Filmfestival: Wer die Regeln bricht

Nr. 21 –

In Cannes verzaubert Richard Linklater mit seiner Hommage an die Nouvelle Vague. Für weniger angenehme Gefühle sorgen Ari Aster und Lynne Ramsay – mit unterschiedlichem Erfolg.

Diesen Artikel hören (6:10)
-15
+15
-15
/
+15
Still aus dem Film «Die, My Love»
Mitten in der postnatalen Depression: Lynne Ramsays «Die, My Love» mit Jennifer Lawrence ist wagemutig und schwierig auszuhalten.  Filmstill

Es braucht einen gewissen Mut, um als US-Regisseur ausgerechnet in Cannes einen Spielfilm über die Nouvelle Vague zu präsentieren. Erst recht, wenn darin die Entstehung eines der legendärsten Filme dieser Bewegung nachgespielt wird: Jean-Luc Godards «À bout de souffle». Der Texaner Richard Linklater zeigte allerdings schon mit «Before Sunrise» (1994) ein aufrichtiges Interesse an Europa, wo dann auch die weiteren Teile der Trilogie angesiedelt waren. Jetzt geht er einen Schritt weiter und legt mit «Nouvelle Vague» seinen ersten Film in französischer Sprache vor. In seiner Herangehensweise bleibt das absolut ein «American Indie», woraus sich eine reizvolle Reibung ergibt. Das Publikum an der Croisette zeigte sich regelrecht verzaubert.

In stimmungsvollen Schwarzweissbildern rekonstruiert Linklater das Paris des Spätsommers 1959 mit seiner Szenerie von jungen Menschen, für die das Kino der zentrale Lebensinhalt ist. Zuerst kommt das übertrieben drollig daher: Jede Figur wird per Schrifteinblendung mit vollem Namen vorgestellt, die meisten halten dabei eine brennende Zigarette in der Hand, und für fast jede der einschlägigen Personen – Claude Chabrol, François Truffaut, Éric Rohmer, Agnès Varda, Jean-Paul Belmondo und, und, und – hat Linklater würdige Doubles gefunden. Der so gut wie unbekannte Guillaume Marbeck verkörpert den Schweizer Regisseur Godard, und die Tatsache, dass er seine Sonnenbrille weder im Café noch in den Redaktionsräumen der «Cahiers du cinéma» je ablegt, täuscht darüber hinweg, dass der Schauspieler seinem Vorbild kaum ähnelt. Godards Arroganz und Eitelkeit bringt Marbeck sehr gut zum Ausdruck, er verleiht seiner Figur sogar mehr Charme, als historisch verbürgt ist.

Zwanzig Tage Nonchalance

Der hintergründige Humor der Inszenierung Linklaters erinnert an seinen texanischen Kollegen Wes Anderson, aber die Lockerheit, mit der er die Arbeit der vielen jungen Männer und wenigen Frauen während des zwanzig Tage dauernden Drehs zeigt, hat auch etwas von seinen eigenen Jungsfilmen wie «Dazed and Confused». Die Dialoge sind streckenweise überfrachtet mit Godard-Sentenzen übers Filmemachen und Regelbrechen, doch Linklaters Nonchalance lässt Raum für jene Art von «Fun», der den Zeitgeist von damals erstaunlich gut trifft. So macht «Nouvelle Vague» sichtbar, wie improvisiert und zufällig «À bout de souffle» zustande kam und wie Godard und Konsorten nicht nur von der Lust am Aufbegehren inspiriert waren, sondern auch von der Liebe zum US-Kino.

Mit Regelbrüchen gegen den herrschenden Geschmack anzustänkern, das ist heute schwieriger als damals. Ari Aster, mit «Hereditary» und «Midsommar» zu einem Meister des Kinos der unangenehmen Gefühle aufgestiegen, will mit «Eddington» zumindest provozieren. Der Titel ist der Name einer fiktiven Kleinstadt in New Mexico, wo im Schicksalssommer 2020 diverse USA-Klischees aufeinanderprallen: Joaquin Phoenix als Sheriff, der Pandemiemassnahmen verachtet, Pedro Pascal als sich liberal gebender Bürgermeister, dazu eine Gruppe narzisstischer Jugendlicher, die für Black Lives Matter demonstrieren – und um sie herum jede Menge traurige Gestalten, die abstrusen Verschwörungstheorien anhängen. Als grelle Karikatur bereitet das alles bis zu einem gewissen Punkt Vergnügen, driftet aber in der zweiten Hälfte in überflüssige Exzesse ab. In einer Hinsicht enttäuscht Aster nicht: Sein Film spaltet das Publikum. Wo die einen eine treffend-bittere Satire auf die USA von heute erkennen wollen, sehen andere nur flaches Sprechblasenkino und kalkulierte Schock- und Gewaltszenen.

Knistern und summen

Wagemutiger ist die Art und Weise, wie die Schottin Lynne Ramsay mit den klassischen Formen des Erzählkinos bricht. Ihr neuer Film «Die, My Love» besteht aus starken, sinnlichen Bildern und Sequenzen, die den Zustand einer Frau (Jennifer Lawrence) in postnataler Isolation und Depression ausdrücken. Der Film verweigert die einfachen Erklärungen: Was diese junge Mutter fühlt, gegenüber ihrer Umgebung wie auch gegenüber ihrem zu oft abwesenden Partner (Robert Pattinson), das sitzt tiefer und ist zerstörerischer und geheimnisvoller. Es ist ein Film, der schwierig auszuhalten ist, aber lange nachhallt.

Im diesjährigen Wettbewerb mit 22 Filmen ist Ramsay eine von sieben Regisseurinnen – was für Cannes leider schon Rekord bedeutet. Wie sehr es sich für das Festival lohnt, Werke von Frauen in den Wettbewerb aufzunehmen, belegt auch der deutsche Beitrag «In die Sonne schauen» der bis dahin kaum bekannten Mascha Schilinski. Es ist ein Film ohne Plot, aber mit reichhaltiger Geschichte: Zwischen Kaiserreich, Nazizeit, DDR-Epoche und Gegenwart wechselt Schilinski Zeiten und Figuren, aber nie ist es ein harter Schnitt, immer steht die Sinneserinnerung im Vordergrund – und mit dieser Sinnlichkeit auch das Besondere der jeweiligen Zeiten, samt den patriarchalen Verhältnissen, die für Mädchen und junge Frauen besondere Konsequenzen haben.

«In die Sonne schauen» ist ein Film, der mit leisen Geräuschen wie dem Knistern einer Schallplatte oder dem Summen einer Biene arbeitet und mit körnigen, atmosphärischen Bildern, die seine Materialität spürbar machen – und der so einen visionären Reichtum entfaltet.