«Neuer Realismus»: Nicht ohne meine mentalen Ereignisse
Der Bonner Philosoph Markus Gabriel will mit der Welt gleich auch die Weltbilder verabschieden. Trotzdem kämpft er für eine «Kosmopolitik der radikalen Mitte». Nicht sein einziger Widerspruch.
Ein US-Präsident, der zum Sturm auf das eigene Parlament aufruft, eine Regierung in Budapest, die LGBT-Paaren die Heirat per Gesetz verbietet, ein saudi-arabischer Thronfolger, der seine journalistischen Kritiker mit einer Säge zerlegen lässt. Seit über einem Jahrzehnt scheint die Welt nicht nur im Würgegriff eines ultrarechten Backlashs, sondern auch am Rande eines moralischen Bankrotts. In diesem real existierenden Albtraum lässt es natürlich aufhorchen, wenn einer plötzlich das Gegenteil behauptet.
«Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten» hat der Philosoph Markus Gabriel eines seiner jüngsten Bücher benannt. Darin behauptet er mit Verve, dass «moralischer Fortschritt möglich» sei. Im Untertitel beschwört der Wissenschaftler gar «universale Werte für das 21. Jahrhundert». Gibt es doch einen Ausweg aus dem Jammertal?
Primat der Realität
Glaubt man dem Feuilleton, dann ist der 1980 im deutschen Rheinland geborene Markus Gabriel, neben dem Kulturpessimisten Byung-Chul Han und dem Tech-Enthusiasten Armen Avanessian, einer der neuen «philosophischen Superstars» («Die Welt»). Die Öffentlichkeit frappierte jedenfalls die Tatsache, dass der Mann 2009, mit gerade mal 29 Jahren, eine Professur für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn antrat. Die Publikationsliste des heute Vierzigjährigen umfasst bereits über zwanzig Titel.
Unter «Sinn und Existenz» – so ein heideggernder Gabriel-Titel aus dem Jahr 2016 – macht es der Mann mit der hippen Hornbrille, dem knappen Designeranzug und dem jungenhaften Lächeln nicht. Bekannt geworden ist Gabriel unter dem Label des «Neuen Realismus». So hiess ein Suhrkamp-Band aus dem Jahr 2014.
Wenn der Bonner Denker mit diesem «Neuen Realismus» gegen die «postmoderne Flucht vor den Tatsachen» ins Feld ziehen will, wie er der NZZ 2016 anvertraute, denkt man eher an einen philosophischen Kampf- als an einen Ordnungsbegriff. Die Vehemenz, mit der der sonst sehr charmante Herr Gabriel auf die Thesen von Jean Baudrillard und Konsorten, Realität und Wahrheit seien nur Konstruktionen, eindrischt, offenbart einen gewissen Dogmatismus. Welcher freilich offene Türen einrennt. Gabriels Frankfurter Kollege Martin Seel hielt ihm entgegen, die «Tatsachen» seien schliesslich gar nie weg gewesen. Der Streit um den «Neuen Realismus» hat auch etwas von einem akademischen Stellungskrieg.
Mit seinem jüngsten Buch, «Fiktionen», will er seine Position keineswegs revidieren. Auch in diesem voluminösen Werk verficht er den Primat der real existierenden Realität. Fiktionen hält er freilich für ihren konstitutiven Bestandteil. Damit meint er nicht Luftschlösser oder Halluzinationen, sondern Grundmodule unserer Wahrnehmung. Gabriel definiert sie als «mentale Ereignisse in den Zwischenräumen unserer Bezugnahme auf Gegenstände in Szenen unseres Lebens». Gleichsam sekündlich entwerfe der Mensch, so Gabriel, Fiktionen der ihn umgebenden Welt.
Nicht ganz taufrisch
Ohne Fiktionen, also ohne «partiell explizierbare Annahmen darüber, wie die jeweils nicht erlebte Umgebung unseres Wahrnehmungsfeldes ausstaffiert ist», komme niemand den Tatsachen näher. So begründet Gabriel seine schwer widerlegbare These, dass wir auf dem Weg zum Sein nicht am Schein vorbeikommen. Ganz taufrisch ist die Idee, dass es keine direkte Wahrnehmung «realer» Dinge gibt, natürlich nicht. Aber wenn Gabriel diese Dinge als mit fiktionalen Elementen «angereicherte Wahrnehmung» definiert, qualifiziert er den «Neuen» plausibel zum «fiktionalen Realismus». Ohne ihn freilich von den vielen Unterformen abzugrenzen, die die Philosophie seit Protagoras hervorgebracht hat: den «naiven», den «schwachen» oder den «kritischen» Realismus. Auch einen «Alten Realismus», von dem erst er sich absetzen könnte, nennt der Prophet des «Neuen» nirgends.
Trotz dieser Unterlassungssünden arbeitet Gabriel angemessen dialektisch und gibt sich keineswegs als Steinzeitmaterialist. Das gilt auch für seine Argumente gegen die These, der Mensch sei nur noch «sozial konstruiert». Ein ähnlich unauflösliches Amalgam wie Fiktion und Realität gehen für ihn auch Natur und Gesellschaft ein. «Menschen wachsen nicht auf Bäumen», lautet einer der absurden Merksätze, mit denen er gern argumentiert. Sie entstünden vielmehr als Ergebnisse eines Aktes «sozialer Kooperation», gemeinhin auch unter der Vokabel Fortpflanzung bekannt.
Linken wird an Markus Gabriel gleichwohl nicht schmecken, dass er mit dieser Rehabilitierung des ideologieverdächtigen «Scheins» gleich alle Weltbilder verabschieden will. Wie schon in «Sinn und Existenz» hält er sie auch im jüngsten Buch für «schädliche Denkformen». Die radikale Forderung, wir sollten diese «im Orkus haltloser, objektstufiger Metaphysik verschwinden lassen», hat allerdings mehr mit Erkenntnistheorie als mit einer Linksphobie zu tun: Gabriel hat schlicht Probleme mit (dem Begriff) der Totalität.
«Die Welt als etwas Allumfassendes gibt es nicht», schreibt er in seinem 2013 erschienenen Band «Warum es die Welt nicht gibt». Als Konzept sei eine Idee wie «Welt» «nicht geeignet, der Vielfalt dessen, was existiert, gerecht zu werden». Schon deshalb, weil mensch nicht alles, was zu ihr gehören könnte, erkennen könne.
So bedenkenswert das ist, so wenig neu ist auch das. Die Geschichte der Philosophie durchzieht in Gestalt des «Universalienstreits» die Skepsis gegenüber Allgemeinbegriffen wie etwa dem Konzept «Rot». Für den Nominalismus sind das bloss Abstraktionen, er erkennt höchstens Einzeldinge an. Doch würde das, nebenbei bemerkt, nicht auch für «die Postmoderne» gelten, in der Gabriel höchst unterschiedliche Einzeldenker zusammenschnurren lässt?
Wichtige Erzählungen
Dass ihn sein kategorischer Universalismus politisch blind machen kann, demonstriert Gabriel, als er sich im Gespräch mit der NZZ als Kronzeugen gegen die Identitätspolitik der akademischen Linken vorführen lässt, ohne die Diversitätsdefizite in der Politik zu benennen, die diese überhaupt erst auf den Plan gerufen hatte. Und in seinem jüngsten NZZ-Essay liess er sich mit der Überschrift «Es gibt auch Lockdown-Fanatiker» gar in die Nähe der CoronaskeptikerInnen rücken. Obwohl er doch nur darauf hinweisen wollte, dass auch die Naturwissenschaften irren können.
Wenn Gabriel gegen begriffliche «Supertotalen» wie die der «Welt» zu Felde zieht, findet er für einen jahrhundertealten Streit sozusagen eine zeitgemässe rhetorische Volte. Diese lässt sich publizistisch gut vermarkten, weil sie so spektakulär daherkommt – mit ungeahnten Folgen. Was wird etwa aus den ApologetInnen einer «welthaltigen» Literatur, wenn dieses Desiderat bloss ein Phantom sein soll? Das mediale und diskursive Strohfeuer, das derlei Schockkonzepte entfachen, erklärt auch den Erfolg des Phänomens Markus Gabriel. Plötzlich sprechen alle von einer neuen Ära. Und deren selbsternannte Galionsfigur widerspricht natürlich nicht.
Einen interessanten Schluss lässt sein Gedanke dennoch zu: Wenn sich die Einzelteile dieses namenlosen Ganzen, die Gabriel in «Sinnfeldern» (Physik, Literatur, Ökonomie) ordnet, nur narrativ zu einem grösseren Ganzen verbinden lassen, käme den künstlerischen und literarischen Ausdrucksformen eine Schlüsselrolle zu. In diesen «Erzählungen» sind wir fehlbar. Und müssen uns von anderen Erzählungen korrigieren lassen. Das markiert für Gabriel den Unterschied zu den ebenfalls fiktionalen Fake News. So wie er auf die «Einbildungskraft» – als Triebkraft des Erzählens und als Schlüsselmoment menschlicher Selbstbestimmung – fokussiert, findet er einen wichtigen Punkt.
Im Übrigen kann Gabriel mit gewissen Weltbildern sehr wohl etwas anfangen. Schliesslich tritt er in seinem Pamphlet «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten» für eine «Kosmopolitik der radikalen Mitte» ein. Er ruft ein neues «Zeitalter der Pandemie der neuen Aufklärung», gar eine «Republik der Humanistischen Universalisten» aus.
Nicht dass sich etwas gegen die «Reformatierung der globalen Ordnung» oder gegen seine Kritik am eurozentrisch verengten Universalismus einwenden liesse. Aber es ist womöglich kein Zufall, dass in Gabriels flammendem Appell für eine Gesellschaftsordnung jenseits von Planwirtschaft und Neoliberalismus die Verteilungsfrage allenfalls als ethisches Dilemma vorkommt.
Wie Gabriels neue «Weltordnung jenseits einer Anhäufung von gegeneinander kämpfenden Nationalstaaten, die von einer zynischen quantitativen Wirtschaftslogik» angetrieben werden, allerdings genau aussehen soll – da bleibt der Philosoph erstaunlich vage. Und dass moralischer Fortschritt möglich sei, «weil keine noch so furchtbare Zeit so dunkel ist, dass die moralischen Tatsachen völlig verdunkelt werden können», ist eine etwas dünne Erkenntnis für die dicken Bände, mit denen Gabriel die Welt, die es nicht gibt, gern in Erstaunen versetzt.
Markus Gabriel: «Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert». Ullstein Verlag. Berlin 2020. 368 Seiten. 28 Franken.
Markus Gabriel: «Fiktionen». Suhrkamp Verlag. Berlin 2020. 636 Seiten. 45 Franken.