Wichtig zu wissen: Der Blättererfasser
Ruedi Widmer spricht mit einem, der seiner Vision folgt

WOZ: Ueli Silch, wo stehen wir gerade?
Ueli Silch: Wir haben in den letzten fünf Wochen grössere Baumgruppen bei der Kläranlage Frauenfeld erfasst.
Ueli Silchs Vision ist ein Nachschlagewerk, das jedes Baumblatt der Welt erfasst, nummeriert und abbildet. Von jedem Baum. Und von jedem Jahr.
WOZ: Was ist mit den Nadeln?
Ueli Silch: Tannen interessieren mich nicht, Nadeln sehen zu gleich aus.
WOZ: Sie sind Laubfan?
Ueli Silch: Ja. Ich sammelte als Kind Blätter, von Buchen, Eschen, Birken. Hier im Gestell sehen Sie mein erstes gedrucktes Werk, «Die Laubbäume der Gemeindewälder von Dinhard ZH», Bände 1–178. Pro Band 500 Seiten. Sie enthalten die Blätter der Jahre 1995–1997 (jedes Blatt ist 20 × 20 mm gross abgebildet). Das Werk erschien 2002. Zurzeit digitalisiert Urs gerade die Dinhard-Fotos von 1998. Urs ist mein Bildbearbeiter.
WOZ: 1998? Wie wollen Sie denn je aktuell sein?
Ueli Silch: Ich bin jetzt auch auf Instagram. Aber wir wollen eigentlich alles in Büchern. Maschwanden ZH und Höri ZH schafften wir ja auch.
WOZ: Wie fotografieren Sie die Blätter in den Baumkronen?
Ueli Silch: Es machen ein paar gute Kletter:innen mit: Manfred, Evi, Melanie, Peter, auch Urs. Heute setzen wir vermehrt Drohnen ein. Aber es ist schwierig, Leute für die Mitarbeit zu begeistern.
WOZ: Und Leute zu begeistern, Bücher mit Fotos unzähliger gleichförmiger Blätter zu kaufen?
Ueli Silch: Das ist in der Tat noch schwieriger.
WOZ: Also ein Riesenaufwand für ein praktisch inexistentes Bedürfnis.
Ueli Silch: Genau. Angeschriebene Stiftungen haben meist nur einmal Geld gegeben.
WOZ: Wie hoch ist die Auflage von «Dinhard ZH»?
Ueli Silch: 4000 Stück.
WOZ: Ui.
Ueli Silch: Ja. Wir haben es der Bevölkerung gratis vor die Tür geliefert. Doch Hunderte Bände landeten im Altpapier.
WOZ: Also, Sie verbrauchen Papier, dem Bäume zum Opfer fallen, …
Ueli Silch: … die wir eigentlich in Büchern erfassen müssten.
WOZ: Sind Sie insgeheim froh, dass es dann weniger Bäume sind?
Ueli Silch: Ja, eigentlich schon. Ich dachte immer wieder ans Aufhören, aber das ist auch ein Zwang, und das Ende rückt immer weiter weg.
WOZ: Was sagt Ihre Frau?
Ueli Silch: Nicht, was Sie vielleicht erwarten. Sie machte letztes Jahr alleine den Brästberg in Pfäffikon ZH. 9000 Gigabyte Fotodaten, wir suchen verzweifelt Student:innen, die das Material sichten und aufbereiten. Aber sie hat immer wieder Blätter ausgelassen. Die Konzentration lässt nach nach Tagen, Wochen.
WOZ: Wer soll auch einen Fehler bemerken?
Ueli Silch: Ich. Ich fürchte mich vor jedem vergessenen Blatt.
WOZ: Aber stellen Sie sich nur vor, Sie müssten auch den Amazonas-Regenwald erfassen.
Ueli Silch: Das überstiege meine Kapazität. Da müsste ich Leute von dort anstellen. Aber wie soll ich Löhne zahlen? Der Druckerei schulde ich noch Geld für «Die Laubbäume in der Linthebene, Kataster 281 bis 299 im Jahr 2018». Band 1–32.
WOZ: Die Linthebene.
Ueli Silch: Mich quält der Frühling 2025 in der Linthebene. Wie mir die diesjährigen Blätter dort durch die Lappen gehen, weil ich mit «Der Hardwald zwischen Bülach und Kreisel Eglisau» beschäftigt bin. Irgendjemand muss ja auch das Layout machen und Korrektur lesen.
WOZ: Herr Silch, wir danken Ihnen für das Gespräch. Am 1. Mai müssen Sie sicher arbeiten.
Ueli Silch: Ja.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.