Stadtentwicklung: Eine Welt aus Nachbarschaften

Nr. 3 –

Wie soll die Stadt der Zukunft aussehen? Und wo beginnen, wenn man eine Utopie in die Realität umsetzen will? Ein Besuch bei der Genossenschaft Nena 1 in Zürich.

Gemeinschaftliches Wohnen in alten Gefängniszellen? Fred Frohofer (links) mit Nena-1-Vorstandsmitgliedern vor dem Zürcher Bezirksgebäude.

Fast hüpft er, so beschwingt ist der Mann im strahlend weissen Hemd. Wenn Fred Frohofer über die Idee spricht, der er sich verschrieben hat, sagt er Sätze wie «‹Allmende› klingt nach Kühen auf der Wiese. Deshalb sagen wir ‹Commons›». Und er zitiert gerne gescheite Leute, etwa den Philosophen Oskar Negt: «Nur noch Utopien sind realistisch.»

Frohofer ist so etwas wie der Kopf von Nena 1. Was sich anhört wie eine Coverband aus den achtziger Jahren oder eine Expedition ins All, steht für «Neustart Nachbarschaft 1» – und ist eine Bau- und Wohngenossenschaft. Ihr Ziel: Stadt so zu gestalten, dass darin ökologisch und sozial nachhaltig gelebt werden kann.

In sogenannten Nachbarschaften sollen rund 500 Menschen dorfähnlich zusammenleben. Der Alltag wird mit gemeinschaftlich genutzter Infrastruktur – eben den «Commons» – weitgehend selbst organisiert. So etwa werden Lebensmittel in Kooperation mit einem nahe gelegenen Landwirtschaftsbetrieb produziert – nur so viel wie nötig. Wobei aber nicht der Verzicht im Mittelpunkt steht; dank guter Organisation im Kollektiv soll genug Zeit für den Genuss bleiben. Ein Beispiel: Wieso kochen jeden Abend zehn Menschen an zehn Herden Spaghetti, wenn doch einige wenige in der Gemeinschaftsküche für alle eine Sauce aus fair produzierten Tomaten zubereiten könnten?

Anfragen aus Tübingen und Athen

Gegen die Aussage, dass er der Kopf von Nena 1 sei, würde sich Frohofer wohl wehren. Im Vorstand der Genossenschaft, die mittlerweile 250 Mitglieder hat, sind alle gleichgestellt, grösstmöglicher Konsens ist eine Selbstverständlichkeit. Doch der ehemalige Onlineredaktor Frohofer widmet sich als Einziger hauptberuflich der Idee, die hinter Nena 1 steckt. Möglich macht dies das Geld, das er vom Vater geerbt hat.

An diesem Abend begrüsst Frohofer rund zwanzig GenossenschafterInnen und Interessierte. Wie an jedem 17. des Monats trifft man sich – mal zum Znacht, mal zum Brunch. Jene, die neu dazustossen, erhalten eine kurze Einführung in die Grundideen. Frohofer nennt das mit einem Augenzwinkern «Die Einweisung». Darauf folgen Diskussionen in kleinen Gruppen – zum Beispiel über die «Charta», die die Grundprinzipien der Nena-Bewegung festhält.

Was Nena 1 in einem Wohnbauprojekt verwirklichen will, hat seinen Ursprung in den Ideen des Zürcher Autors P. M., der heute mit seinem richtigen Namen Hans Widmer auftritt. Seine Anfang der achtziger Jahre formulierte Stadtutopie mit dem Titel «bolo’bolo» wurde seither kontinuierlich weiterentwickelt (siehe WOZ Nr. 44/2017 ). Mittlerweile gibt es in der ganzen Schweiz und darüber hinaus Nena-Gruppen, Anfragen kommen aus Tübingen, Vorarlberg oder Athen. Letztlich könnte die ganze Welt – so die Utopie – aus Nachbarschaften bestehen, die miteinander vernetzt sind und sich kulturelle Treffpunkte teilen. Jede Nachbarschaft hätte ihr eigenes Zentrum, wo die Verteilung der Lebensmittel, die Kinderbetreuung, das gemeinsame Essen organisiert würden. Die Wege wären kurz, man ginge zu Fuss in dieser Stadt der Zukunft.

Jetzt, da die Frage nach nachhaltigem Leben in den Städten drängender ist denn je, scheint die Zeit reif, um eine erste «Neustart Nachbarschaft» zu bauen. «Wir wollen unser Konzept in einer einzelnen Nachbarschaft eins zu eins umsetzen», sagt Frohofer. «Nur so können wir zeigen, dass es funktioniert.» Dass es funktionieren würde, daran besteht für ihn kein Zweifel. Auch Marie-Antoinette Glaser, die an der ETH zu Stadtentwicklung und Wohnen forscht, sagt: «So utopisch ist Nena 1 nicht. Viele ihrer Ziele decken sich mit denjenigen der 2000-Watt-Gesellschaft, zu der sich die Stadt Zürich verpflichtet hat.» Die öffentliche Diskussion drehe sich zudem vermehrt um bezahlbaren Wohnraum. «Wir benötigen neue Konzepte fürs Wohnen. Man muss solche Ideen ausprobieren, damit sie denkbar und verhandelbar werden.»

Einen Vorbehalt jedoch hat Glaser: Sind die ZürcherInnen bereit, auf dem Land für die Lebensmittelproduktion der Gemeinschaft mit anzupacken? «Wir leben in der Schweiz in einer Wohlstandsgesellschaft», sagt sie. «In Krisenländern, zum Beispiel in Griechenland, wo immer mehr Menschen von Armut betroffen sind, kann ich mir ein solches Modell eher vorstellen. In Zürich hat Selbstversorgung noch keine Notwendigkeit, jede einzelne Person in so einem Projekt muss deshalb höchst motiviert sein.» Die nötige Motivation finde man erst in relativ kleinen, überaus idealistischen Grüppchen.

Die bisher grösste Chance, ihre Utopie zu realisieren, haben die IdealistInnen von Nena 1 letzten Herbst knapp verpasst. Für das Koch-Areal, wo im Baurecht der Stadt 350 gemeinnützige Wohnungen entstehen sollen, hatte sich Nena 1 zusammen mit der Baugenossenschaft Zurlinden (BGZ) beworben. Es gewannen andere; unter ihnen die Genossenschaft Kraftwerk 1, die ebenfalls von «bolo’bolo» inspiriert ist. Nena 1 und BGZ wurden Zweite, die Enttäuschung war gross.

Eine unerwartete Liebesgeschichte

Was von der Bewerbung bleibt, ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei ungleichen Partnerinnen: der idealistischen Nena 1, die vom kapitalistischen Marktdenken wegkommen will – und der gemäss ihren Statuten parteilosen, aber doch FDP-nahen BGZ, einer Genossenschaft von Unternehmungen aus der Stadtzürcher Baubranche. Jürg Keller von der BGZ schwärmt dennoch: «Die Nenas sind sehr kreativ, engagiert und seriös! Wir ergänzen uns wunderbar, Nachhaltigkeit und Innovation sind unser gemeinsamer Nenner.» Auch Frohofer ist von der Zusammenarbeit begeistert: «Unsere Idee ist weder rechts noch links, sie ist neutral. Sie ermächtigt die Leute, ihr Umfeld selbst zu gestalten. Deshalb können auch Bürgerliche dahinterstehen.»

Nena-1-Leute seien vielleicht so eine Art «grüne Realos», sagt die Kulturwissenschaftlerin Glaser. Vielleicht habe die Genossenschaft ihre radikalen Grundideen dafür etwas «ausbalanciert» und sich im Koch-Areal-Wettbewerb zur Mitte hin bewegt: «Die Genossenschaft nimmt damit offenbar die kritischen Stimmen ernst, die es zu neuartigen Genossenschaftsprojekten in Zürich gibt: nämlich, dass sie hauptsächlich für privilegierte, links-grüne Insider zugänglich seien.»

Nach dem geplatzten Traum vom Koch-Areal muss Nena 1 einen neuen Bauplatz finden. Viele ungenutzte Areale, auf denen 500 Menschen leben könnten, gibt es in Zürich nicht mehr. Vielleicht das Areal an der viel befahrenen Thurgauerstrasse im Norden Zürichs, das die Stadt im Baurecht abgeben will? Oder sollte man umgekehrt anfangen: zuerst die solidarische Landwirtschaft aufbauen, die für die Versorgung der Nachbarschaft nötig wäre?

Am Schluss des Abends an diesem «17er-Treffen» gibt es viele Ideen und keine Entscheidungen. «Es wäre schon schön, wenn wir weltweit die Ersten wären, die eine Nena realisieren», sagt Frohofer. «Wir wollen für die ganze Welt ein Vorbild sein. Alle könnten unsere Nachbarschaft besuchen. Wir bräuchten deshalb viele Gästezimmer.»