Stadt der Zukunft: Quartiere in Tiere verwandeln!
Der Schriftsteller und Visionär Hans Widmer berichtet von einem inspirierenden Besuch in Genf, wo die ökologisch nachhaltige und soziale Umgestaltung eines Quartiers konkrete Formen annimmt. Ein Beispiel, das auch anderswo Schule machen könnte.

Jüngst traf ich in Genf Eric Rossiaud, den Präsidenten der Westschweizer Wohnbaugenossenschaft Codha. Begeistert erzählte er von der Genossenschaft und von Après, einem Zusammenschluss sozial und ökologisch ausgerichteter Unternehmen in Genf.
Rossiauds Begeisterung gilt dem sich im Bau befindlichen Projekt «Quai Vernets». Hier hat Après mit der Immobilienfirma Cogerim den Auftrag für die zentrale Verwaltung einer Überbauung für 3000 Bewohner:innen erhalten. Codha selbst baut dort 360 Wohnungen für 950 Bewohner:innen. Die zentrale Verwaltung wird zahlreiche Dienstleistungen für Bewohner:innen, Ladenmieter und Besucherinnen anbieten, wie etwa eine digitale Plattform, wo Angebote wie Babysitting, Haushaltshilfen oder Paketlieferungen organisiert werden. Ebenso verwaltet sie ein Quartierbudget für Veranstaltungen, um die Beziehungen unter den Bewohner:innen zu verbessern und ihnen die Teilnahme am Quartierleben zu erleichtern. Ein grosser «Hub Central» dient als Réception, Café, Treffpunkt und Veranstaltungsraum. Einzugstermin ist 2028.
Rossiaud betrachtet das Ganze als Übergangsprojekt: «Genossenschaftliche Überbauungen sollen nicht nur Wohneinheiten, sondern allmählich ökonomische Einheiten werden.» Inspiriert von der Zürcher Wohnbaugenossenschaft «Mehr als Wohnen», soll es dereinst Wohnraum plus Gemüse, Fahrzeuge und geteilte Gegenstände aller Art geben. «Momentan arbeiten wir mit Abos aller Art. Beim Autoabo zum Beispiel bezahlst du eine gewisse Kilometerzahl im Voraus. So bekommt die interne Autovermietung Planungssicherheit.»
Im Abosystem sieht Rossiaud ein taugliches Übergangssystem, das die kapitalistische Gegenwart mit einer Zukunft von Commons verbindet. Bewohner:innen eines ganzen Quartiers könnten so eine genossenschaftliche Lebensweise erproben. Am Schluss komme dabei eine Art Lebenspauschalarrangement heraus. Wichtig sei, dass das auf der Basis von Selbstverwaltung und Profitlosigkeit geschehe.
Genossenschaften als ideale Form
Doch reichen 3000 Menschen für ein Quartier-Commons? Tatsächlich umfasst die Überbauung erst einen Teil des Quartiers. Wie kann Selbstverwaltung bei einer nicht klar umrissenen Mischung von Nutzer:innen garantiert werden? Rossiaud schwebt deshalb eine Quartiergenossenschaft vor, die vorerst drei lebenswichtige Bereiche umfasst.
Erstens: bezahlbare und lokale Ernährung. Läden und Restaurants werden so eingerichtet, dass sie lokale Produzentinnen und Konsumenten direkt verbinden.
Zweitens: geteilte und nachhaltige Mobilität. Zusammen mit Genossenschaften wie Codha werden Fahrzeuge über eine digitale Plattform vermietet.
Drittens: Tauschlager für Gegenstände, Kleider und vieles mehr.
Im Unterschied zu Vereinen gehorchen Wohngenossenschaften dem Commons-Prinzip der Einheit von Territorium, Funktion und Institution. Die Beteiligten sind nicht (anonyme) Konsument:innen, sondern Mitglieder mit Verpflichtungen und Rechten. Die juristische Form der Genossenschaft ist auch deshalb sinnvoll, weil finanzielle Verbindlichkeiten eingegangen werden können, die bei Vereinen weniger gut funktionieren.
Die Quartiergenossenschaft ist in diesem Sinn nicht ein weiterer Quartierverein, sondern das Netzwerk einer neuen, nachhaltigen Ökonomie. Bisherige öffentliche Dienstleistungen – Wasser, Strom, Bildung, Spitäler, Polizei – bleiben davon unberührt, sie gehören zum übergeordneten städtischen Commons. Mitglieder werden könnten alle Quartierbewohnerinnen, Gewerbetreibende, Liegenschaftseigentümer, Wohngenossenschaften, ja sogar Gemeinden, Kantone oder Investor:innen. Die Quartiergenossenschaft ergänzt also bestehende Wohngenossenschaften, die schon ähnliche Dienste und Plattformen anbieten, und bezieht die restliche Wohnbevölkerung mit ein. Das garantiert direkte Aneignung, Verantwortung, Mitbestimmung und schliesslich: Kontinuität.
So ist die Quartiergenossenschaft eine «Übergangsstrategie» von Marktwirtschaft zu Commons, eine Art Parallelstruktur, wo sich Gegenwart und Zukunft mischen. Je nach Situation und Bedarf kann sie Läden, Restaurants, Fuhrparks, Materiallager oder Werkstätten betreiben und dort einspringen, wo die Nahversorgung wegen kommerzieller Zwänge zusammengebrochen ist. Hilfreich wäre, wenn die öffentliche Hand Startkapital, Know-how und günstige Lokalitäten beisteuerte. Insgesamt resultiert eine zirkuläre Ökonomie der kurzen Wege – Hauptbedingung für eine planetentaugliche Lebensweise, der sich die Stadt Genf verschrieben hat.
Auch die Stadt Zürich hat die Quartiere als geeignete Territorien für die Realisierung einer Ein-Planeten-Stadt entdeckt. In Wiedikon soll ein Pilotquartier entstehen, das aber konzeptionell noch etwas vage wirkt. Und auch der Kreis 5 hat mit dem Ja zur Umweltverantwortungsinitiative als einer der wenigen Stadtkreise schon für die Ein-Planeten-Lebensweise gestimmt.
Ein Fisch für Zürich
Als alter Kreis-5-Bewohner habe ich sozusagen aus verletztem Stolz ein Konzept für ein Ökoquartier 5 skizziert. Ich nenne es «Fisch», weil der Stadtkreis aus der Vogelperspektive wie ein Fisch aussieht. Damit wäre das Territorium als Quartier sinnvoll definiert: 17 000 Bewohner:innen auf rund zwei Quadratkilometern. Auf diesem Gebiet gibt es schon einige Wohngenossenschaften, die selber kleine innere Ökonomien aufbauen können und damit kürzeste Wege (von einer Minute) garantieren.
Ich stelle mir 34 Klimagemeinschaften à je rund 500 Bewohner:innen vor, die im Nachbarschaftsbereich ökologische Infrastrukturen aufbauen und nahe Dienstleistungen anbieten (in 34 Mikrozentren). Das könnten nicht nur Genossenschaften, sondern auch Vereine sein. Das Problem ist nur, dass es diese 34 Nachbarschaften noch nicht gibt. Anders als bei der Überbauung Quai Vernets in Genf haben wir es nicht mit Neubauten, sondern mit einem vielfältigen Bestand und vielen Akteur:innen zu tun.
Eine Quartierkooperative könnte hier ein Zwischenschritt sein. Also gäbe es eine Art Dach-Quartiergenossenschaft namens Fisch, mit einem «Central Hub» am für das Quartier zentralen Limmatplatz. Wer kein Ein-Minuten-Mikrozentrum hat, bekommt wenigstens ein Fünfzehn-Minuten-Quartier. Ideal als Musternachbarschaft, Ort für Tauschlager und anderes wäre das rund zwei Hektaren grosse städtische Josef-Areal zwischen Bahnviadukt und Hardbrücke. Hier will die IG Klimagenossenschaft ein Projekt namens «Josef*a» realisieren – die Stadt muss nur noch Ja sagen.
Das Konzept liesse sich auf alle Stadtquartiere – Frosch, Uhu, Dachs, Hummel und so weiter – übertragen. Zwischen Zürich und Genf gibt es noch einige andere Städte, wo das Ein-Planeten-Leben ebenfalls aktuell ist (zum Beispiel Olten). Der Verein Neustart Schweiz hat dazu ein bisschen Vorarbeit geleistet, indem er unter newalliance.earth ein globales Commons-Grundkonzept in vierzehn Sprachen veröffentlicht hat. Eine Ein-Planeten-Welt braucht den ganzen Planeten.
Hans Widmer schrieb früher unter dem Pseudonym P. M. und wurde durch sein Buch «bolo’bolo» bekannt.