Mindestlohn: «Das erste Gesetz zur Lohnsenkung seit 1848»

Nr. 25 –

Wie die rechte Mehrheit im Nationalrat kantonale Mindestlöhne aushebelte. Das Protokoll zur Debatte.

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Foto-Stilleben: ein Hammer, eine Coiffeur-Schere, ein Putzlappen, ein Arbeitshandschuh und ein leeres Portemonnaie
Reinigungskräfte, Bauleute, Servierpersonal, Coiffeur:innen: Sie alle könnten mehrere hundert Franken im Monat verlieren.

Wer das Bundeshaus betritt, wird von patriotischen Anspielungen förmlich erschlagen. Unten im Kuppelsaal, der das Entrée zum Parlamentsgebäude bildet, recken steinerne Eidgenossen die Hände zum Schwur, oben in der Kuppel finden sich die Kantonswappen zum Kreis. Umso überraschender ist, woher hier das gedämpfte Licht strömt: durch vier farbige Bogenfenster, erschaffen im Jahr 1902, auf denen die Arbeitswelten draussen im Land abgebildet sind. Auf dem Fenster in Richtung Westen giessen Metallarbeiter den Stahl, im Osten weben Textilarbeiterinnen das Tuch, im Süden ernten Bauern das Getreide, und im Norden werden eifrig die Transportschiffe beladen, als sei der heutige Pharmaexportstandort schon ausgemachte Sache.

Die Werktätigen als Lichtquelle des Bundesstaats, eine hübsche historische Botschaft von den Erbauer:innen des Parlamentsgebäudes – erst recht in einer Woche wie dieser, in der im Nationalrat über den Mindestlohn diskutiert wird. Genauer über die Frage, ob allgemeingültig erklärte Gesamtarbeitsverträge (GAV) kantonale Mindestlohnregelungen übersteuern sollen. Was bei einer Annahme im Klartext heissen würde: Ist der Mindestlohn in einem GAV tiefer als der kantonale Ansatz, dann gilt auch der tiefere Lohn. Wie gross das Empörungspotenzial bei diesem Thema ist, zeigte sich im Vorfeld. Der «Blick» machte publik, dass Arbeitgeberdirektor Roland A. Müller in der vorberatenden Kommission gesagt hatte, existenzsichernde Löhne seien «nicht Aufgabe der Arbeitgeber».

Als die Debatte an diesem Dienstag kurz nach 8 Uhr beginnt, ist von Aufregung noch wenig zu spüren. Viele Plätze bei der FDP und noch mehr bei der SVP sind leer – die Vertreter:innen jener Parteien, die sich gerne rühmen, dass sie die Frühaufsteher:innen vertreten, haben offenkundig verschlafen. Trotzdem entwickelt sich rasch eine lebhafte Debatte. Von einem «Angriff auf den Föderalismus» spricht die Grüne Franziska Ryser, von einem «Verfassungsbruch durch die Hintertür» GLP-Präsident Jürg Grossen, von einem «parlamentarischen Putsch gegen die Lohnabhängigen» gar SP-Kopräsident Cédric Wermuth.

Casimir Platzer läuft Sturm

Der Anlass für die Debatte im Nationalrat liegt schon länger zurück. 2011 beschloss Neuenburg als erster Kanton in der Schweiz einen Mindestlohn. Gastrosuisse und andere Wirtschaftsverbände rekurrierten dagegen bis vors Bundesgericht. Dieses fällte 2017 einen denkwürdigen Entscheid: Die Mindestlöhne würden nicht die Wirtschaftsfreiheit beschränken, vielmehr stellten sie ein sozialpolitisches Mittel zur Armutsbekämpfung dar. Und weil die Sozialpolitik nun einmal in die Kompetenz der Kantone falle, hätten diese auch alles Recht, solche zu erlassen. Der Mindestlohn wurde darauf zur Erfolgsgeschichte. Weitere Grenzkantone wie Genf, der Jura, das Tessin oder Basel-Stadt, in denen der Lohndruck besonders hoch ist, folgten mit unterschiedlichen Modellen. In Solothurn und Baselland wurden entsprechende Vorlagen nur knapp abgelehnt. Zürich, Winterthur und Luzern erliessen kommunale Mindestlöhne.

Für die Kritiker:innen des Mindestlohns war das zu viel. Unter der Ägide von Casimir Platzer, dem früheren Gastrosuisse-Präsidenten, fassten sie einen Plan, den die «Republik» vor einem Jahr nachzeichnete: Mit der Übermacht im eidgenössischen Parlament sollten die kantonalen Mindestlöhne und das Urteil des Bundesgerichts ausgehebelt werden. Der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin liess sich für einen Vorstoss gewinnen. Dieser kam knapp durchs Parlament, weshalb der Bundesrat eine Vorlage erarbeitete. Allerdings gehört es zu den Besonderheiten an diesem Morgen, dass sich die Regierung selbst gegen diese Vorlage ausspricht.

Auf den Kopf gestellt

Der Föderalismus, die Demokratie und die Sozialpolitik sind die bestimmenden Themen in der Debatte. Wobei sie sich auch zu einer Frage verdichten lassen: Gilt die Demokratie auch für die Arbeiter:innen in diesem Land?

Er sei nun wahrlich kein Fan von Mindestlöhnen, führt GLP-Präsident und Unternehmer Jürg Grossen aus. «Aber wenn ein demokratisch legitimierter Volksentscheid, wie zum Beispiel 2023 in Winterthur, wo 65 Prozent Ja gesagt haben zu einem Mindestlohn, ausgehebelt werden kann, dann stellen wir die direkte Demokratie auf den Kopf.» In der Logik dieses Entscheids drohe eine «Welle von zentralistischen Harmonisierungen», mahnt Grossen. «Heute geht es um Mindestlöhne, morgen dann vielleicht um nationale Bauzonen.»

Cédric Wermuth erinnert daran, dass das Parlament noch immer Ausreden fand, bloss keine Begrenzungen von überrissenen Abzockerlöhnen zu erlassen. Bei den Tieflöhner:innen hingegen gehe es plötzlich schnell. Mit der Vorlage drohten deren Löhne um Hunderte Franken gesenkt zu werden – und das in einer Zeit steigender Mieten und Krankenkassenprämien. «Wenn Sie das heute beschliessen, dann wäre das das erste Gesetz zur Lohnsenkung in diesem Land seit 1848», spottet Wermuth in Richtung der Bürgerlichen.

Partnerschaft und Darwinismus

Diese beschwören derweil die Sozialpartnerschaft. Der Arbeitsfrieden werde gestärkt, wenn diese den staatlichen Mindestlöhnen vorgehe, meint der designierte Mitte-Präsident Philipp Matthias Bregy. FDP-Vertreter Olivier Feller wiederum sieht die Gewerkschaften selbst in der Verantwortung, wenn sie über unanständige Löhne klagten: «Verhandeln Sie anders, seien Sie härter!» SVP-Vertreter Paolo Pamini schliesslich stellt sich erst als Tessiner vor, der die Situation im Grenzkanton besonders gut kennt. Bald drückt aber durch, dass er als Experte für Pricewaterhouse Coopers und als Dozent beim rechtslibertären Luzerner Wirtschaftsinstitut arbeitet. Auf die Sozialpartnerschaft kommt bei Pamini direkt der Sozialdarwinismus. Wer über eine ausreichende Produktivität verfüge, sei nicht auf den Mindestlohn angewiesen, führt er aus: «In der Regel haben es junge Menschen oder Menschen mit geringer Bildung schwer und bleiben arbeitslos.»

Ob all dieser Beschwörungen, Ratschläge und Diffamierungen reisst Céline Widmer von der SP der Geduldsfaden. «Hören Sie doch endlich auf zu behaupten, es gehe Ihnen um die Stärkung der Sozialpartnerschaft. Das Einzige, was Sie machen, ist Politik auf dem Buckel von Working Poor, die unsere Büros reinigen, die in Coiffeursalons die Haare schneiden, die in Gastroküchen arbeiten», spricht sie an die Adresse von Mitte-Partei, FDP und SVP. «Und weshalb machen Sie das? Weil Sie hier drin die Mehrheit haben.»

SVP-Wirtschaftsminister Guy Parmelin erinnert zwar zum Schluss noch einmal an die sogenannte Normenhierarchie – dass es also gar nicht anders sein könne, als dass ein kantonales Gesetz einem privatrechtlichen Vertrag wie einem GAV vorgehe. Doch auch davon zeigen sich die Bürgerlichen unbeeindruckt. Pünktlich zur Abstimmung sind sie nun in voller Übermacht im Saal vertreten, die Vorlage wird mit 109 zu 76 Stimmen angenommen. Die Abweichler:innen von Mitte und SVP lassen sich an einer Hand abzählen.

Taktische Verirrung

Draussen vor dem Bundeshausbistro, unterhalb der schönen Bogenfenster, sitzt nach der Niederlage Cédric Wermuth. Das Ergebnis sei zwar absehbar gewesen: «Die heutige Debatte war ein sehr ehrlicher Ausdruck der bürgerlichen Herrschaft in diesem Land. Demokratie und Föderalismus gibt es nur, wenn sie den Kapitalinteressen dienen.» Die Nonchalance von Mitte und FDP sei dennoch erschreckend, besonders im Hinblick auf die kommenden europapolitischen Abstimmungen, zuerst über die SVP-Initiative zur «10-Millionen-Schweiz». «Wie will man sie in den Grenzregionen gewinnen, wenn man alles tut, um den Lohnschutz zu schwächen?»

Aus dem Ständeratssaal kommt Gewerkschaftschef Pierre-Yves Maillard. Noch kann das Gesetz dort verhindert werden, in der kleinen Kammer finden Kantonsanliegen mehr Gehör. «Wenn dieses Projekt aber so durchkommt, wird sicher ein Referendum lanciert werden», sagt Maillard. Vermutlich komme ein solches aus einem Westschweizer Kanton. Er räumt dem Anliegen gute Chancen ein. Schliesslich wüssten die meisten: «Wer dem Gesetz zustimmt, wird aktiv die Löhne von Tausenden Armutsbetroffenen senken.»