Zeitgeistphilosophie: Beten statt konsumieren?

Nr. 20 –

Byung-Chul Han sucht bei der Mystikerin Simone Weil Argumentationshilfe für seine Kritik des Neoliberalismus.

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Simone Weil auf einem Personalfoto
Von der Brutalität der kapitalistischen Ausbeutung will Byung-Chul Han nichts wissen: Simone Weils Personalfoto während ihrer Zeit als Hilfsarbeiterin. Foto: Photo12/Getty

Als eine Mitschülerin einst behauptete, sie sei Kommunistin, soll die erst elfjährige Simone Weil forsch entgegnet haben: «Ich bin Bolschewistin.» Später führte sie als Gewerkschaftsaktivistin Demonstrationszüge an. Als Publizistin kommentierte sie scharfsinnig den stalinistischen Terror und kritisierte den aufkommenden Faschismus in Deutschland. Dazwischen arbeitete sie in Fabriken und kämpfte aufseiten der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. 1940 floh die Französin vor der deutschen Besatzung. Nach Stationen in Marseille und New York gelangte sie nach England, wo sie im Alter von 34 Jahren an den Folgen einer Tuberkuloseerkrankung und Unterernährung starb.

Zu Weils Aktivismus gehörte eine weitere Komponente: Um 1936 entdeckte sie den Katholizismus für sich, worauf ihr Denken eine immer religiösere Färbung annahm. Den Weg zu Gott fand sie schliesslich über das eigene Ich, oder genauer: über dessen Überwindung. «Es gibt durchaus keinen anderen freien Akt, der uns erlaubt wäre, ausser der Zerstörung des Ich», schreibt sie in «Schwerkraft und Gnade», einer posthum veröffentlichten Sammlung mystischer Schriftstücke. Und auch der Tod wurde zusehends zum zentralen Fluchtpunkt ihres Denkens: «Beten heisst gleichsam sterben.»

Selbstgespräch statt Dialog

Weil nannte diese Praxis der Ich-Auflösung «Dekreation», und seither wird das Konzept in literarischen und philosophischen Kreisen breit rezipiert. Besonders eindringlich im queerfeministischen Roman «Aliens & Anorexia» von Chris Kraus, die es als subversive Geste gegen den patriarchalen Zynismus der Gegenwart deutet. Auch der Philosoph Byung-Chul Han nimmt in seinem neusten Buch, «Sprechen über Gott. Ein Dialog mit Simone Weil», ihre Meditationen über Gott und körperliche Transzendenzerfahrung als Praxis philosophischer Kritik ernst. Allerdings instrumentalisiert er sie im selben Atemzug für seine extrem verkürzte Neoliberalismuskritik. Der versprochene Dialog verkommt zum Selbstgespräch.

Hans Argumention verläuft hierbei genauso wie in seinen früheren Büchern: Der Neoliberalismus ziele vor allem auf freiwillige Selbstunterwerfung. Er stachle uns zu konstanter Geschäftigkeit an. Immer wieder müssten wir uns selbst neu erfinden, um auf dem Markt der Ich-AGs die Nase vorn zu behalten. Zugedröhnt vom digitalen Lärm und getrieben von der Sehnsucht nach Likes, darbten wir ermüdet und ausgebrannt in der Echokammer unseres Egos.

Gegen diesen «Terror der Immanenz» führt Han nun Simone Weil ins Feld. Einerseits verweist er mit Weils Transzendenzbegriff auf ein Jenseits der ökonomischen Verwertungslogik. Zum anderen soll die Idee der «Dekreation» dem Neoliberalismus seinen zentralen Anknüpfungspunkt entziehen: das Subjekt. Die Auslöschung des Ichs schaffe so erneut Platz für das absolut Andere.

So radikal diese Vorsätze auch klingen mögen, so wenig konkret sind sie es in ihrer Ausgestaltung: War in Hans Buch zur «Psychopolitik» (siehe WOZ Nr. 39/14) noch vom «kontemplativen Verweilen» die Rede, so spricht er nunmehr von einer «kontemplativen Aufmerksamkeit». Nach dem Smartphone gilt es jetzt das Selbst auszuschalten, um dem neoliberalen Teufelskreis zu entkommen. Die Mittel, zu denen er rät, sind dieselben geblieben: «Warten», «interesseloses Schauen» und geduldiges «Nichtstun», wozu sich nun noch ein weiteres mit explizit religiösem Einschlag gesellt: das «Gebet» als Technik der Selbstentleerung.

Hilfsarbeiterin in der Fabrik

Wenn Han ausserdem meint, dass das «Disziplinarregime» einem «neoliberalen Regime» gewichen sei, «das nicht von Befehlen und Gehorsam bestimmt ist, sondern die Freiheit selbst ausbeutet», dann ist das zumindest soziologisch betrachtet verkürzt. Der französische Soziologe Loïc Wacquant hat etwa in seiner 2009 erschienenen Studie über «Das Bestrafen der Armen» gezeigt, dass der Neoliberalismus bei der Aushöhlung des Wohlfahrtsstaats sehr wohl auf disziplinarische Mittel zurückgreift. Der Strafstaat wurde in den vergangenen Jahrzehnten sogar immens ausgebaut. Auf den Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung folgt eben nicht bloss Hans «Infokratie», sondern polizeiliche Repression. Nur zielt diese gerade auf jene soziale Schicht, die Han in seinen Analysen oft ausblendet: Lohnarbeitende sowie prekäre und marginalisierte Bevölkerungsgruppen, allen voran nichtweisse Personen, Einwander:innen und Geflüchtete.

Diese Leerstelle in Byung-Chul Hans Denken ist gerade angesichts der Biografie Simone Weils bemerkenswert. Um die brutalen Disziplinierungseffekte kapitalistischer Ausbeutung am eigenen Körper zu erfahren, arbeitet Weil 1934 und 1935 als Hilfsarbeiterin in verschiedenen Fabriken. Am Schluss ihres «Fabriktagebuchs» notierte sie: «Das Gefühl persönlicher Würde, so wie es die Gesellschaft hervorgebracht hat, wurde gebrochen. Man muss sich ein anderes schaffen, obwohl die Erschöpfung die eigene Denkfähigkeit auslöscht.»

Hans Reflexionen über den Körper erschöpfen sich demgegenüber in floskelhaften Phrasen über den Schmerz als Bedingung der Welterfahrung. Tatsächlich war Weils Leben von ständiger Krankheit, lähmenden Kopfschmerzen und zuletzt auch von Mangelernährung geprägt. Ihre Fabrikerfahrung zeigt, dass die noch radikalere Entäusserung des Selbst, die sie später in der «Dekreation» aufspürte, keine Flucht in ein übergeschichtliches Heil war, sondern eine Strategie, um den Körper in seiner ganzen Zerbrechlichkeit zum Ausgangspunkt einer politischen Praxis zu erheben. Je mehr sich das eigene Ich entleerte, desto stärker konnte es sich dem radikal Anderen öffnen, ohne dieses gleich einzuverleiben. Das Ringen innerhalb des eigenen Ichs führte Weil so weiter zu einem Ringen um neue Gesellschaftsformen jenseits ökonomischer Ausbeutung.

Eindimensionale Lektüre

Auch Weil muss man nicht in allem zustimmen. Der «Gott der Christen», schreibt sie in «Schwerkraft und Gnade», sei «ein übernatürlicher Gott, während Jehova ein natürlicher Gott ist». Der Gott der «Hebräer» sei «schwer und plump» und deshalb der Inbegriff dessen, wogegen sich die christliche Gnade zu richten hatte. Jüd:innen betrachtete sie ebenso wie Muslim:innen, Humanist:innen und Materialist:innen als zur «Dekreation» unfähig. Ihre eigene jüdische Herkunft wies sie vehement zurück.

Die vielen antijudaistischen Passagen in «Schwerkraft und Gnade» sind zum Teil Gustave Thibon geschuldet, der 1947 unter dem Titel «La pesanteur et la grâce» erstmals eine Auswahl von Weils mystischen Schriften herausgab, die auch der aktuellen deutschen Fassung zugrunde liegt. Thibon war im antisemitisch geprägten Rechtskatholizismus zu Hause und stand dem Vichy-Regime nahe.

Unter der Demokratie verkomme das Volk zu einer Masse ohne spirituelle Führung, und der Sozialismus sei ein «Virus», der nahezu alle Nationen befallen habe, schrieb Thibon 1942. Insgesamt bedrohe der revolutionäre Geist der Moderne die «Harmonie» des «sozialen Organismus». Er war bestrebt, Weil als dezidiert christliche Denkerin zu porträtieren, obwohl sie selbst nie offiziell zum Katholizismus konvertierte.

Tatsächlich sind Echos einer solchen konservativen Kulturkritik in Weils Schriften nicht zu überhören. «Man soll nicht ich sein, aber man soll noch weniger wir sein», schreibt sie in «Schwerkraft und Gnade». Überhaupt seien das «Soziale» und das «Kollektive» Bereiche, an «denen das Gute keinen Anteil hat».

Möchte man Weil für kritische Gegenwartsdiagnosen fruchtbar machen, muss man sich mit diesen Aspekten auseinandersetzen. In Hans Lektüre geschieht das allerdings kaum, ihm zufolge hat sich Weil auf die «ursprüngliche Bedeutung» des Katholizismus berufen. Ebenso vorbehaltlos erhebt er ihre problematische Gegenüberstellung der christlichen Jenseitsvorstellung und des angeblichen Immanenzglaubens des Alten Testaments zum Zentrum ihres Denkens. Dass dergleichen bei Han unhinterfragt bleibt, ist nicht weniger fragwürdig als seine schale Neoliberalismuskritik.

Buchcover von «Sprechen über Gott. Ein Dialog mit Simone Weil»
Byung-Chul Han: «Sprechen über Gott. Ein Dialog mit Simone Weil». Sachbuch. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2025. 124 Seiten.