Rassistische Polizeigewalt : Niemand soll etwas gesehen haben
Mit Michael Kenechukwu Ekemezie starb schon wieder ein Schwarzer Mann nach einer Festnahme in Lausanne. Die Mühlen der Justiz mahlen bereits zugunsten der Polizei.

Am Sonntagabend am 25. Mai trafen sich zwei Männer gegen 21 Uhr im Lausanner Quartier du Flon. Einer von ihnen war Schwarz. Zwei Polizeibeamte stiessen hinzu und beschlossen, ihn zu kontrollieren. «Sein Verhalten deutete auf eine mögliche Beteiligung am Drogenhandel hin», schrieb die Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt am Tag darauf in einer Mitteilung, ohne dieses Verhalten näher zu definieren. Gemäss der Schilderung der Staatsanwaltschaft hat der Mann während der Kontrolle die Flucht ergriffen, wurde aber kurz darauf festgenommen. Nachdem er sich zunächst «widersetzt» habe, sei der Mann zur Wache gebracht worden. Dort, so die Mitteilung, sei er zusammengebrochen. Kurz nach 22 Uhr war Michael Kenechukwu Ekemezie tot – Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos.
Keine 24 Stunden später gab die Waadtländer Staatsanwaltschaft gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Sender RTS an, es habe «weder Augenzeug:innen noch ein Zu-Boden-Bringen oder einen Würgegriff durch die Einsatzkräfte» gegeben. Wie RTS gegenüber der WOZ bestätigt, sei das Zitat mittlerweile aufgrund «widersprüchlicher Aussagen» aus dem entsprechenden Onlineartikel entfernt worden. Offenbar hatte man nicht besonders gründlich gesucht. Denn tags darauf tauchte ein Video der Festnahme in den Medien auf.
Fünf Tote in neun Jahren
Die Aufnahme stammt von einer älteren Anwohnerin, die das Geschehen von ihrem Balkon aus filmte. Zu sehen ist ein Polizist, der den auf dem Bauch liegenden Ekemezie mit vollem Körpereinsatz niederdrückt und versucht, ihm den Arm hinter den Rücken zu reissen – was der anfänglichen Darstellung der Staatsanwaltschaft zusätzlich widerspricht. «Leg die Hände auf den Rücken!», schreit der Beamte auf Englisch, während Ekemezie laut über Schmerzen klagt. Laut der Anwohnerin seien nach zehn bis fünfzehn Minuten zwei weitere Polizisten eingetroffen und hätten dem Mann Handschellen angelegt. Ein weiterer Zeuge sagte gegenüber RTS, er habe gesehen, wie «das Gesicht des Afrikaners seitlich auf den Boden gedrückt wurde». Gemäss dem aktivistischen Onlinekanal «Ragekit» hätten sich seither rund zehn Augenzeug:innen auf Aufrufe von Aktivist:innengruppen gemeldet. Derweil vermeldete RTS die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen fahrlässiger Tötung gegen vier an der Festnahme beteiligte Polizeibeamte.
Laut deren Anwalt lasse sich bislang kein Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Polizei und Ekemezies Zusammenbruch erkennen. RTS beruft sich auf anonyme Quellen, wonach der Mann während der Reanimation auf der Wache mit Plastik umhüllte Kokainkugeln ausgespuckt haben soll – platzt eine solche Kugel im Körper, kann das tödlich enden. Eine Autopsie soll nun die genaue Ursache des Kollapses klären.
Ekemezie war 39 Jahre alt und stammte aus Nigeria. Er sei Vater eines zweijährigen Sohnes und eines erst zwei Monate alten Mädchens gewesen, erzählt Céline Faye. Die Lausanner Aktivistin engagiert sich beim Kollektiv Kiboko gegen rassistische Polizeigewalt. Laut Angehörigen sei Ekemezie ein ruhiger, zurückhaltender Mensch gewesen. Er lebte zwischen Nigeria und der Schweiz, schickte regelmässig Geld nach Hause. Wegen fehlender Arbeitserlaubnis hatte er seine Unterkunft verloren, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch – und engagierte sich bei der Gruppe Canopy für die Rechte von Sans-Papiers. «Er kämpfte für ein würdigeres Leben hier», so Faye.
Am Dienstag nach Ekemezies Tod versammelten sich etwa 350 Menschen vor dem betroffenen Polizeiposten in Lausanne. Auf Transparenten stand: «Der Schweizer Staat tötet». Die Wut ist nachvollziehbar – denn Ekemezies Tod ist kein Einzelfall: Seit 2016 starben im Kanton Waadt vier weitere Männer bei Polizeieinsätzen: Lamin Fatty, Hervé Mandundu, Mike Ben Peter und Roger «Nzoy» Wilhelm. Alle waren Schwarz. Zur Verantwortung gezogen wurde niemand.
Ignorierte Beweise
Nur wenige Meter entfernt vom Ort, an dem Michael Ekemezie verhaftet wurde, starb 2018 der 39-jährige Mike Ben Peter bei einer Drogenkontrolle, nachdem Polizisten minutenlang auf seinem Rücken gekniet hatten. Der Fall erinnert an George Floyd, dessen Tod weltweite Proteste gegen Polizeigewalt an Schwarzen entfachte. Doch während der Täter in den Vereinigten Staaten zu über 22 Jahren Haft verurteilt wurde, sprach das Waadtländer Kantonsgericht im Juli 2024 alle sechs angeklagten Beamten in zweiter Instanz frei.
Tarek Naguib, Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz und Experte im Bereich Antidiskriminierungsrecht, verweist ausserdem auf Parallelen zum Fall von Wilson A.: 2009 wurde dieser in Zürich bei einer unbegründeten Kontrolle mit Pfefferspray, Faustschlägen und Schlagstöcken niedergestreckt. Er trug einen Herzschrittmacher und erlitt lebensgefährliche Verletzungen. Wie bei Wilson A. zeige Ekemezies Fall einmal mehr klar auf: «Für Schwarze Männer besteht aufgrund von Rassismus ein erhöhtes Risiko, durch eine Polizeikontrolle ums Leben zu kommen.»
Dieses strukturelle Problem werde von Gesellschaft und Politik laut Naguib nach wie vor «massiv unterschätzt». Fälle würden kaum je juristische Konsequenzen nach sich ziehen, und Strafverfolgungsbehörden seien selten bereit, genau hinzuschauen. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der Fall Roger «Nzoy» Wilhelm: Der 37-jährige Zürcher mit südafrikanischen Wurzeln wurde 2021 am Bahnhof Morges von der Waadtländer Polizei erschossen. Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren im November 2024 ein. Doch vergangene Woche ordnete das Waadtländer Kantonsgericht die Wiederaufnahme an, nachdem der Anwalt der Angehörigen eine Beschwerde eingereicht hatte. Der Grund: Die Ermittlungen seien mangelhaft gewesen.
Verfahren würden oft früh ad acta gelegt und die Polizei freigesprochen, sagt Naguib. Nicht selten, weil die Staatsanwaltschaft gar kein Interesse an einer Aufklärung zeige. Fehlende externe Gutachten, ignorierte Beweise, gezielte Verzögerungstaktiken: Die Liste möglicher Behinderungen ist lang. «Es gibt unzählige Stellschrauben, mit denen sich Verfahren lenken oder eben stoppen lassen.»
Und so ziehen sich die Verfahren hin. Das von Wilson A. etwa dauert bereits vierzehn Jahre – vierzehn Jahre, in denen die Staatsanwaltschaft wiederholt versuchte, das Verfahren einzustellen, in denen die verschiedenen Instanzen Freisprüche verfügten. Nun liegt der Fall beim Bundesgericht. Verliert Wilson A. erneut, bleibt nur noch der Weg an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Cowboys von Lausanne
Tarek Naguib hegt wenig Hoffnung, dass Michael Ekemezies Tod sorgfältig aufgearbeitet wird. Dass die Staatsanwaltschaft so schnell und fälschlicherweise mitteilte, es gebe keine Augenzeug:innen – noch dazu in einem dicht besiedelten Quartier –, lasse nichts Gutes erwarten. Ziemlich sicher sei damit bereits gegen menschenrechtliche Grundsätze verstossen worden: «Die Staatsanwaltschaft könnte ihre Untersuchungspflicht verletzt haben.»
In der Schweiz arbeiten Polizei und Staatsanwaltschaft eng zusammen. Bei Verfahren gegen Polizeibeamt:innen beklagen Aktivistinnen und Juristen immer wieder die fehlende Unabhängigkeit. Laut Naguib führt dies zu einem strukturellen Ungleichgewicht zuungunsten der Opfer von Polizeigewalt: «Die ordentlichen Staatsanwaltschaften und die Gerichte tendieren dazu, die Polizei zu schützen, unangenehme Wahrheiten unter den Teppich zu kehren.»
Eine mögliche Lösung sieht Naguib in der Schaffung von Spezialstaatsanwaltschaften – Behörden, die ausschliesslich für Fälle von Machtmissbrauch seitens der Polizei zuständig wären und nicht in jenem komplexen Geflecht aus Nähe und Loyalität verstrickt, das herkömmliche Staatsanwaltschaften mit der Polizei verbindet.
Auch Aktivist:innengruppen in der Romandie kritisieren die mangelnde Unabhängigkeit der Strafverfolgungsbehörden bei Fällen von Polizeigewalt im Kanton Waadt. An einer Demonstration am kommenden Samstag in Lausanne werden Faye und weitere Aktivist:innen deswegen fordern, dass die Ermittlungen im Fall Ekemezie zur Minimierung von Interessenkonflikten an die Staatsanwaltschaft eines anderen Kantons übertragen werden. Zwar wäre das keine Sonderstaatsanwaltschaft, aber wohl das Beste, was sich im bestehenden System erreichen lässt.
«Die Polizisten in der Waadt benehmen sich wie Cowboys», sagt Faye. «Es kann nicht sein, dass Schwarze immer wieder sterben, wenn sie in die Hände der Polizei geraten. Wäre Michael weiss gewesen, würde er noch leben.»