Löhne, Steuern, AHV: Dreimal gegen die Verfassung

Nr. 51 –

Innerhalb von nur 48 Stunden hat die bürgerliche Mehrheit im Parlament drei äusserst problematische wirtschaftspolitische Entscheide gefällt.

Erich Ettlin (3. von rechts) bei der Vereidigung als Ständerat 2015
«Ich schwöre»: Erich Ettlin (3. von rechts) bei der Vereidigung als Ständerat 2015. Foto: Lukas Lehmann, Keystone

Es war eine bedenkliche Szene, die sich kürzlich im Nationalrat abspielte: Fünf Minuten lang redete Bundesrat Guy Parmelin (SVP) der Rechten ins Gewissen, dass sie kein Recht dazu habe, kantonale Mindestlöhne auszuhebeln. Genau das will ein Vorstoss, der für allgemeingültig erklärte Gesamtarbeitsverträge (GAV) über entsprechende kantonale Gesetze stellen will. Dies, so mahnte Parmelin, würde «den Kompetenzen, die den Kantonen gemäss Verfassung zustehen, widersprechen». Im Klartext: Es wäre verfassungswidrig.

Und trotzdem stimmten SVP, FDP und die Mehrheit der Mitte-Partei dafür. Die Interessen siegten über die Verfassung.

Als ob Coiffeur­salons auf Wunsch nach der Grösse ihrer Spiegel besteuert würden.

Eingereicht hatte den Vorstoss im Jahr 2020 der Obwaldner Mitte-Ständerat Erich Ettlin, Steuerberater, x-facher Verwaltungsrat und Mitglied des Gewerbeverbands. Er tat dies, nachdem die Kantone Neuenburg, Jura, Tessin und Genf auf Initiative der Gewerkschaften Mindestlöhne eingeführt hatten, die teilweise höher liegen als jene der GAVs; inzwischen ist auch Basel-Stadt gefolgt. Gewerbekreise hatten Ettlin gebeten, den zuvor bereits einmal im Parlament gescheiterten Vorstoss nochmals ins Bundeshaus zu tragen.

Das Anliegen widerspreche nicht nur der Verfassung, stellte der Bundesrat bereits 2021 fest. Problematisch sei auch, dass damit privatrechtliche GAVs über «den Volkswillen auf Kantonsebene» gestellt werden sollten. Auch das Bundesgericht stützt die Mindestlöhne: Nach dem Ja der Neuenburger Stimmbevölkerung zu einem Minimallohn von zwanzig Franken hatten Wirtschaftsverbände Beschwerde eingereicht. Das Bundesgericht entschied 2017 jedoch, dass die Einführung eines Mindestlohns in der Kompetenz der Kantone liege. Er sei eine legitime sozialpolitische Massnahme gegen Armut.

Der Ständerat hat Ettlins Vorstoss bereits im Sommer zugestimmt. Zuvorderst dafür lobbyiert hatte Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer, der keine höheren Löhne in seiner Tieflohnbranche will. Die SVP zögerte zuerst, weil sie sich nicht gegen den kantonalen «Volkswillen» stellen wollte. Pikant: Auch FDP und Mitte-Partei scheuten sich in der Debatte davor, den Vorstoss verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. «Ich verstehe die Kritik, die die kantonale Hoheit betont», sagt Ettlin, mit dem Vorwurf konfrontiert. Als Nichtjurist könne er die Verfassungsmässigkeit nicht abschliessend beurteilen. Der Bundesrat werde das nun jedoch bei der Ausarbeitung einer Vorlage prüfen können.

Die Einzigen, die neben Parmelin im Rat das V-Wort überhaupt in den Mund nahmen, waren Natalie Imboden (Grüne) und Cédric Wermuth (SP). «Es gibt eine Verfassung in diesem Land», mahnte Wermuth – diese gelte auch dann, wenn einem politische Entscheide missfielen.

Ein Gutachten der Lobby

Die Aushebelung der Mindestlöhne war nicht der einzige Entscheid der letzten Session, bei dem die bürgerliche Mehrheit die Verfassung ignorierte, um ihren sozialpolitisch harten Kurs durchzudrücken. 345 000 Menschen sind heute auf Ergänzungsleistungen angewiesen, obwohl die AHV laut Verfassung den «Existenzbedarf» im Alter angemessen zu decken hat. Trotzdem stimmten am gleichen Tag, an dem Ettlins Vorstoss durchgewunken wurde, SVP, FDP, Mitte-Partei und GLP im Nationalrat gegen einen AHV-Ausbau, wie ihn aktuell eine Initiative für eine 13. Monatsrente verlangt.

Am Tag zuvor sagten SVP, FDP und eine Mehrheit der Mitte-Partei bereits Ja zur Einführung einer Tonnagesteuer, die ebenfalls an der Verfassung ritzt. Die vor allem in Genf stationierten Reedereien, die mit den Rohstoffkonzernen verbandelt sind, sollen nicht mehr auf ihren Gewinn Steuern zahlen müssen, sondern – falls gewünscht – entsprechend der Ladekapazität ihrer Schiffe. Dies widerspricht auch dem Prinzip der Besteuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit.

In der Botschaft zu seinem Gesetz schreibt selbst SVP-Finanzminister Ueli Maurer, dass das Anliegen bei der Steuerreform 2015 «nicht zuletzt aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken» fallen gelassen worden sei; Bedenken, so steht es weiter, die das Bundesamt für Justiz nach wie vor teile. Zu diesem Schluss war auch ein Gutachten des Rechtsprofessors Robert Danon von der Universität Lausanne gekommen. Also beauftragte Maurer einen zweiten Rechtsprofessor, Xavier Oberson von der Uni Genf, der zum gegenteiligen Schluss kam. Unglaublich daran: Oberson, der als Anwalt eng mit der Industrie verbandelt ist, hat für den Rohstoff- und Reedereienverband Swiss Trading & Shipping Association in einer Arbeitsgruppe den Vorschlag für die Tonnagesteuer mit ausgearbeitet – den Maurer nahezu eins zu eins übernahm.

Dass der Anwalt zum Schluss komme, seine eigene Vorlage sei verfassungskonform, sei nicht gerade eine Überraschung, machte sich SP-Nationalrat Wermuth im Rat lustig. Kathrin Bertschy (GLP) wies darauf hin, dass selbst Oberson die Steuer nur unter der Bedingung als verfassungskonform einschätze, dass die Branche existenzgefährdet sei – was angesichts der hohen Gewinne, die die Reedereien derzeit machten, kaum der Fall sei. Die Tonnagesteuer sei in etwa so, ergänzte Balthasar Glättli (Grüne), als könnten Coiffeursalons wählen, ob sie nach ihrem Gewinn oder nach der Grösse ihrer Spiegel besteuert würden.

Der Eid auf die Verfassung

Erneut erachtete es niemand von SVP, FDP oder Mitte-Partei für nötig, die Tonnagesteuer öffentlich gegenüber der Verfassung zu rechtfertigen. Maurer bemerkte einzig lapidar, dass zwei Juristen noch immer zwei Meinungen hervorgebracht hätten.

Am Ende könnte in allen drei Fällen die Stimmbevölkerung das letzte Wort haben: Die Initiative für eine 13. AHV-Rente wird für die Linke nicht einfach zu gewinnen sein. Doch die Tonnagesteuer, für die sie bereits das Referendum in Aussicht stellt, falls auch der Ständerat zustimmt? Deren Chancen sind gering. Sie ist ein verfassungswidriges Geschenk für rohstoffnahe Konzerne, das sich auf ein Gutachten aus der Branche stützt und über dessen finanzielle Folgen Maurer keinerlei Zahlen hat. Auch der Versuch, die Mindestlöhne auszuhebeln, hätte es angesichts seiner Verfassungswidrigkeit schwer. Auch «weil sie zu neuen Working Poor führen würde», wie Luca Cirigliano vom Gewerkschaftsbund bereits warnt.

Und dennoch wäre es nicht an der Stimmbevölkerung, SVP, FDP und Mitte-Partei an die Verfassung zu erinnern: Mit einem Eid oder Gelübde beteuern die Parlamentsmitglieder vor Amtsantritt, sich der Verfassung unterzuordnen.