«Les Olympiades»: Neue Wellen, alte Perspektiven
Jacques Audiard setzt in «Les Olympiades» auf ein weibliches Drehbuch. Sein Film ist visuell und musikalisch betörend, erzählerisch etwas weniger, und am Ende dringt der alte männliche Blick doch wieder durch.
Ah, Paris, Stadt der Liebe, der Ménage-à-trois, der Nouvelle Vague. Die nostalgischen Gefühle, die die Bewegung um Godard, Truffaut und Rohmer bei Filmliebhaber:innen immer noch auslöst, mögen mehr mit ihrer ästhetischen Frische und den unbekümmerten Erzählformen in Verbindung stehen als mit den gar nicht so modernen Geschlechterrollen. Die Coolness war die Sache von Männern wie Jean-Paul Belmondo und Jean-Pierre Léaud, während Jean Seberg und Anna Karina eher idealisierte Projektionen einer unschuldigen oder verführerischen Weiblichkeit als Charaktere aus Fleisch und Blut darstellten.
Das ist keine besonders neue oder originelle Beobachtung und wurde überdies in Jean Eustaches «La Maman et la Putain» von 1973 bereits filmisch perfekt dekonstruiert. Umso enttäuschender, wenn ein neuer Film wie «Les Olympiades», der so deutlich von der Ästhetik und der liberalen Sexualpolitik der Nouvelle Vague inspiriert wirkt und dessen Drehbuch überdies von Céline Sciamma («Portrait de la jeune fille en feu») und Léa Mysius («Ava») stammt, dermassen in überholt geglaubte Repräsentationsformen zurückfällt.
Bereits der Anfang ist zwiespältig. Wunderschön komponierte Schwarzweissbilder aus dem 13. Pariser Arrondissement, dazu ein treibender Elektrobeat. Die Kamera streift über die Gebäude, legt sich auf ein Fenster, eine Geschichte fest. Die erste Person, die wir sehen, ist Emilie (Lucie Zhang), wie sie, nackt auf dem Sofa sitzend, eine chinesische Ballade ins Mikrofon singt. Hinzu tritt Camille (Makita Samba), ein schöner Schwarzer Mann, auch er ohne Kleidung, seine Nacktheit im Gegensatz zu ihrer aber verdeckt durch die Kameraperspektive und die Anordnung der Körper im Raum. Auch das ist nichts Neues, entspricht ganz dem von Hollywood seit Jahrzehnten etablierten Standard, wie die Körper von Frauen und Männern zu inszenieren sind.
Unklare Verbindlichkeiten
Gerade in einem Film aber, der so offensichtlich eine Modernisierung der Nouvelle Vague anstrebt und dessen Regisseur Jacques Audiard in Interviews gern betont, wie wichtig ihm bei diesem Film die Zusammenarbeit mit den weiblichen Teammitgliedern war, wirkt dieser offensive Fokus auf den weiblichen Körper irritierend. Es geht dabei nicht darum, die Anzahl der sichtbaren Geschlechtsteile gegeneinander aufzurechnen, aber wenn hier die Körper der beiden Hauptdarstellerinnen Lucie Zhang und Noémie Merlant ständig in ihrer ganzen Pracht gezeigt werden, während der einzige im Film auftauchende Penis (in einem Dickpic) verpixelt wird, fällt doch etwas auf. Zum Beispiel, wie viel interessanter «Les Olympiades» hätte sein können, wenn der Film von Claire Denis oder Agnès Varda inszeniert worden wäre.
Dieses hier vielleicht etwas irritierend wirkende Insistieren auf nackte Tatsachen kommt nicht von ungefähr, handelt es sich bei «Les Olympiades» doch um ein sehr modernes und durchaus sinnliches Beziehungsdrama. Das Drehbuch, das auf mehreren Kurzgeschichten des US-Comiczeichners Adrian Tomine basiert, erzählt vom Doktoranden Camille, der in die Wohnung der chinesischstämmigen Emilie einzieht und ihr Liebhaber wird. Die Verbindlichkeiten bleiben ungeklärt, bis aus der sexuellen Zweckbeziehung erst nichts, dann Freundschaft, dann Liebe wird. Unterdessen trifft Camille auf Nora (Noémie Merlant), eine 33-jährige Jurastudentin, die ihrerseits aufgrund einer etwas unglaubwürdigen Verwechslung aus der gar nicht so progressiven Sorbonne gemobbt wird. Ursprung der Verwechslung ist das Webcam-Girl Amber Sweet (Jehnny Beth, Sängerin der britischen Frauenrockband «The Savages»), und in einer noch etwas unglaubwürdigeren Drehbuchentwicklung beginnen sich nun auch Nora und Amber einander anzunähern.
Sex statt Gespräche
Dazwischen gibt es viel Sex zwischen Camille und den Frauen, Enttäuschungen, Missverständnisse und eben ein Dickpic. Die aufrichtigen langen Gespräche zwischen Mann und Frau allerdings, zu denen Audiard gemäss eigener Aussage von Éric Rohmers «Ma nuit chez Maud» inspiriert wurde, scheinen grösstenteils dem Schnitt zum Opfer gefallen zu sein, wie auch viele Momente, in denen die Figuren etwas mehr Charakterisierung hätten erfahren können. So wirken die einzelnen Erzählungen etwas unausgegoren, oder vielmehr ein bisschen zu stark zugunsten von anderem gestrafft.
Trotz all dieser Kritik ist «Les Olympiades» kein schlechter oder gar langweiliger Film. Die Kombination der Schwarzweissbilder mit dem authentisch wirkenden Puls der Stadt, der Musik und seiner Figuren ist durchaus verführerisch, und Audiard hatte sein Gespür für die sinnliche Inszenierung von attraktiven Körpern bereits 2012 mit «De rouille et d’os» unter Beweis gestellt. Auch gelingt es insbesondere Newcomerin Lucie Zhang, aus ihrer etwas dünn gestrickten Figur ein Maximum an ambivalentem Charisma herauszuholen.
Am Ende bleibt aber doch der Eindruck, dass, wenn man die Nouvelle Vague mit dem Drehbuch von zwei der interessantesten zeitgenössischen Regisseurinnen ins 21. Jahrhundert retten möchte, die Perspektive eines alten weissen Mannes vielleicht nicht die beste Wahl ist.
Les Olympiades. Regie: Jacques Audiard. Frankreich 2021