Wald im Klimawandel: Die Geschichte einer Fichte
Die WOZ hat mitten in einem typischen Schweizer Mittellandwäldchen eine Fichte getroffen. Diese war bereit, die WOZ an ihren Erfahrungen mit dem Klimawandel teilhaben zu lassen.
Ich hatte kaum richtig Wurzeln geschlagen, als ein gewaltiger Föhnsturm durch unseren Wald bei Birmensdorf fegte. Das war am 5. Januar 1919. Rund um mich herum ächzte und stöhnte es. Besonders beängstigend war das Knacken, mit dem einzelne Äste brachen und zu Boden krachten. Nie werde ich vergessen, wie mein hoch aufgeschossener Urgrossvater auf der andern Seite des schmalen Waldpfades schiefer und schiefer zu werden begann, bis er unaufhaltsam ins Kippen geriet und mit dumpfem Grollen keine zwei Meter neben mir auf den Waldboden schlug. Sein riesiger Wurzelteller ragte fast ebenso hoch in den dunkelgrauen Sturmhimmel wie die Äste seiner Baumkrone, die noch Momente zuvor alle unsere Nachbarn überragt hatte.
Seit damals weiss ich um das grosse Handicap unserer Familie, mit dem uns unsere Verwandten – die Buche, die Tanne und vor allem die Eiche – immer wieder aufziehen: Wir Fichten sind «Flachwurzler».
Im Schweizer Wald geben aber immer noch wir den Ton an. Allein im Kanton Zürich besetzen wir Fichten ein Drittel der Waldfläche, schweizweit sogar vierzig Prozent. Ausserdem wächst eine Picea abies, wie uns die Gelehrten nennen, meist höher hinaus als die anderen Bäume; einige meiner Cousinen im Emmental sind fast fünfzig Meter hoch. Mein Cousin im Göscheneralptal ist zwar kleiner, dafür ungeheuer dick: Fast sechs Meter misst er im Umfang. Nicht, dass er so ein Fresssack wäre – eine Fichte ist sehr genügsam. Wir wachsen auch ohne viel Licht und Nährstoffe. Frost und Kälte machen uns nichts aus. Deshalb lebt unsere Familie auch weit verzweigt von Mitteleuropa bis hinauf nach Skandinavien und ostwärts bis nach Sibirien. Nur Regenwasser brauchen wir genug – als «Flachwurzler» halt.
Und wenn ich ehrlich sein darf: Eigentlich würde ich meinen Standort hier in Birmensdorf lieber mit dem meiner Cousins in den Voralpen tauschen. Dort gehört unsereins nämlich natürlicherweise hin – in die Zone zwischen 800 und 1500 Metern über Meer. Aber das war den Menschen vor 200 Jahren egal. Die wollten damals einfach ganz schnell ganz viel Holz, um damit Fabriken, Brücken und Eisenbahnlinien zu bauen und all die neuen Maschinen anzufeuern. Und so pflanzten sie grosse Fichtenwälder auch im Mittelland. Denn wir wachsen nicht nur schnell, sondern liefern auch noch das günstigste und beste Bauholz. Zum Glück trat 1876 das Forstpolizeigesetz in Kraft: Fortan durften die Menschen nur das nachwachsende Holz nutzen – quasi die Zinsen –, das Kapital hingegen, also den Wald, nicht antasten.
Sonst wäre es uns noch ergangen wie unseren Familienmitgliedern in Britannien. Die wurden in Reih und Glied in riesigen Fichtenplantagen aufgezüchtet und wieder abgeholzt, sobald sie eine Höhe von knapp zwanzig Metern erreicht hatten. Noch heute werden unsere britischen Plantagencousins mit kaum 60 Jahren gefällt. Dabei können wir Fichten problemlos über 400, ja sogar 600 Jahre alt werden. Leider ist unsere Lebenserwartung im Mittelland aber deutlich niedriger – und das nicht nur, weil wir regelmässig abgeholzt werden. Nein. Wir sind hier unten einfach anfälliger auf Krankheiten und Umwelteinflüsse, besonders, wenn wir nur unter unseresgleichen aufwachsen.
«Dünnhäutig» nennen sie uns deswegen oft. Klar ist unsere Rinde nicht so dick und knorrig wie die einer Eiche. Was uns Fichten aber viel mehr stresst, ist, wenn es im Sommer so warm und trocken wird. Und das ist immer häufiger der Fall. Klimaerwärmung, sage ich nur. Im deutschen Mittelfranken etwa ist das Klima bereits so warm und trocken geworden, dass die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft befürchtet, die Fichtenwälder seien dort nicht mehr zu retten. Und dass jetzt niemand behauptet, das sei einer Übertreibung meiner deutschen Onkel und Tanten geschuldet, sozusagen ihrem Verzweiflungsschrei. Auf den haben nämlich vor allem die Borkenkäfer reagiert – genauer gesagt, der Buchdrucker und der Kupferstecher. Sobald unsere deutschen Familienmitglieder unter der Trockenheit und Wärme zu ächzen begannen, waren die Käfer zur Stelle und fielen sie an: Die Buchdrucker bohrten sich im unteren Teil des Stammes durch die Rinde ins Kambium, um ihre Eier ins Versorgungsgewebe zu legen. Die Kupferstecher attackierten vom Wipfel her.
Nicht, dass sich unsere Onkel und Tanten nicht gewehrt hätten – wozu haben sie denn das ganze Harz ... Aber es waren einfach zu viele Borkenkäfer. Denn die konnten sich in den geschwächten und in den bereits toten Bäumen des Fichtenwaldes viel stärker als sonst vermehren – wegen der langen, warmen Sommerperiode. Statt eine oder zwei deponierten sie drei Generationen an Eiern in diesen Bäumen, und die Larven schafften es dann innert kurzer Zeit, rund um den Baum im Kambium ihre Gänge zu graben. Damit schnitten sie unsern Onkeln und Tanten im wörtlichen Sinn die Lebensader durch. Mittlerweile haben die Förster in Mittelfranken Hunde darauf trainiert, Fichten aufzuspüren, die von Borkenkäfern befallen sind. Vielleicht der letzte Versuch, unsere Familie dort zu retten ...
Wir Fichten im Schweizer Mittelland sind weniger gefährdet, sagen die Förster, weil wir in einem Mischwald zusammen mit unsern Verwandten leben. Und die Laubbäume bieten Buchdruckern und Kupferstechern keine Brutstätten. Trotzdem haben ich und meine engsten Familienmitglieder hier in Birmensdorf in den letzten Jahrzehnten am eigenen Leib erfahren, was Klimawandel heisst. Mit den steigenden Durchschnittstemperaturen können wir ja noch umgehen. Was uns viel mehr stresst, sind Wetterextreme wie eben Trockenheit und Stürme – und die haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich gehäuft. Unser Handicap macht uns dabei schwer zu schaffen. In langen Trockenperioden leiden unsere flachen Wurzeln, weil sie das tiefer gelegene Grundwasser nicht anzapfen können.
Meine grösste Angst aber sind Stürme. Schon möglich, dass ich da ein Trauma aus meiner Kindheit nicht verarbeitet habe. Trotzdem – meine Erfahrung zeigt, dass Stürme nicht nur häufiger, sondern auch heftiger geworden sind: Im November 1982 raubte mir ein dreitägiger Föhnsturm fast den Atem; Ende Februar 1990 musste ich mich «Vivian» unter Mobilisierung all meiner Kräfte während Stunden entgegenstemmen. Und dann – kaum war die Sorge ausgestanden, die Menschen würden eines meiner Kinder fällen, um es in einer Wohnstube mit Lametta, Glitzerkugeln und Süssigkeiten zu behängen –, kam «Lothar». Am 26. Dezember 1999 gegen Mittag brauste ein Orkan über unseren Wald hinweg, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Regen und Wind peitschten gegen meinen Stamm und zerzausten meine Krone, über mir blitzte und donnerte es unaufhörlich. Eben als ich glaubte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, wirbelte eine zweite Serie von Sturmböen in rascher Folge durch uns hindurch. Um mich herum kippten Brüder und Schwestern um, einige barsten mit einem hässlichen Knall in der Mitte entzwei.
Als es vorbei war, war unser Wald ein anderer. Viele unserer jüngeren Fichtenkinder, die sich in meinem Rücken dicht aneinanderdrängen, standen noch. Von meinen Geschwistern auf der anderen Seite des schmalen Waldwegs und etwas weiter zu meiner Rechten hingegen hatten nur wenige überlebt. Kreuz und quer lagen sie übereinander. Es war ein einziges Trümmerfeld. Vereinzelt ragten spitzzackige Fichtenstämme senkrecht daraus hervor. Nur die alte Eiche stand noch mitsamt ihrer Krone, die Buchen und Eschen ebenso. Wo vorher Schatten geherrscht hatte, brach sich nun das Licht ungehindert Bahn bis zum Boden.
Im Mittelland ist jede fünfte Fichte «Lothar» zum Opfer gefallen – zumindest indirekt. Denn im Frühling 2001 kamen die Borkenkäfer. Die Buchdrucker hatten sich im Totholz eingenistet und vermehrt. Jetzt begannen sie, die geschwächten Bäume zu attackieren. Zwar hatten es die Förster geschafft, die meisten unserer gefällten Familienmitglieder abzutransportieren, und rechneten damit, dass der Käferbefall nach 2002 um fünfzig Prozent abnehmen würde. Doch dann kam der Hitzesommer 2003. Entgegen der Prognose verdoppelte sich die Zahl der Käfer sogar. Nun fielen sie in Horden über uns her – sogar über die Kerngesunden unter uns.
Erneut musste ich um mein Leben kämpfen und all meine Ressourcen in die Harzproduktion stecken. Einige meiner verbliebenen Geschwister haben es nicht geschafft – besonders jene nicht, die den Kupferstechern in den Baumkronen wegen der grossen Dürre nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Ihnen schnürten die Käfer von oben und unten gleichzeitig die Lebensader ab. Auch der Hallimaschpilz drang nun unter die beschädigte Rinde und half mit, ihr Schicksal zu besiegeln.
Acht Millionen Kubikmeter Fichtenholz hat «Lothar» 1999 in der Schweiz umgeworfen. Rund vier Millionen kamen in den folgenden Jahren hinzu. Wegen der Borkenkäfer. Und die werden mit den steigenden Temperaturen in Zukunft vermehrt zwei oder sogar drei Generationen pro Jahr ausbilden können und dadurch die Entwicklung des Waldes massgeblich steuern. Sagen die Waldforscher der WSL, der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, gleich neben unserem Wald. Ich hab gehört, wie sie sich unterhalten haben. Einige von ihnen befürchten, dass sich als Folge unsere Lebensumwelt stark verändern wird. In ihrem neusten Landesforstinventar kommen sie zum Schluss, dass viele Anzeichen darauf hindeuten, dass sich Gesundheit und Vitalität des Waldes aufgrund von Naturereignissen verringern: Mehr Bäume und vor allem ganze Waldflächen sind immer stärker beschädigt.
An trockenen, warmen Standorten – insbesondere im Wallis – ergeht es den Föhren immer mehr wie uns Fichten: Ihre Sämlinge verdorren, bevor sie überhaupt Wurzeln einbohren können. Und seit kurzem breitet sich unter Eschen nördlich der Alpen rasend schnell ein tödlicher weisser Pilz aus, der die Wasserversorgung in Rinde und Seitentrieben unterbricht. Auch auf den Ästen der Eschen, die sich zu meiner Linken zwischen meinen jüngsten Kindern gruppieren, schimmern bereits viele weisse Tupfen. Noch rätseln die Waldforscher über die Ursachen, vermuten aber einen Zusammenhang mit dem Klimawandel.
Wir Fichten sind so etwas wie die Seismografen des Klimawandels. Verspottet uns also bitte nicht länger als dünnhäutige «Flachwurzler».
Mit speziellem Dank an Matthias Dobbertin von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).
Klimaforschung im Wald
Die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) untersucht die Schweizer Waldökosysteme und ihre Veränderungen seit 1994 auf achtzehn verschiedenen Versuchsflächen. Dabei erfasst sie nicht nur den jährlichen Stammzuwachs der Bäume, ihre Kronenverlichtung oder Schadstoffeinträge aus der Luft. Sie simuliert mit Experimenten auch den Klimawandel: In der Nähe von Davos etwa begast ein WSL-Forschungsteam Bergföhren und Lärchen mit Kohlendioxid, um herauszufinden, wie die Bäume auf steigende CO2-Konzentrationen reagieren. Grundsätzlich brauchen Bäume CO2 zum Wachsen. Das nehmen sie über Spaltöffnungen auf. Und die, so hoffen die ForscherInnen, müssten die Bäume weniger auftun, wenn es mehr CO2 in der Luft hat – sich also weniger anstrengen, damit auch weniger schwitzen und somit höhere Temperaturen und Trockenheit besser ertragen können. Tatsächlich reagieren junge Pflanzen entsprechend. Ältere Bäume allerdings haben sich bislang gänzlich unbeeindruckt gezeigt, wenn man sie begast.