Wahlen in Kanada: Der Verrat
Vor der Parlamentswahl herrscht in der kanadischen Bevölkerung Verunsicherung und Angst. Die Zollpolitik der USA bedroht vor allem in Grenzregionen Zehntausende Arbeitsplätze.

Die Busfahrt zwischen Detroit und Windsor kostet zehn US-Dollar, führt durch einen kurvenreichen Tunnel unter dem Detroit River und dauert dreizehn Minuten. Von Windsor kann man, an der Passkontrolle vorbei, den amerikanischen Nachbar:innen am anderen Ufer des Grenzflusses zuwinken. Seit fast hundert Jahren befördert der Bus Passagiere zwischen Kanada und den USA. Bald wird er zum letzten Mal durch den Tunnel rollen, hat der Stadtrat Windsors beschlossen. Aus Kostengründen.
Lange galten die Schwesterstädte mit ihren Autofabriken und den Zulieferbetrieben als Motor des Versprechens auf Stabilität und Wohlstand: Windsor sei Detroits grösster Vorort, scherzte man. Dass Donald Trump sein Interesse an Kanada als 51. US-Bundesstaat angemeldet hat und die kanadische Automobilindustrie mit Zöllen belastet, sieht man hier als Verrat.
Am Montag, 28. April, wählen die Kanadier:innen ein neues Parlament. Im Januar hatte der Liberale Justin Trudeau, der seit 2015 Premierminister war, seinen Rücktritt verkündet. Wegen nicht gehaltener Wahlversprechen, knappen Wohnraums und steigender Preise waren er und seine Partei immer unbeliebter geworden. Trudeaus Nachfolger ist Mark Carney und seit Mitte März im Amt, mit ihm sind die Liberalen nun wieder im Aufwind.
Carneys Gegenspieler ist Pierre Poilievre. Lange hat er eine simple Botschaft verbreitet: Kanada sei ein kaputtes, von Trudeau zugrunde gerichtetes Land. Noch im Januar lag seine Konservative Partei in Umfragen 25 Prozentpunkte vorne. Dann kam der Zollkrieg. Und plötzlich schienen viele Kanadier:innen begriffen zu haben: Wir wollen keinen zweiten Trump. Inzwischen liegen die Liberalen rund 5 Prozentpunkte vor den Konservativen.
«Wir kämpfen für die Arbeiter»
Die Wahlkampfzentrale von Richard Pollock, dem Kandidaten der Liberalen Partei für Windsor West, befindet sich in einem schmucklosen, rostbraunen Bau. Der Arbeiter:innenbezirk gilt als Hochburg der sozialdemokratischen «Neuen Demokraten», der drittstärksten Kraft im Land. Die Arbeitslosigkeit hier ist so hoch wie sonst fast nirgends im Land.
Ein kalter Wind bläst durch die Strassen. Draussen hat wenige Schritte neben dem «Canada Strong»-Wahlplakat der Liberalen ein Obdachloser sein Lager aufgeschlagen und schläft. Im Wahlkampfbüro stapeln sich Flyer, Kisten und Post-its, man schüttelt Hände und prüft Mikrofone.
Kurz nach vier Uhr am Nachmittag stellen sich der Arbeitsminister Steve MacKinnon und Richard Pollock vor die Lokalpresse. MacKinnon ist schon seit halb fünf Uhr früh wach. Die Müdigkeit ist ihm nicht anzumerken. Er legt seine Hände aneinander und rattert Sätze herunter, wie Politiker sie im Wahlkampf sagen. Und mahnt das Publikum vor einer Spaltung der Kräfte gegen die Konservativen. Es sei gerade nicht der Zeitpunkt, Sozialdemokrat:innen zu wählen – zu viel stehe auf dem Spiel. «Der Augenblick ist gekommen, für uns einzustehen. Wir kämpfen für die Arbeiter», sagt er. Nirgendwo im Land habe die Zollpolitik Donald Trumps mehr Ängste geschürt als in der Automobilindustrie, insbesondere in Windsor.
Seit Henry Ford 1904 beschloss, einen robusten und bezahlbaren Wagen für alle zu bauen, sind das Schicksal und die Identität Windsors mit den Höhen und Tiefen der Automobilindustrie verbunden. An jeder Ecke erinnern Wandbilder und Denkmäler an die Blütezeit der Autostadt.
Mit 4500 Beschäftigten ist die Stellantis-Chrysler-Fabrik inzwischen das letzte Grosswerk der hiesigen Automobilindustrie: Chrysler stellt Minivans her und seit Ende letzten Jahres auch den futuristischen elektrischen Dodge Charger Daytona.
Tausende arbeiten in Zulieferbetrieben beidseits des Grenzflusses: Manchmal beinhaltet eine Lieferkette sechs oder sieben Fahrten zwischen Detroit und Windsor. Als die USA neue Zölle ankündigten, wunderte man sich: Wollen sie für jede Fahrt Zoll? Nein, hiess es dann. Nur für das Endprodukt.
Hoffen auf Elektromobilität
Am Stadtrand von Windsor entsteht gerade eine neue Fabrik für Lithium-Ionen-Akkus. Es handelt sich um ein Joint Venture zwischen Stellantis und dem südkoreanischen Konzern LG Energy Solution. 4,1 Milliarden US-Dollar werden investiert. Das Vorhaben ist Hoffnungsträger für Kanadas Elektroautostrategie. Auch Volkswagen lässt in der weiteren Umgebung ein Batteriewerk unter der Bezeichnung «Gigafactory» bauen. Kanada ist 2024 gemäss einem Ranking des Medienunternehmens Bloomberg der attraktivste Standort für die Produktion von Lithium-Ionen-Batterien geworden und hat China überholt.
All die Visionen von einer sauberen kanadischen Autoindustrie werden von der Bedrohung durch Trumps Zölle allerdings überschattet. So richtig scheint niemand die Regeln zu durchblicken. Wie viel ist Panikmache? Wie viel Realität? Zwei Wochen lang wurden Stellantis-Arbeiter:innen angewiesen, zu Hause zu bleiben. Seit Anfang der Woche sind sie wieder in der Fabrik. Der Grund für die Pause sei ein Produktionsüberschuss gewesen, munkelt man.
«Windsor profitiert von unseren Klimaschutzmassnahmen», lobt Minister MacKinnon die Liberalen gegenüber der WOZ. Was er unerwähnt lässt, ist der Bruch seiner Partei mit ihrer eigenen Klimapolitik. 2019 hatte Trudeau eine CO₂-Steuer für Privatpersonen und die Industrie eingeführt, um Benzin, Diesel und Erdgas zu belasten. Damit wollte er den Klimaschutz vorantreiben. Viele Kanadier:innen empfanden die Steuer trotz Rückvergütungen als finanzielle Zumutung. Mark Carney hat sie kürzlich für Privatpersonen wieder abgeschafft.
Ein blonder Ingenieur steht am Eingang und hört MacKinnon zu. Gerade habe er seinen ersten Job im Werk von Stellantis angenommen, sagt der 26-Jährige, und schon fürchte er, ihn wieder zu verlieren. Er hofft auf den Sieg der Liberalen: auf den Stabilisierer Carney, den Einzigen, der Trump die Stirn bieten könne.
Doch im Prinzip unterscheiden sich die Strategien der Parteien angesichts der Bedrohung aus den USA wenig: Mehr «Made in Canada» kaufen, Barrieren zwischen den Provinzen abbauen und Binnenhandel ankurbeln, auf Trumps Zölle mit Gegenzöllen reagieren.
«Mark Carney ist ein Typus Angela Merkel», sagt der Lokaljournalist und Politologe Blake Roberts. «Er gibt einem das Gefühl: Auf den kann ich mich verlassen.» Die Verunsicherung, die gerade in Windsor herrscht, teilt Roberts nicht: Man pflege Kontakte mit US-Gouverneuren und -Bürgermeistern, die wiederum Trumps Leute zur Vernunft bringen würden. Der Präsident sei jetzt schon zurückgerudert.
Die Fabrik als Heimat
Im ländlichen Ingersoll, zwei Autostunden östlich von Windsor, sucht man diesen Optimismus vergeblich. Ingersoll ist eine Hochburg der Konservativen Partei. Alyssa (30) und Nick (33), Eltern einer dreijährigen Tochter, sitzen in den Büroräumen der Gewerkschaft Unifor Local 88. Ihren Nachnamen wollen sie nicht veröffentlicht wissen. Die beiden sagen, sie würden nach sieben Jahren Verlobung gerne heiraten. Sie würden auch gerne verreisen oder sich etwas Schönes kaufen. «Wir leben sehr bescheiden», doch es reiche nicht dafür.
Bei Fragen zu Trumps Zöllen senken sie den Blick. Sie fürchten, nicht mehr über die Grenze in die USA gelassen zu werden. «Man muss verhandeln», presst Nick schliesslich hervor. Und: Diese Wahl sei lebenswichtig. «Der konservative Kandidat ist uns Arbeitern sehr zugewandt.»
Vor etwas über einer Woche gab der Automobilkonzern General Motors bekannt, dass er in seinem Werk in Ingersoll die Produktion von Elektrotransportern bis Oktober einstellen werde. Danach mache man mit halber Kapazität weiter. 450 Angestellte verlieren ihren Job. Grund dafür seien niedrige Verkaufszahlen. Das Produkt habe Potenzial, sagt die Gewerkschaft, aber Marketing und Infrastruktur seien schlecht.
Akute Existenzängste haben Alyssa und Nick nicht: Die Gewerkschaft hat erkämpft, dass sie zwei Jahre lang siebzig Prozent ihres Lohnes erhalten werden. Aber die Fabrik ist mehr als Arbeit. Sie ist Heimat. Nick wusste schon nach einer Fabrikbesichtigung in der neunten Klasse, dass er hier arbeiten wollte, und wurde Schweisser. Alyssa kam als Neunzehnjährige in die Fabrik und blieb. Hier lernten sie sich kennen.
Plötzlich fängt Alyssa an zu weinen. Sie vermisse ihre Kolleg:innen. Vielleicht möchte sie jetzt etwas mit Beauty machen, Nägel oder Augenbrauen.