch möglich, auf die Rechte von Menschen mit Beeinträchtigung aufmerksam zu machen.

Es interessiert niemanden, dass ich noch nie eine Physiotherapie hatte und vom ständigen Zuhausesitzen depressiv werde. Es interessiert niemanden, wie gross die Belastung für mich ist, meiner Familie durch meine Erkrankung und mein Frausein so hohe Kosten zu verursachen, und wie belastend es für meine Familie ist, oft nicht in der Lage zu sein, mir medizinische Hilfe zu leisten.

Bis vor drei Jahren bin ich noch regelmässig in das Behandlungszentrum des Roten Kreuzes gegangen, aber auch das ist mir nun verwehrt. Wenn ich unter grosser Mühe zur Gynäkologin gehe, fragt sie meine Mutter, ob ich verheiratet sei, und die Frauen im Wartezimmer fragen mich mit ihren Blicken, was um alles in der Welt ich dort wolle. Mich macht das wütend, denn auch unverheiratete Frauen müssen zur Gynäkologin.

Es existiert nur ein Ort, an dem meine Beeinträchtigung nach wie vor keine Rolle spielt: der Basar. Deswegen liebe ich es, den Basar zu besuchen, auch wenn ich, anders als mein jüngerer Bruder, der mich begleitet, dauernd über den Tisch gezogen werde. Die bunten, meist in Indien produzierten Kleider hängen an Schaufensterpuppen, deren Gesichter mit schwarzen Tüchern verdeckt sind, wenn sie überhaupt noch einen Kopf haben. Es gibt jetzt immer mehr längere Kleider und weniger Jeans, vor allem weniger Röhrenjeans, die bei den gut ausgebildeten Mädchen besonders beliebt sind; aber es gibt sie noch, und die Mädchen tragen sie unter ihren schwarzen Umhängen. Es gibt Halsketten, Ohrringe, Ringe, Armbänder, Parfüms, Haarpflegeprodukte und BHs in sämtlichen Farben, und es gibt Kosmetika, die von Influencerinnen auf Youtube oder Instagram beworben werden. Allerdings beklagen viele Verkäufer, sie hätten nach der Machtübernahme der Taliban ihre Stammkundschaft verloren, und auch die Verkäuferinnen werden immer weniger.

Seit einiger Zeit laufen auf dem Basar nun auch Gehilfen der Taliban herum, die uns Frauen darauf hinweisen, unser Haar ordentlich zu bedecken, wenn uns eine Strähne unter dem Schleier herausgerutscht ist. So richtig Angst haben wir vor diesen Typen aber nicht, auch wenn sie sich manchmal das Recht herausnehmen, Frauen einzusperren. Wir machen uns über ihre Anweisungen lustig, bedecken unsere Haare und feilschen einfach weiter.

Nach Herzenslust auf dem Basar einkaufen zu gehen, ist nicht nur für mich eines der Vergnügen, die uns unter den schwierigen Bedingungen noch geblieben sind. Manchmal befürchte ich, dass uns auch dieses Recht nicht mehr lange erhalten bleiben könnte. Das Recht auf meine Arbeit habe ich bereits verloren. Dabei hatte ich eine. Ich nenne sie nicht, um mich nicht weiter zu erkennen zu geben.


Vor der erneuten Talibanherrschaft war es für Frauen mit körperlichen Einschränkungen auch schon schwierig, eine Arbeit zu finden, selbst wenn sie ein Universitätsstudium und Begabungen hatten wie ich, jetzt ist es unmöglich. Damals lag das vor allem an mangelnden Transportmöglichkeiten und Vorurteilen, jetzt verschlechtert sich die Lage für Frauen mit körperlichen Beein­trächtigungen wegen der sich ständig verschärfenden Vorschriften und Einschränkungen in Bezug auf Kleidung, Bildung und Berufstätigkeit immer weiter. Ausnahmen für uns gibt es noch weniger.

Aufgrund der körperlichen Versehrtheit – sei es krankheits- oder kriegsbe­dingt – sind viele Frauen in meiner Situation finanziell nun komplett abhängig. Sozial­leistungen gibt es nicht, und so müssen wir bei unseren Eltern oder Brüdern leben. Die im ganzen Land grassierende Armut trifft Frauen und Kinder sowieso schon besonders hart. Sind sie dann noch körperlich beeinträchtigt, trifft es sie doppelt. So fühlen wir uns nur noch als Last und verlieren unseren Lebensmut.

Frauen, die sich für unsere Rechte engagiert haben, dürfen das nicht mehr. Während des Krieges erhielten Frauen mit Beeinträchtigung eine Unterstützung von Hilfsorganisationen. Da Afghanistan inzwischen aber nicht mehr als Kriegsgebiet gilt, fällt auch das weg, ungeachtet dessen, dass Frauen durch den Krieg versehrt wurden und beeinträchtigt bleiben.

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass eine Frau wie ich unabhängig von ihrer Familie leben kann und keine Belastung darstellt. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft uns gegenüber aufgeschlossen ist, dass sich die Technologie in unseren Dienst stellt und dass kein Mensch gezwungen ist, für medizinische Behandlungen auszuwandern, was für jemanden mit Beeinträchtigungen sowieso nur sehr schwer möglich ist. Bis es so weit ist, muss ich weiter hier sitzen bleiben, aus dem Fenster in unseren Hof mit den Bäumen schauen und versuchen, den Mut nicht zu verlieren.

Aus dem afghanischen Persisch von Bianca Gackstatter.

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