Schwarze Menschen in der Schweiz: Sie sollen den Frieden nicht stören

Nr. 46 –

Wie rassistisch sind Schweizer Institutionen gegenüber Schwarzen Menschen? Das Land übt sich in Verdrängung – sei es bei der Polizei, in der Bildung oder in der Strafjustiz.

Antirassistische Demonstration am 3. September 2022 in Zürich: Auf einem Schild steht «Justice 4 NZOY»
Roger Wilhelm, den alle Nzoy nannten, wurde am 30. August 2021 in Morges von einem Polizisten getötet: Antirassistische Demonstration am 3. September 2022 in Zürich.

Ein Mann ruft vom Strassenrand in die Menge: «Was wollt ihr denn? Das passiert doch nur in den USA!» Es ist Anfang September 2022, etwa 2000 Menschen ziehen durch Zürich. Sie demonstrieren gegen den gewaltsamen Tod von Nzoy. Ein Tod, der die Schweiz nicht aufgewühlt hat. Obwohl seine Details verstörend sind.

Roger Wilhelm, den alle nur Nzoy nannten, stirbt am 30. August 2021 am Bahnhof von Morges, niedergestreckt von den Schüssen eines Polizisten. Der 37-jährige Zürcher mit südafrikanischen Wurzeln war an diesem Tag von Zürich unterwegs nach Genf. Niemand weiss, weshalb er in Morges aus dem Zug stieg. Keiner kennt die genauen Gründe dafür, dass Nzoy sich auf die Gleise begab und schliesslich auf die herbeigerufenen Polizisten zuwankte. Es ist überdies nicht klar, ob er das Messer, das neben ihm gefunden wurde, tatsächlich in der Hand hatte, als er den Polizisten entgegenschritt.

Kein Schweizer Gericht hat je ein rassistisches Fehlverhalten eines Polizisten festgestellt.

Mit Sicherheit sagen können seine Angehörigen bis heute allein, dass der Getötete in seinen letzten Lebenswochen in schlechter psychischer Verfassung war. Und dass seine Erscheinung den Polizisten, der die Schüsse auf ihn abfeuerte, in übertriebene Angst versetzt haben muss. Ein Video, das nach dem Vorfall öffentlich wurde, beweist: Als Nzoy, der sich nach den ersten Schüssen noch einmal aufgerappelt hatte und weiter auf die Polizisten zugewankt war, definitiv auf dem Boden liegen blieb, taten die Polizisten vier Minuten lang nichts, um sein Leben zu retten. Die Beamten durchsuchten stattdessen mit den Füssen den schlaffen Körper nach Waffen, legten Nzoy in Handschellen.

Nzoys Schwester Evelyn Wilhelm lässt sich auf der Demonstration immer wieder zurückfallen, stellt sich einmal auf eine Bank, um die Menge zu überblicken, die sich durch die Strassen und Gassen schiebt, laut und wütend, mit brennenden Pyrofackeln. Mächtig wirkt der Aufmarsch an diesem Spätsommertag. Zwei Monate später sagt Wilhelm in einem Zürcher Café: Für den Moment habe die Kundgebung etwas Halt gegeben. «Doch dann realisierst du schnell wieder, dass es einfach viel zu wenige Menschen sind, die auf die Strasse gehen. Viel zu wenige, die sich interessieren.»

«Eindeutiges Beispiel für Rassismus»

In der Schweiz gab es nie eine Rassentrennung wie in den USA, hier gibt es keine Ghettos, in denen überwiegend Schwarze Menschen leben, die sichtbar wirtschaftlich diskriminiert sind. Keine vergleichbare Gefängnisindustrie, die Schwarze Menschen seit der Abschaffung der Sklaverei weiterhin als Zwangsarbeiter:innen ausbeutet.

Als Anfang dieses Herbsts eine Uno-Sondergruppe die Schweiz für ihr «rassistisches Verhalten gegenüber Menschen mit afrikanischer Abstammung» rügte, wies die offizielle Schweiz die Kritik weit von sich. Eingeschaltet hatte sich die Uno in erster Linie, um den Fall Brian zu untersuchen (vgl. «Kommen die Behörden auf die Anklagebank?»). Die Sondergruppe für Menschen mit afrikanischer Abstammung hielt fest, was in der hyperventilierenden Berichterstattung über den wohl berühmtesten Häftling der Schweiz über Jahre kaum verhandelt worden war: dass mit Brian ein Schwarzer Mann jahrelang in Isolationshaft gesessen hat. Dass die Behörden einem Schwarzen Mann willkürlich und mit ausserordentlicher Härte begegnet sind. Der Fall sei ein eindeutiges Beispiel für strukturellen Rassismus, lautete das Fazit des Berichts.

«Schule ist gerade für migrantische Kinder extrem eng und normierend.»
Rahel El-Maawi, Rassismus- und Bildungsexpertin

Die Gruppe kritisierte nach zahlreichen Treffen mit Expert:innen und Betroffenen überdies, dass rassistisches Verhalten gegenüber Schwarzen Personen in der Schweiz häufig sei, gerade bei der Polizei und in der Justiz. Der Schweizer Uno-Botschafter Jürg Lauber antwortete darauf: Struktureller Rassismus sei zwar ein wichtiges Thema, das weiter erforscht werden müsse, doch der Bericht der Expert:innengruppe beruhe auf Missverständnissen. Sie beriefen sich auf Einzelfälle, die für die Gesamtsituation nicht repräsentativ seien.

Jürg Laubers Antwort führt mitten ins grosse Verdrängen – in die selbstzufriedene Abwehrhaltung der Schweizer Politik und der Behörden.

Spätestens seit der Black-Lives-Matter-Bewegung ist die Schwarze Community auch hierzulande gut vernetzt und laut. In Zürich hält seit einiger Zeit ein Kollektiv einen Teil des Theaterhauses Gessnerallee besetzt und fordert ein nichtweisses Theater. Organisationen wie das Schwarz-feministische Bündnis Bla*Sh oder die Plattform «Exit Racism Now!» fordern die Öffentlichkeit auf anzuerkennen, dass die Schweiz strukturell rassistisch sei.

Gina Vega leitet bei Humanrights.ch die Fachstelle Diskriminierung und Rassismus und betreut das Beratungsnetz für Rassismusopfer. Sie sagt, es gehe um das Eingeständnis, dass Schwarze Menschen nicht nur in den USA oder in den Ländern, die Kolonien gehabt hätten, rassifiziert und stereotypisiert worden seien. Das Spezifische am anti-Schwarzen Rassismus sei die historische Komponente, die auch in der Schweiz fortwirke. «Die Enteignung von Territorien, die Ausbeutung von Ressourcen und die Sklaverei, mit der Amerika und Europa reich wurden, wurde mit der Abwertung Schwarzer Menschen gerechtfertigt. Das spiegelt sich in den Strukturen unserer Gesellschaft und deren Institutionen, aber auch in Filmen und anderen Kulturerzeugnissen wider. Wie Schwarze Menschen dargestellt und repräsentiert werden, wirkt in uns allen.»

Beim Beratungsnetz sind im vergangenen Jahr 630 Meldungen wegen rassistischer Diskriminierung eingegangen. Am häufigsten gemeldet werden Ausländer:innen- und Fremdenfeindlichkeit. Anti-Schwarzer Rassismus folgt mit 203 Meldungen auf Platz zwei. Vega sagt: «Auffällig ist, dass vor allem die Meldungen aus dem Bildungsbereich zunehmen. Hier geht es vor allem um rassistisches Mobbing vonseiten der Schüler:innen oder Lehrpersonen, die unhinterfragt selbst rassistisch handeln. Viele Vorfälle haben mit Stereotypisierungen zu tun, die auch in unseren Schulbüchern vorkommen. Und die auf den Pausenplätzen dann auf individueller Ebene reproduziert werden.»

Das Subtile am strukturellen Rassismus ist: Er lässt sich im Einzelfall nicht belegen. «Sich hinzustellen und zu sagen: ‹Dieser Fall ist Ausdruck von systemischem Rassismus›, hat etwas Fragiles», sagt die Rassismus- und Bildungsexpertin Rahel El-Maawi. El-Maawi arbeitet als Lehrbeauftragte für Soziokultur und hat das Bildungsprojekt «Ines» ins Leben gerufen. Das Projekt lässt Jugendliche und Lehrpersonen von ihren Erfahrungen im Schweizer Schulsystem berichten. Das Fazit, das El-Maawi aus diesem Austausch zieht: «Schule ist gerade für migrantische Kinder extrem eng und normierend.» Zwar gebe es viele engagierte Lehrer:innen, doch es fehle an Wissen über Kulturalisierung als eine Form von Rassismus und über ausgrenzende Praktiken. Viele Lehrer:innen brächten ein Weltbild mit, das die bestehenden Verhältnisse nicht hinterfrage. «Insbesondere Schwarze Kinder drohen damit auf den ihnen zugestandenen Platz verwiesen zu werden.»

Um strukturellen Rassismus belegen zu können, braucht es Daten. Doch diese fehlen in der Schweiz weitgehend.

Kriminalstatistiker Daniel Fink hat ein Buch über den Schweizer Strafvollzug geschrieben. Er sagt: «Die zehn Seiten, die man zum Vorhanden- oder Nichtvorhandensein von strukturellem Rassismus schreiben müsste, fehlen.» Denn zu diesem Thema würden kaum Daten erhoben, «und gerade die Hautfarbe ist kein statistischer Marker».

Dass gerade die deutschsprachigen Länder davor zurückschrecken, ihre Bevölkerung nach Hautfarbe aufzuteilen, ist aufgrund der Geschichte des Nationalsozialismus zwar nachvollziehbar. Doch führt diese Farbenblindheit dazu, dass nicht systematisch erforscht wird, wie Professor:innen Schwarze Student:innen bewerten, ob Richterinnen bei Schwarzen Menschen anders urteilen oder wie rassistisch Gefängnisaufseher gegenüber Schwarzen Personen sind. Für Fink hat dieses Wegschauen System: Die Schweiz sei arm an Statistik, sagt er. «Was gut untersucht wird, sind die Demografie und die Wirtschaft. Der Kapitalismus steht im Vordergrund. Mit sozialen Fragen beschäftigt man sich wenig. Weil man das Gefühl hat, es herrschten ja eh paradiesische Zustände.»

Der Historiker Urs Germann gibt zu bedenken, dass in der Schweiz des 20. Jahrhunderts im Gegensatz zu den USA «race» nie der entscheidende Differenzmarker gewesen sei, sondern meist Fremdenfeindlichkeit im Vordergrund gestanden habe. «Dass jedoch auch hier Bevölkerungsgruppen rassifiziert wurden, lässt sich gut an der Geschichte der Jenischen nachzeichnen. Und je diverser die Gesellschaft wird, desto mehr stellt sich die Frage, wie die weisse Mehrheitsgesellschaft darauf reagiert.»

Der Fuss auf dem Oberkörper

Uno-Botschafter Jürg Lauber verwies in seiner Antwort an die Uno-Expert:innengruppe auf den ersten staatlich finanzierten Bericht zu strukturellem Rassismus, der noch vor Jahresende erscheinen soll. Denise Efionayi-Mäder, die den Bericht am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien an der Universität Neuchâtel betreut hat, sagt, der Bericht liefere keine bahnbrechenden Erkenntnisse. «Wir können nur bestätigen, dass es bisher kaum gezielte Forschung gibt, und wir haben wirklich breit geschaut.» Zwar deckten verschiedene interessante Teilstudien, etwa zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt, Diskriminierungen auf, vor allem nach Herkunft. Zu anti-Schwarzem Rassismus gebe es dazu einige Befragungen. «Doch es wird nicht tiefer gegraben.»

Efionayi-Mäder sagt, ihre Studie habe gezeigt, dass alle umliegenden Länder beim Thema weiter seien. Auch in Deutschland etwa wurden in jüngerer Zeit grössere Studienprojekte zum Thema gefördert. Doch hierzulande stosse sie auf Abwehr. «Ich höre immer wieder, das Thema sei zu heikel, da müsse man vorsichtig sein, mitunter auch von Forscher:innen selber.»

Der Frieden soll nicht gestört werden. Das gilt auch für die Pädagogischen Hochschulen. Historikerin Eva Hug, die am Zürcher Institut Unterstrass Pädagog:innen ausbildet und am Projekt «Diversität, Inklusion und Chancengerechtigkeit in der Hochschulentwicklung» mitarbeitet, sagt: «Im Lehrplan 21 kommt das Wort ‹Rassismus› nicht ein einziges Mal vor. Er existiert in diesen Vorgaben nicht.» Hug will dies ändern und kämpft etwa für rassismuskritisches Schulmaterial und einen Geschichtsunterricht, der die Schweizer Rolle im Kolonialismus vermittelt. «Doch solche Anliegen haben es noch immer schwer.»

Mandundu, Fatty, Ben Peter, Nzoy

Evelyn Wilhelm lebt in einem Atelierloft über einem Laden. Seit ihr Bruder Nzoy vor einem Jahr in Morges von der Polizei erschossen wurde, findet sie keine Ruhe. «Die Pose mit dem Fuss auf seinem Oberkörper», sagt sie bei einem Treffen im Sommer, «als hätten sie gerade ein Tier erlegt.»

Nzoy und seine Schwester sind in Zürich aufgewachsen, mit einer südafrikanischen Mutter und einem Schweizer Vater. Bevor der Bruder an diesem verhängnisvollen Tag nach Genf aufbricht, macht er eine schwere Zeit durch. «Ein guter Freund von ihm war gestorben», sagt die 45-jährige Evelyn Wilhelm. «Und Nzoy zeigte schon seit längerem Anzeichen einer Psychose.» Doch er habe Hilfe gesucht, und sein ganzes Umfeld habe gehofft, dass er sich bald in eine psychiatrische Einrichtung einweisen würde.

Mit bitterem Zynismus erinnert sich Wilhelm daran, was sie damals noch zu ihrem Bruder gesagt habe: «Verlass bloss nicht das Land, sonst passiert dir in diesem Zustand noch etwas.» Sie habe sich damals gedacht, dass er in der Schweiz sicher sei. «Heimlich hoffte ich sogar darauf, dass ihn die Polizei auflesen und an einen guten Ort bringen würde. Dass sie ihn stattdessen getötet haben, hat meinen Glauben an das System, in dem wir leben, komplett erschüttert. Das hätte ich niemals für möglich gehalten.»

Im Land, das keinen anti-Schwarzen Rassismus kennen will, starben alleine in den vergangenen sieben Jahren vier Schwarze Menschen in Gewahrsam der Polizei. Ihre Namen: Hervé Mandundu, Lamine Fatty, Mike Ben Peter, Nzoy. Im Gegensatz zum Mord an George Floyd in den USA, dessen letzte, auf Video festgehaltenen Worte «I can’t breathe» weltweit Proteste auslösten, erregen die Schweizer Polizeitode wenig Aufmerksamkeit. Und noch nie hat ein Gericht ein rassistisches Fehlverhalten eines Polizisten festgestellt.

Zwar urteilte 2020 das Zürcher Verwaltungsgericht, dass die willkürliche Kontrolle des ETH-Bibliothekars Mohamed Wa Baile am Zürcher Hauptbahnhof rechtswidrig gewesen sei, doch es liess offen, ob es sich dabei um diskriminierendes Racial Profiling gehandelt habe. Rassistische Diskriminierung einzuklagen, ist in der Schweiz ohnehin aus mehreren Gründen schwierig: Es fehlt einerseits an einem umfassenden Antidiskriminierungsgesetz und andererseits etwa an einer unabhängigen Stelle, die Verfahren initiieren könnte. Ist die Polizei angeklagt, werden die Fälle von der polizeinahen Staatsanwaltschaft untersucht.

Nzoys Fall ist auch über ein Jahr nach seinem Tod bei der Waadtländer Staatsanwaltschaft hängig. Den Rücktransport seiner Leiche habe man ihr kommentarlos in Rechnung gestellt, sagt seine Schwester, «ohne ein Wort des Beileids». Um im Verfahren überhaupt als Zeug:innen zugelassen zu werden, mussten sie und ihr Bruder mittels SMS-Verlauf beweisen, dass sie vor seinem Tod in engem Kontakt mit Nzoy gestanden hätten.

Ihre Klage wegen unterlassener Hilfeleistung hat die Waadtländer Staatsanwaltschaft abgewiesen; den Antrag ihres Anwalts, während der Untersuchung den Kontakt zwischen den am Einsatz beteiligten Polizisten zu unterbinden, ebenfalls. Wilhelm glaubt längst nicht mehr daran, dass die Staatsanwaltschaft unvoreingenommen untersuchen wird, warum dem Polizisten am Bahnhof von Morges nichts anderes in den Sinn kam, als zu schiessen. «Vier ausgebildete Beamte waren vor Ort, und sie kriegen es nicht anders hin? Selbst der Nazi, der kürzlich voll bewaffnet im Tessin Amok lief, wurde nicht einfach erschossen.»

«In der Schule wird immer noch ‹Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann?›, gespielt», sagt Evelyn Wilhelm. Ihr Bruder habe ganz genau gewusst, was es heisse, ein Schwarzer Mann zu sein. «Wenn er am Bahnhof etwas erledigen musste, nahm er manchmal eine grosse Tasche mit. Er hat sich als Tourist verkleidet, um nicht die ganze Zeit von der Polizei kontrolliert zu werden. Einmal habe ihn ein Polizist gefragt: ‹Na, hast du einen Schweizer Pass gestohlen?›»

Es sei die Scheinheiligkeit, die sie an der Schweiz so störe, sagt Wilhelm, «diese Arroganz, dieses: ‹Wir sind ach so demokratisch.› Und dass wir stattdessen ständig mit dem Finger auf alle anderen zeigen.»

Weitere Texte zum Thema sind in WOZ Nr. 20/22 («Strafvollzug: ‹Struktureller Rassismus ist kein Geist im Getriebe›») und in WOZ Nr. 27/22 («Justiz: Der Rassismus der anderen») erschienen.