Anthropologie: Der Keim einer anderen Welt
Der archaische Männerbund als Ursprung politischer Gemeinschaften und der Freiheit? Bei seiner Rede an den Wiener Festwochen widmet sich der Anthropologe David Wengrow einem obskuren Narrativ, das heute ein Revival erfährt.

Dies ist das erste Mal, dass ich einen öffentlichen Vortrag in Wien halte, aber es hätte auch ganz anders kommen können. Ich möchte mich bei meinen Gastgeber:innen für die Einladung bedanken. Sie erzählen mir, dass hier bei den Wiener Festwochen seit fünf Wochen über das Thema Liebe debattiert, geforscht und nachgedacht wird: über Liebe, aber auch das, was sie «revolutionäre Liebe» nennen. Heute Abend sind wir eingeladen, uns wie die Freunde aus Platons «Symposion» zu einem Wettstreit der Gedanken darüber einzufinden, was diese Begriffe – auch derjenige der Freundschaft – bedeuten.
Ich bin der Auffassung, dass weder Liebe noch Freundschaft ohne Freiheit eine wirkliche Bedeutung haben. Für mich gibt es nur einen Ort, an dem ich mit meinen Überlegungen beginnen kann, und das ist genau der Boden hier, auf dem ich stehe. Nicht nur, weil ich Archäologe bin und gerne unter der Oberfläche der Dinge grabe, sondern weil es hier in Wien war, wo meine Vorfahr:innen ihre Freiheit verloren haben, ebenso wie viele ihrer Freund:innen und geliebten Menschen. Im Februar 1937 – mit siebzehn Jahren – half der Vater meiner Mutter, eine Demonstration anlässlich des dritten Jahrestags des Februaraufstands in dieser Stadt zu organisieren. Der Aufstand war Teil des österreichischen Bürgerkriegs gewesen, in dem die Reste des Republikanischen Schutzbunds letzten Widerstand gegen die Dollfuss-Diktatur geleistet hatten.
Archäologe und Bestsellerautor
David Wengrow ist Professor für Vergleichende Archäologie am University College London. Der 52-Jährige studierte in Oxford, wo er auch promoviert wurde. Gemeinsam mit dem anarchistischen Anthropologen David Graeber verfasste Wengrow das Buch «Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit», das die beiden kurz vor Graebers Tod 2020 abschlossen und das ein internationaler Bestseller wurde.

Er wurde unter dem Vorwurf der «Gefährdung des Vaterlandes» vor Gericht gestellt. Nach seiner Freilassung drängte ihn sein Vater, das Land zu seiner Sicherheit zu verlassen. So wurde meine Mutter als Kind österreichischer Exilant:innen in Jerusalem geboren, das unter britischer Kolonialherrschaft stand. Der Vater ihrer Mutter hatte im Ersten Weltkrieg in einer ungarischen Artillerieeinheit gedient. Er war Sozialdemokrat, Jude und ein Kritiker der zionistischen Bewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten er und meine Grosseltern nach Wien zurück, wo meine Mutter in den Fünfzigern in der Brigittenau, nahe der Donau, aufwuchs. In den Sechzigern emigrierte sie nach England, wo ich geboren und aufgewachsen bin.
Mit all dem im Hinterkopf dachte ich zunächst daran, meinem Vortrag den Titel zu geben: «Vorsicht vor der revolutionären Liebe».
Ich entschuldige mich nicht für den manchmal morbiden Ton und Inhalt dessen, was ich sagen möchte. Es ist meine Überzeugung, dass die Verbindungen zwischen Liebe, Freundschaft und Freiheit auf einer gemeinsamen Grundlage ruhen, nämlich der Wahrheit.
Wie mein verstorbener Mitautor, der Anthropologe David Graeber, betonte, sind die Begriffe «Freiheit» und «Freundschaft» miteinander verbunden. Das englische «free» stammt von einem germanischen Wort ab, das «Freund» bedeutet.
Die Sprache war einst ein wichtiges Medium, mit dem Forscher:innen versuchten, die Frühformen menschlicher Gesellschaften zu rekonstruieren. Innerhalb derselben Sprachfamilie wurden Übereinstimmungen zwischen Begriffen in der antiken Literatur – den Veden, dem Avesta oder den altnordischen Sagen – als Beleg für grundlegende soziale Konzepte angesehen, die den schriftlichen Quellen und sogar der Erfindung der Schrift selbst vorausgingen. Was die Institutionen betrifft, so ging die Archäologie der Sprache der Archäologie der Dinge voraus.
Seit mindestens 150 000 Jahren dient die Sprache als symbolisches System, mit dem Menschen ihre Gedanken anderen mitteilen. Die Bedeutungen, die wir solchen Symbolen geben, haben Einfluss auf unsere kollektive Fähigkeit, uns neue Werte und soziale Beziehungen vorzustellen. Die Beziehungen zwischen Wörtern entwickeln sich ständig weiter, entfernen sich voneinander oder nähern sich einander an, je nach ihrem Gebrauch.
Tatsächlich kann man den Zusammenhang zwischen «Freiheit» und «Freundschaft» nicht verstehen, ohne die Sklaverei zu berücksichtigen. Die germanischen Sprachen sind aus gotischen Quellen überliefert, von denen die ältesten aus der Zeit vor dem Untergang des Weströmischen Reiches im Jahr 476 stammen. Da sie diesem Reich Gefangene lieferten, waren die germanischen Stämme Nordeuropas zweifellos mit der römischen Sklaverei vertraut, auch mit der Vorstellung, dass ein Mensch als Eigentum behandelt werden kann, als ein «lebendes Werkzeug», das sein Besitzer nach Belieben verwenden kann.
Im Römischen Reich ein Sklave zu sein, hiess, rechtlich auf ein «Ding» (lateinisch: «res») reduziert zu werden. Für Sklav:innen bedeutete dies eine Daseinsform, in der der Körper zwar präsent war, aber die soziale Person abwesend, da alle Beziehungen zur eigenen Gemeinschaft mit der Versklavung gekappt worden waren. Als verlängerter Arm des Herrn war es Sklav:innen untersagt, Beziehungen zu anderen einzugehen. In der Praxis fanden sie natürlich Wege, den ihnen zugewiesenen Status zu umgehen, wie es Menschen in solchen Situationen oft tun.
Wir könnten sogar die Verbindung zwischen Freiheit und Freundschaft in diesem Licht sehen. Was könnte es bedeuten, diese Dinge als eng miteinander verbunden zu betrachten, und zwar nicht nur als historische oder sprachliche Tatsachen, sondern in der Praxis, in der heutigen Welt?
Meine These lautet: Die beiden Aspekte des Problems – das Historische und das Politische – sind enger miteinander verflochten, als wir üblicherweise denken. Untersucht man die Verbindung zwischen «Freiheit» und «Freundschaft» in den europäischen Sprachen genauer, taucht etwas Merkwürdiges, ja Beunruhigendes auf.
Seit den 1960er Jahren ist die Standardquelle hierfür das Wörterbuch «Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen», zusammengestellt vom französischen Semiotiker Émile Benveniste. Dessen erster Teil behandelt die Begriffe für «Freundschaft» unter drei Aspekten: «Geschenk und Austausch», «Gastfreundschaft» und «persönliche Loyalität». Letzterer beinhaltet einen Vergleich zwischen dem altslawischen und modernen Wort «drugu», das «Freund» oder «Gefährte» bedeutet, und dem gotischen Begriff «drauhti», der einen Soldaten oder ein Mitglied einer Kriegertruppe bezeichnet.
Wenn man an Freiheit denkt, wirft das sofort Fragen auf, denn in vielen Kulturen ist der Begriff «Soldat» gleichbedeutend mit sklavischem Gehorsam und hat somit genau die gegenteilige Bedeutung. Ein Soldat ist eine Person, die Befehle befolgt. Bevor wir fortfahren, ist ein wenig Hintergrundwissen nützlich.
In den Dreissigern hatte sich die indoeuropäische Linguistik wissenschaftlich und politisch mit Doktrinen über die rassische Überlegenheit der Arier:innen und der Suche nach einer «indoeuropäischen Heimat» oder Urheimat verstrickt, aus der diese angeblich überlegene Ethnie hervorgegangen sein soll. Im Faschismus wurde die Suche nach einer indoeuropäischen Heimat zum Hauptgrund, sich überhaupt mit solchen Themen zu beschäftigen.
Benveniste wurde 1902 in der syrischen Stadt Aleppo in eine Familie sephardischer Jüdinnen und Juden geboren. Nach ihrem Umzug nach Paris besuchte er eine Rabbinerschule, bevor er sich für ein Studium der Linguistik an der École pratique des hautes études einschrieb. Er floh in die Schweiz und überlebte den Zweiten Weltkrieg, kehrte nach Paris zurück und nahm seine Professur für vergleichende Grammatik am Collège de France wieder auf. Es ist also nicht verwunderlich, dass Benveniste versuchte, seine Methoden von denen seiner faschistischen Vorgänger auf dem Gebiet der Indogermanistik abzugrenzen, indem er sein Interesse auf die «Bildung und Organisation des Vokabulars der Institutionen» beschränkte – im Gegensatz zur Geschichte oder Verbreitung der Institutionen selbst. Trotzdem begibt sich sein Wörterbuch oft auf ein ähnliches Terrain.
Bei der Erörterung der gemeinsamen Wurzel der Begriffe «Freiheit» und «Kriegerkameradschaft» stellt Benveniste fest, dass eine solche Beziehung «für die alte germanische Gesellschaft charakteristisch» war. Junge Männer schlossen sich aus freien Stücken einem charismatischen Anführer an. Innerhalb solcher Gefolgschaften, die Tacitus als «comites» bezeichnet, wetteiferten die Gefährten um den ersten Platz neben ihrem Anführer, während die Anführer um die besten Gefolgsleute konkurrierten.
Als übernatürliches Gegenstück zu diesen Gruppen machte Benveniste, in Anlehnung an die nordischen Sagen, die Gefährten des Gottes Wotan (Odin) aus: gefallene Krieger und rachsüchtige Ahnen, die jedes Jahr zum Julfest als Schar maskierter Dämonen zurückkehren – ein «Ausbruch der Toten unter den Lebenden».
Eine Verbindung zwischen «frei» und «Freund» wird im dritten Teil des Wörterbuchs unter «Der freie Mensch» thematisiert, was zum Thema Krieger und zu dem zurückführt, was Benveniste beschreibt als «eine primitive Vorstellung von Freiheit als Zugehörigkeit zu einer geschlossenen Gruppe von Personen, die sich gegenseitig ‹Freunde› nennen und sich damit sowohl von Fremden als auch von Sklaven unterscheiden». Diese primitive Verbindung, bemerkt er etwas rätselhaft, «ist immer noch spürbar». Ursprünglich, so vermutet er, bildeten solche freien Gruppen einen exklusiven «Stamm» oder eine Klasse innerhalb ihrer jeweiligen Gesellschaft. Indem er Begriffe aus dem Griechischen, Lateinischen, Slawischen und Sanskrit heranzieht, gelangt er zu einer uralten Verbindung zwischen Freiheit, Freundschaft und «geschlossenen Bruderschaften», die im Kampf und nicht durch verwandtschaftliche Bande geschmiedet wurden.
Worum geht es wirklich in diesen Passagen? Um dies zu beantworten, müssen wir uns mit einigen obskuren Ideen über menschliche Freiheit befassen, die in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkamen. Es scheint wichtig, dies zu tun, weil diese Ideen in letzter Zeit ein Revival erleben, zusammen mit einer erneuten wissenschaftlichen Erforschung der «genetischen Ursprünge» indoeuropäischer Gesellschaften.
Vielleicht beginnt man am besten mit einer Geschichte, die in Europa in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erstaunliche Popularität erlangte. Deren Wirkung auf die politische Vorstellungskraft hallt bis heute nach. Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet, ist es eine Geschichte über das, was wir «revolutionäre Liebe» nennen könnten. Aus einer anderen erzählt sie das Gegenteil. Der Einfachheit halber nennen wir sie einfach «Die Geschichte der exklusiven Männer-Krieger-Bande».
Die Freiheit, so beginnt diese Geschichte, nahm ihren Anfang in archaischen Männerbünden. Weit zurück in der halbvergessenen Vergangenheit Europas und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit bildeten sich politische Vereinigungen auf der Grundlage dessen, was die deutschen Gelehrten des Feudalismus als «Gefolgschaft» bezeichneten. Am Anfang war die Bande zwischen den Anführern und ihren Gefolgschaften freiwillig. Diese entschieden sich dazu, ihre Loyalität zu bekunden, und wenn ein Anführer im Kampf versagte, stand es den Gefolgsleuten frei, einem anderen die Treue zu schwören. Am Anfang, so heisst es, waren diese Formen des Zusammenschlusses auf junge Männer beschränkt. Draussen in der Wildnis knüpften diese Jugendlichen Bindungen, die der «orientalischen» Zivilisation fremd waren. In jener war die Politik in der Stadt und in den häuslichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen oder zwischen jüngeren und älteren Generationen derselben Familie verankert.
Was Europa sein einzigartiges Schicksal bescherte, so geht die Geschichte weiter, war jener historische Moment, in dem es sich von den Fesseln der Familie, der Verwandtschaft und der Tradition befreite – die für den Rest der Menschheit angeblich weiterhin galten. Häufig wird dieser Wendepunkt in der Phase des Untergang des Weströmischen Reiches und des Aufstiegs der frühchristlichen Kirche angesetzt. Der erste Vorgang ebnete den Weg für einen Wettbewerb zwischen lokalen Anführern und hinterliess gleichzeitig Instrumente für eine rationale Staatsführung; der zweite brachte die monogame Kernfamilie und die Trennung von Verwandtschaft und Politik hervor. Erst danach, so heisst es, konnten die Menschen aus freien Stücken ihre Loyalität und sogar ihr Leben im Kampf für eine grössere Gemeinschaft von Fremden geben und eine «Nation» bilden.
Erst dann, so geht es weiter, etablierten sich echte politische Freiheiten: von demokratischen Versammlungen und freien Städten bis hin zu Märkten, Handwerkszünften und Universitäten. Auch dies soll einen Bruch mit der bisherigen Menschheitsgeschichte darstellen und die Grundlage bilden für die moderne Wissenschaft und Zivilisation. Alles begann jedoch mit der Schaffung eines Raums, der ausschliesslich männlich war: des «Männerbunds».
Wie bereits erwähnt, sind bestimmte Elemente dieser Geschichte nie wirklich verschwunden. Aber woher genau kommt sie? Die Antwort darauf ist überraschend, auch weil sie nach Afrika führt.
Zunächst hatte die Vorstellung von der «Männerbande» als einer primitiven politischen Institution wenig mit den indoeuropäischen Studien zu tun. Vielmehr hat sie ihren Ursprung in ethnografischer Forschung, die im kolonialen «Südwesten» Deutschlands (dem heutigen Namibia) und in «Deutsch-Ostafrika» (Tansania, Burundi und Ruanda) betrieben wurde. 1902 veröffentlichte der Ethnologe Heinrich Schurtz ein Buch, das weitgehend auf in diesen Ländern gesammelten Daten basierte und Vergleiche zu anderen «primitiven» Gemeinschaften in Australien und Amerika zog. Es trug den Titel «Altersklassen und Männerbünde».
Schurtz’ Buch wurde in anthropologischen Kreisen viel diskutiert, Koryphäen wie Émile Durkheim, Marcel Mauss und Robert Lowie kritisierten es – nicht zuletzt weil es eine Alternative zum «primitiven Matriarchat» als ursprünglichem politischem Charakter der menschlichen Gesellschaften vorschlug. Unter diesen «einfachen Gesellschaften» wollte ihr Autor die «Grundformen» der politischen Zusammenarbeit entdeckt haben. Dabei handle es sich um Zusammenschlüsse junger Männer ähnlichen Alters, die aus verschiedenen Clans und Familien stammten. Solche Gruppen bildeten Initiationsgesellschaften: Bruderschaften oder «Männerhäuser», die abseits der herkömmlichen Wohnräume lagen.
An solchen Orten durchliefen sie Übergangsriten, in denen männliche Ideale ausgelebt wurden, fernab vom Einfluss «angeborener» weiblicher Eigenschaften. (Zu denen Schurtz eine Vorliebe für das Zuhausebleiben, einen Hang zu Fantastereien und die Verachtung der Logik zählte; was seinerseits ziemlich unlogisch erscheint, wenn man bedenkt, dass die männlichen Initiationsriten aus irrationalen Gewaltakten bestanden.)
Schurtz zufolge widmete sich diese Kriegsbande Aktivitäten wie der Jagd, dem Rezitieren von Geschichten und dem Training für den Kampf; immer wieder aber überfielen die Männer auch benachbarte Siedlungen, um zu plündern, zu morden und zu vergewaltigen. Schurtz hebt hervor, dass es die Mitglieder des Männerbunds als legitim betrachteten, solche Dinge zu tun, da sie weder vollständig innerhalb noch ausserhalb der Gesellschaft standen, sondern sich in einem eigenen moralischen Bereich bewegten.
Wie gesagt neigten seine Zeitgenossen dazu, die Angelegenheit unter dem Gesichtspunkt moderner «Überbleibsel» primitiver Praktiken zu diskutieren. Schurtz selbst hatte andere Ambitionen. Er begann, Vergleiche mit Geheimbünden aus der jüngeren deutschen Geschichte zu ziehen. Bisweilen ermutigte der Autor sogar dazu, sich diese Werte zu eigen zu machen als Gegenmittel zu dem, was er als das Problem der «Feminisierung» der deutschen Politik infolge des Frauenwahlrechts ansah. Nicht die Familie, so Schurtz, sondern «der freie Zusammenschluss von Männerbünden bildet die kulturbildenden Grundlagen der Gesellschaft und ist Motor fast aller höheren kulturellen Entwicklungen».
Wie die Religions- und Geschlechterhistorikerin Ulrike Brunotte darlegt, hat das, was dann geschah, mindestens ebenso viel mit der Krise der damaligen deutschen Gesellschaft zu tun wie mit der fernen Vergangenheit.
Die Demütigung in Versailles, der Verlust der Kolonien in Übersee, die Homosexuellenbewegung, das Aufkommen des Feminismus – all dies geschah inmitten konservativer Ängste vor einer Zersetzung des deutschen Gesellschaftsgefüges durch neue Einwander:innen aus dem Osten und im Kontext eines Skandals um die angeblichen Beziehungen Kaiser Wilhelms II. zu «homosexuellen Kreisen».
In den 1920er Jahren galt Berlin als ein Ort der sexuellen Freizügigkeit und der Emanzipation. In den Clubs der Stadt verkehrten unter anderem die schwulen Schriftsteller W. H. Auden und Christopher Isherwood. Aus dieser Gemengelage entstand eine «maskulinistische» Gegenreaktion. Deren Protagonisten versuchten, Jüd:innen als verweichlichte Eindringlinge darzustellen, die eine gesunde arische Nation verdarben. Einige von ihnen, vor allem der Sexualwissenschaftler Hans Blüher, versuchten darüber hinaus, die Schwulenrechtsbewegung für ihre antifeministische und antisemitische Agenda zu vereinnahmen.
Anfang des 20. Jahrhunderts konzentrierte sich die Bewegung auf ein neues Modell für die nationale Einheit: den Männerbund, durchdrungen von den Werten des Heldentums und der revolutionären Liebe zu einem charismatischen Anführer. Dieses Ideal, so hofften sie, würde einen Gegenpol zur bürgerlichen Politik darstellen, die sie als immer stärker von weiblichen Werten und unpersönlicher Bürokratie beherrscht ansahen, wofür sie auch die Jüd:innen verantwortlich machten. In dem Jahr, in dem das Buch von Schurtz erschien, wurde Blüher in die Jugendbewegung Wandervogel aufgenommen und begann sogleich, deren Geschichte zu schreiben. Daraus resultierte zehn Jahre später – Blüher hatte sich inzwischen mit den Werken Sigmund Freuds auseinandergesetzt und mit Freud korrespondiert – der Bestseller «Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen».
Blühers zentrales Argument war, dass eine gesunde Nation auf der Ablehnung der elterlichen Autorität und des städtischen Lebens beruhen sollte, was eine Rückkehr zur Natur bedeutete, aber auch mit einem revolutionären neuen Konzept verbunden war – der «Liebe zwischen Freunden». Damit meinte er eine homoerotische Gemeinschaft, die in gleichgeschlechtlichen Gruppen gepflegt wird. Er engagierte sich auch für die Entkriminalisierung der Homosexualität, während er sich gleichzeitig für den Ausschluss von Frauen und von Jüd:innen aus dem politischen Leben einsetzte. Nach der Niederlage Deutschlands 1918 begann Blüher, das Konzept des Männerbunds mit mehr Nachdruck zu propagieren. Er griff auf Schurtz’ Werk zurück, nahm aber Änderungen vor. Dazu gehören das neue Element der Homoerotik sowie das Herunterspielen des Vorkommens von Männerbünden in Afrika. Bei Blüher wurden die Männerbünde zu einem «einzigartigen Geschenk» der nordischen und germanischen Kultur. Brunotte spricht dabei von einem «kolonialen Transfer».
Blüher selbst galt eher als Volksaufwiegler denn als seriöser Wissenschaftler, aber seine Ideen beeinflussten die Arbeit führender Forscher in der indogermanischen Sprachwissenschaft, darunter Otto Höfler in Deutschland, Stig Wikander in Schweden und Jan de Vries in Holland. Höfler wurde 1936 Mitglied der nationalsozialistischen Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe. 1945 wurde er von der Universität München verwiesen und nahm später eine Professur in Wien an, die er bis 1971 innehatte. Sowohl Höfler als auch Wikander schrieben ausführlich über die Institution des «Arischen Männerbunds» und die Symbolik des Wolfsrudels, dessen Mitglieder im Kampf in ekstatische Wut geraten, ähnlich den «Berserkern» in den altnordischen Sagen.
Als Benveniste eine Generation später über im Kampf geschmiedete Bruderschaften schrieb, begann er nicht bei null. In Anbetracht seiner Ursprünge in einer recht verworrenen Episode der deutschen Kolonialgeschichte ist es bemerkenswert, wie hartnäckig sich dieser Komplex von Ideen und Symbolen gehalten hat.
Eines der auffälligsten Merkmale dieser Literatur ist ihre Besessenheit von männlichen Formen der Kameradschaft, der Liebe, der Gewalt und des Todes als Grundlage für politische Gemeinschaften oder sogar – paradoxerweise – als tragende Symbole der politischen Freiheit. Die Langlebigkeit von Symbolen wie dem «Wolfsrudel» wird oft als Hinweis darauf gedeutet, dass hier etwas leicht Mysteriöses vor sich geht.
Warum also tauchen solche Ideen immer wieder auf?
In «Masse und Macht» hat Elias Canetti über die seltsame Alchemie nachgedacht, die aus einer ungeordneten Masse von Menschen eine gehorsame Herde macht. Um dies zu erreichen, so der bulgarische Autor, braucht es vor allem Disziplin: eine meist kleine Gruppe, deren Mitglieder bereit sind, sich ihrer Aufgabe bedingungslos zu verschreiben. Für Aussenstehende wirken sie wie ein durch ihre Taten vereintes Ganzes, wie ein Wolfsrudel. Canetti nannte solche Gruppen «Massenkristalle».
Er spekulierte auch über den Ursprung solcher Gruppen in Jagdgesellschaften oder männlichen Initiationsgruppen. Die «Klarheit, Abgeschiedenheit und Beständigkeit des Kristalls», so Canetti, bildet einen «unheimlichen Kontrast zum aufgeregten Treiben der umgebenden Menge». Handelt es sich hierbei also um ein rein modernes Phänomen der spätindustriellen Massengesellschaft? Oder war es der Ausbruch von etwas Urtümlichem im Herz der modernen Zivilisation? Trotz seiner Anspielungen auf «Stammesgesellschaften» in Afrika, Australien und Amazonien scheint es schwer vorstellbar, dass das, was Canetti im Sinn hatte, nicht die Jugendbrigaden waren, die die Vorhut der faschistischen Parteien auf den Strassen Wiens bildeten, wo er bis 1938 lebte.
Canetti bemerkte die seltsame historische Beständigkeit dieser sozialen Gebilde: Wenn sie einmal da sind, scheinen sie nie wieder zu verschwinden. Wenn ihre politischen Projekte scheitern, zieht sich die Kriegerbande in den Schatten der Gesellschaft zurück – oder verlagert sich in Räume der Fiktion, des Spiels und der Unterhaltung, um auf ein Comeback zu warten.
Vielleicht geht es hier auch um die Frage, ob politische Bewegungen, die auf Ideen von Freiheit und Liebe beruhen, immer irgendwie dazu verdammt sind, auf diese Weise zu enden: mit verzerrten Fantasien von Gewalt und sexueller Dominanz. Das Schädlichste an Geschichten wie dieser ist wohl, dass sie die Bedeutung von Worten wie «Freiheit», «Freundschaft» und «Liebe» in ihr Gegenteil verkehren. Heute ist es dringlich, dieser begrifflichen Verkehrung entgegenzuwirken. Man könnte damit beginnen, die möglichen Bedeutungen und Funktionen solcher Begriffe in der Geschichte neu zu betrachten, auch in der Geschichte der Gesellschaften, in denen indogermanische Sprachen gesprochen wurden oder noch werden.
Benveniste selbst weist den Weg: In seinem Wörterbuch findet man auch eine andere Geschichte von Freiheit und Freundschaft, die mit dem griechischen Begriff «xenia» und seinen Entsprechungen im Lateinischen, Gotischen, Slawischen, Sanskrit und Persischen beginnt, den Begriffen «hostis», «gasts», «gospodi», «atithi» und «ērmān». Sie alle beziehen sich auf Bande der Freundschaft, die Generationen überdauern und mit einem Akt der Gastfreundschaft gegenüber denjenigen beginnen, die als Fremde oder gar Feinde angesehen werden. Aryaman ist der indisch-iranische Gott der Gastfreundschaft, der dafür sorgt, dass derjenige, der empfängt, nicht der Herr über den Gast ist.
Lasst den Gast also einen Gott sein, denn jede:r Fremde kann sich als verkleideter Gott entpuppen. In solchen kleinen Gesten der Gastfreundschaft und des Willkommenheissens liegt der Keim einer anderen Welt.
Dies ist die schriftliche Form einer Rede, gehalten am 21. Juni 2025 an den Wiener Festwochen beim abschliessenden Symposium «Revolutionary Love», organisiert vom kroatischen Philosophen Srećko Horvat.
Aus dem Englischen von David Hunziker.