Rafik Schami: Von Schmugglern und trojanischen Pferden
Anlässlich der Verleihung des Nelly-Sachs-Preises der Stadt Dortmund sprach der syrische Erzähler über sein Leben als Minderheitensammler, über die arabische Sprache als Gefangene von Diktatoren und das Glück, Erwachsene in Kinder zu verwandeln.
Der Stadt Dortmund und der Jury danke ich für die Ehrung, die mir durch den grossartigen Nelly-Sachs-Preis zuteil wird.
Auch danke ich Ihnen, verehrte Gäste, dafür, dass Sie alles liegengelassen haben, um mir zuzuhören. Ihre Ohren schenken meinen Worten Leben.
Die Ehrung durch diesen Preis war eine willkommene Gelegenheit, zurückzuschauen und über meinen Weg nachzudenken.
Warum schreibe ich, was ich schreibe, und warum schreibe ich es so, wie ich es schreibe? Ein Satz in der Begründung der Jury hat mich gerührt und mir das Gerüst für diese Rede geschenkt. Nämlich, ich sei «ein lebenslustiger Vermittler zwischen den Welten».
Eine schöne und gleichzeitig präzise Formulierung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie mir aus dramaturgischen Gründen erlauben, diese von rechts nach links, sozusagen auf Arabisch, zu lesen. Also erst «zwischen den Welten» dann «Vermittler» und zuletzt «lebenslustiger».
Unter «zwischen den Welten» kann man eine Position verstehen, die mit Fliegerei zwischen Kontinenten, Konferenzen und Kulturen zu tun hat. Da ich jedoch ein Bodentier bin, das nie fliegt, habe ich Sie anders und damit wohl richtig verstanden. Gemeint haben Sie vermutlich die Funktion eines Bindeglieds zwischen Teilen, die zu einem Ganzen gehören, auch wenn sie sich in vielem unterscheiden wie etwa Auge und Ohr. Man könnte diese Verbindung auch einfach als Brücke bezeichnen, die zwei Ufer eines Flusses verbindet und beide Seiten berührt, ohne zu einer von ihnen zu gehören.
Diese Zugehörigkeit zu verschiedenen Welten verlangte von mir keine Anstrengung. Sie ist biografisch vorgegeben. Ich bin als römisch-katholischer Junge zur Welt gekommen. Meine Eltern stammten aus dem aramäischen Bergdorf Malula, sechzig Kilometer nördlich von Damaskus und drei Stunden Fussmarsch vom Libanon entfernt. Die Franzosen hatten in den zwanziger Jahren die Grenzen willkürlich gezogen, und so wurden meine Tante mütterlicherseits und mein Onkel väterlicherseits Libanesen und wir sind Syrer geblieben.
Ich bin in einer Gasse zur Welt gekommen, an deren Ende die Stelle der Damaszener Stadtmauer liegt, von der aus Apostel Paulus, alias Saulus, geflüchtet war. Dort steht heute eine Kapelle schmucklos und unverwüstlich wie Paulus' Sprache.
Wäre ich von einer Frau nur sieben Meter vom Zimmer meiner Eltern entfernt zur Welt gebracht worden, wäre ich ein jüdisches Kind, denn unser Haus grenzte zum Westen hin an die Häuser der Judengasse.
Hätte mich dagegen eine Frau vierzehn Meter entfernt zur Welt gebracht, wäre ich ein waschechter Armenier geworden, denn in unserer Gasse lebte eine kleine Gemeinde von Armeniern, die nach dem furchtbaren Massaker von 1915/16 in Damaskus Zuflucht fanden.
Wenn mich aber eine andere Frau etwa zwölf Meter entfernt von unserem Haus geboren hätte, wäre ich Druse, vierzehn Meter südöstlich wäre ich römisch-orthodox geworden.
Wäre eine andere Frau vierundzwanzig Meter von unserem Haus entfernt meine Mutter geworden, hätte ich der sunnitischen Mehrheit der Muslime in meinem Land angehört. Der Zufall aber wollte, dass ich das Kind genau meiner Mutter wurde.
Ich habe mich hier kurzgefasst, denn die Liste der Völker in unserer Nachbarschaft, deren Sohn ich hätte werden können, ist noch wesentlich länger. In unserer Reichweite lebten Palästinenser, Kurden, Tscherkessen, Afghanen, Griechen, Jugoslawen und Libanesen. Und alle mit den unterschiedlichsten Religionszugehörigkeiten.
Um ein Haar wäre ich aber später Amerikaner geworden. Das hat eine kleine Geschichte. Ein Onkel meines Vaters wanderte nach Florida aus. Er wurde dort nach einem langen Arbeitsleben als Bäcker und Konditor ein reicher Mann, blieb aber kinderlos. Da er das Finanzamt hasste und als guter Araber auch nach vierzig Jahren starke Bindung zu seiner Sippe fühlte, schrieb er, statt irgendeiner amerikanischen Stelle sein Vermögen zu vererben, seinen drei Neffen, die alle ebenfalls Bäcker waren, sie sollten ihm Familienfotos schicken, da er Sehnsucht nach ihnen hätte. In Wahrheit wollte er mit seiner Frau prüfen, zu wem sie eventuell Sympathie entwickeln könnten.
Für uns in Damaskus bedeutete das eilige Fototermine. Wir bekamen alle neue Kleider und stellten uns im eigenen Innenhof vor Blumen und Pflanzen in Pose, aber mein Bruder Antonios hörte nicht auf, Faxen zu machen und vulgäre Dinge über den, tatsächlich hässlichen, Fotografen zu erzählen. Der war besonders schlecht gelaunt, weil mein Vater von vorneherein seine Kulissen mit Schwänen und Palmen abgelehnt hatte, «Schwäne bringen Unglück», sagte er dem Fotografen. Meiner Mutter aber flüsterte er auf Aramäisch zu: «Das kostet mehr.»
Mein Bruder rief immer wieder dazwischen, er bevorzuge ein Plakat vom Wilden Westen und brachte meine Schwester Marie und mich ständig zum Lachen. Nur mein ältester Bruder stand unbeeindruckt von allen Witzen steif, mit unbeweglicher Miene neben uns. Das war mehr als der Fotograf ertragen konnte. «Wir sind hier doch nicht in einer Kaserne, mach dich locker», schimpfte er. Dann hustete er und spuckte auf die glänzenden Fliesen des Innenhofs. Meine Mutter hasste nichts auf der Welt mehr als spuckende Männer, deshalb hatte sie meinem Vater eine ganze Schublade voll feinster Taschentücher geschenkt. Sie verfluchte den Fotografen als Barbar und Sohn eines Barbaren und schaute angeekelt auf die mächtige Spucke. Genau das sah man später auf dem Foto.
Mein Bruder Antonios und ich bekamen die ersten Ohrfeigen. Marie blieb verschont, weil sie engelsgleich in ihrem weissen Kleid dastand und viel zu klein war für eine grosse Ohrfeige des väterlichen Kalibers. Nach der zweiten Ohrfeige heulten wir. Der Fotograf verfluchte uns und mahnte meinen Vater barsch, seine Hand bei sich zu lassen. Diese Formulierung kam in meinem Leben nur einmal vor, die Hand bei sich lassen. Ich habe sie in bitterer Erinnerung und in meinen dreissig Büchern nicht ein einziges Mal gebraucht.
Als Antonios nicht aufhören wollte, Witze zu reissen, gab ihm der älteste Bruder - stellvertretend für den Vater - einen kräftigen Tritt. Schlagartig verwandelte sich Antonios in einen Schauspieler, hielt die Kamera des Fotografen, die damals ein beachtlicher Kasten aus Holz war, für eine Filmkamera und warf sich wie Robert Mitchum nach einem Faustschlag in einer Bar zu Boden. Der Fotograf bat ihn mit süsslicher, aber vor Gift triefender Stimme aufzustehen. Antonios richtete sich auf und wischte sich mit dem rechten Handrücken über seinen Mundwinkel. Es gab nichts zu wischen, aber diese Geste gehörte zur Filmszene. Ich bog mich vor Lachen, und mein Vater drehte mir gegen alle Gesetze der Physik, Biologie und Pädagogik mein rechtes Ohr um 180 Grad. Und staunte selbst, wie das Ohr in seine Ausgangsposition zurückschnellte. Dieses Staunen liess sein Gesicht auf dem Foto nicht gerade intelligent erscheinen.
Ich mache es kurz. Das Foto wurde nach Amerika geschickt. Der Onkel in Florida hat nie geantwortet. - Uns nicht und den anderen Onkeln auch nicht. So blieben wir Syrer.
Jedes Detail dieses Lebens in Syrien und auch später in Deutschland liess mich beide Seiten verstehen. Wenn ich nur das kleine unauffällige Detail nehme, dass ich der aramäischen Minderheit angehöre, und dazu in aller Bescheidenheit erwähne, dass Aramäisch vom Sprachstammbaum her die Tante der hebräischen und arabischen Sprache ist, so werden Sie verstehen, warum es mir immer ein Anliegen war, beide Völker, Juden und Araber, Palästinenser und Israelis, zu versöhnen.
Kommen wir nun zum «Vermittler». Abgesehen von einer sekundären Bedeutung meint man mit dem Wort immer eine Tätigkeit, die der Duden folgendermassen beschreibt: «zwischen Gegnern eine Einigung erzielen und weiter 'etwas' zwischen Gegnern herbeiführen: zwischen Kriegsführenden einen Waffenstillstand vermitteln».
Hier spielt weniger die Geografie eine Rolle als vielmehr die Einsicht, dass aggressive Handlungen wie Krieg niemals Probleme lösen, sondern immer neue schaffen. Sicher lag und liegt mir der Jahrhundertkonflikt zwischen Juden und Arabern am Herzen und im Magen. Aber jeder Krieg, und sei er auf den Falklandinseln, macht mich traurig und wütend über den primitiven Stand der Menschheit. Und dieser Krieg zwischen Juden und Arabern mit seiner globalen Wirkung gehört zu den gefährlichsten der modernen Geschichte. Beide Völker kommen von alleine nicht mehr aus der Spirale, in die sie geraten sind. Sie brauchen Hilfe von aussen. Eine Hilfe fruchtet aber nur dann, wenn sie eine Brücke der Vermittlung zwischen beiden Ufern bildet. Der Helfer selbst muss auf der Brücke bleiben. Er darf sich nicht selbst auf die eine oder andere Seite begeben und sich für die andere blindstellen, denn damit fördert er gewollt oder ungewollt den Krieg. Der Friede zwischen beiden Völkern ist nicht teilbar, sondern muss gleichermassen für beide Seiten erreicht werden, und er wird nicht sensationell schlagartig eintreten, sondern muss zäh errungen werden. Rückfälle sind jederzeit möglich. Er ist daher so kompliziert, dass man ihn nicht allein den Amerikanern überlassen darf, deren Aussenpolitik den Rest der Welt nur in Schrecken versetzt. Ich sehe hier eine grosse Chance für Europa. Europa ist der unmittelbare Nachbar und hat bereits Erfahrung im besonnenen Vermitteln in Osteuropa gezeigt.
Für einen gerechten Frieden und das absolute Recht aller Völker auf friedliches Leben im Orient lohnt es sich einzutreten, denn auch unsere Kinder und unsere Zukunft in Europa werden an diesem Frieden teilhaben.
Unser Frieden hier entlastet uns nicht von der Aufgabe, sondern verpflichtet uns gerade dazu, andere daran teilhaben zu lassen.
Aber Kriege können nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Warenkontingenten und Worten geführt werden.
Ich werde Sie nicht lange aufhalten mit dem Krieg der Waren. Sie sind mit mir hier jeden Tag Zeuge dieses Krieges. Er dauert bereits seit mehreren Generationen und nahm seinen Anfang am Tag, als ein Land zu viel produzierte und ohne Rücksicht und Skrupel nach Absatzmärkten suchte.
Die Chinesen werden das erste Imperium der Ware errichten. In zwanzig Jahren werden sie ein viel grösseres Reich beherrschen als Engländer, Osmanen, Franzosen, Russen, Amerikaner oder Araber je zuvor. Weltweit werden Häfen und Lagerhallen mit Billigwaren bombardiert, die sich von hier aus in die letzten Winkel der einzelnen Länder verteilen. Viele Länder werden bald keine andere Wahl mehr haben, als die Waren zu den von China diktierten Bedingungen anzunehmen. Afrika, Asien und Lateinamerika werden dem Diktat gehorchen. Danach werden Europa, der Mittlere Osten und Amerika folgen.
Das Neue an diesem Imperium ist: Kein einziger chinesischer Soldat stirbt bei diesem Krieg. Die Eroberer sterben als Zivilisten zu Hunderttausenden in ihrem eigenen Land. Das ist der Preis, den China für seine Strategie, billig zu produzieren ohne Rücksicht auf Menschenleben und Natur, bezahlt. Und bereit ist zu zahlen! Aber die Natur wird sich rächen, und ich glaube fest daran, wenn ich das alles richtig interpretiere, dass sich die grösste ökologische Katastrophe aller Zeiten in China ereignen wird.
Mich aber beschäftigt - berufsbedingt - ein anderer Krieg, der Krieg mit Worten. Diese Art von Krieg führen Fanatiker. Manchmal grenzt das, was sie als Gedankengut von sich geben, an das Lächerliche, doch das Lachen vergeht einem, wenn man an die Konsequenzen denkt.
Die arabischen Fundamentalisten behaupten allen Ernstes, Gott verstehe nur Arabisch. Das haben sie nicht erfunden, sondern abgeschrieben von verkrampften simplen Juden, die behaupteten, Jahwe sei so simpel und verstehe nur Hebräisch. Nur, man könnte beiden Völkern, den Juden und den Arabern, aus Mitleid solches Aufbegehren nachsehen. Beide Völker sind wie mein eigenes, die Aramäer, uralt. Unsere Siege bevölkern Legenden und Geschichten, unsere Niederlagen sind reale Geschichte.
Aber was machen unsere katholischen Fundamentalisten? Sie wollen Gott wieder auf Latein ansprechen.
Nun, meine Vorfahren, die christlichen Aramäer, waren unter den ersten Christen, und sie sind auch jetzt, nach fast zweitausend Jahren, noch Christen. Und ich fühle mich als deren Vertreter und Beobachter hier in Europa. Einige komische und bisweilen makabre Metamorphosen hat die Lehre Jesu seit seiner Ankunft in Europa gemacht.
Ich kann über manche Erscheinungen lachen, andere Metamorphosen erfüllen mich mit Trauer und Wut.
Es ist auch eine Fälschung, wenn ein Papst versucht Jesus zu entführen und aus dem Gottessohn mit Geburtsort in Palästina einen braven Griechen zu machen, der nur die glorreiche katholische Kirche bestätigt. Nicht nur das. Im gleichen Atemzug beleidigte der Papst Muhammad, den wichtigsten Propheten für 1,5 Milliarden Menschen (fast ein Viertel der Menschheit). Die Entführung Jesu Christi und Muhammads Diffamierung gingen und gehen immer Hand in Hand.
Die katholische Kirche beschäftigt professionell und erfolgreich ihre Anhänger und die Welt mit solchen Spielchen in Pfützen, um sie vom Ozean anstehender Aufgaben und dringender Reformen der katholischen Kirche abzulenken. Sie ignoriert die eindeutige Parteinahme Jesu Christi für alle Benachteiligten und verweigert die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Kirche. Damit steht und fällt die Glaubwürdigkeit der Kirche.
Statt also dringende Aufgaben in Angriff zu nehmen, wärmte der Vatikan die alte Diskussion um den Gottesdienst auf Latein wieder auf und begibt sich damit in die Reihen der vorhin erwähnten jüdischen und muslimischen Fundamentalisten. Als ob Gott nur Latein verstünde. Die Sprachrohre des Vatikans behaupten, der Papst handle aus Sorge, den rechten Flügel seiner Herde zu verlieren. Diese merkwürdige Sanftheit zeigen die Päpste aber immer nur dem reaktionären Flügel und dafür absolute Sturheit dem emanzipatorischen gegenüber. Sie scheuten sich nicht, in Lateinamerika mit aller Macht aufzutreten und ihre eigenen Pfarrer und Bischöfe mundtot zu machen.
Aber beim Papst kann ich einiges noch verstehen, ohne Verständnis zu haben. Er ist ein Herrscher, muss seine Macht erhalten und möchte seine Herde disziplinieren und lenken. Ich verstehe jedoch nicht, wie deutsche Gegenwartsautoren so erzreaktionär sein können, dass sie laut tönen, Gott sollte wieder auf Latein angesprochen werden. Gott versteht nicht nur über 6000 Sprachen unserer Erde, sondern auch das Brabbeln der Babys, alle Tiersprachen und das Wasserflüstern und die Windlieder. Ob Juden, Muslime oder Christen, alle ihre Fundamentalisten beleidigen Gott, wenn sie ihn zu einem Simpel machen. Und merkwürdig: Immer, wenn Gott nur eine Sprache sprach und verstand, wurde er zum Krieger. Nein, nicht er, sondern die Fanatiker, die seinen Namen missbrauchten um andere zu ermorden. Dem Papst werde ich nichts empfehlen. Er oder seine Nachfolger werden vielleicht verstehen, wenn die Zahl der Katholiken noch radikaler schrumpft, aber den deutschen Autoren, die Gott für einen Lateiner halten, würde ich empfehlen, sie sollten Gott in Ruhe lassen und ihre eigenen Romane und Essays auf Latein schreiben. Ich würde das begrüssen, denn dann sparen sie der von mir geliebten deutschen Sprache etwas Langeweile.
Nun, seien Sie glücklich, dass in Deutschland Staat und Kirche getrennt sind. Eine glückliche Folge davon ist, dass solche Vorstösse für die deutsche Sprache folgenlos bleiben. Nicht so in der arabischen Welt. Dort führen Fundamentalisten und Diktatoren ständig Krieg, und ihr erstes Opfer ist die Sprache.
Seit nun vier Jahren stehen die arabische Sprache und Schrift im Mittelpunkt meines Interesses, denn in meinem neuen Roman «Das Geheimnis des Kalligrafen» geht es neben Liebe und Mord um eine schöne Sprache, die in Schrift und Substanz gefährdet ist.
Kalligrafie war jahrzehntelang mein Hobby, nachdem ich als Jugendlicher drei Jahre bei einem alten Meister in die Lehre gegangen bin.
Das Thema «Sprache» meldete sich, vielleicht biografisch bedingt, bei mir immer wieder. Aramäisch ist meine Muttersprache, Arabisch ist meine Kindheitssprache. Die erste Fremdsprache war - bedingt durch die alte Kolonialmacht Frankreich - Französisch, meine zweite Fremdsprache war - bedingt durch die Herrschaftsverhältnisse der Welt - Englisch. Deutsch ist meine Literatursprache und mein Zuhause seit 36 Jahren.
Dadurch boten sich Vergleiche zwischen den Sprachen immer wieder an. Auch ein Studium der Ökonomie und der Naturwissenschaft öffnete mir die Augen über grosse Lücken und Schwächen der arabischen Sprache. Und irgendwann wurde das mein zentrales Thema, und ich begann zu recherchieren.
Woher kommen diese Schwächen, und warum wurden die arabische Sprache und Schrift nie reformiert? Zirka 300 Millionen Menschen sprechen Arabisch, und durch den Islam wird die arabische Schrift von 1,5 Milliarden Menschen in Anspruch genommen.
Aber seit mehr als zwölf Jahrhunderten, seit der endgültigen Niederschrift des Korans, gab es keine Reform, weil Fundamentalisten diese Sprache als heilig erklärten und wir in allen arabischen Ländern keine Trennung zwischen Religion und Staat haben. Und solange das so ist, werden sich Reformer nur die Finger verbrennen. Die Politiker in den arabischen Ländern sind primitive Militärdiktatoren, und sie haben am allerwenigsten Lust und Mut, etwas zu reformieren. Ihr Interesse konzentriert sich einzig und allein auf die Festigung der Herrschaft ihrer Sippe. Ihr Reichtum erlaubt ihnen das. Dabei ist die arabische Sprache wie alle Sprachen eine Erfindung der Menschen. Auch bräuchte eine Reform den Koran nicht zu erfassen, sondern lediglich die Sprache des Alltags zu erweitern und zu reformieren. Die arabische Sprache zeigt grosse Mängel an Wortschatz der Moderne und an Buchstaben, die ihr erlauben würden, diese neuen Wörter aufzuschreiben. W, P, E, O kennt sie nicht, deshalb kann sie lateinische Sprachen nicht korrekt wiedergeben. Und wenn ein Araber den Satz «Pablo Picasso wohnte zuerst im Bateau-Lavoir auf dem Montmartre in Paris» aufschreiben sollte, wird es eng für ihn. Man kann heute keinen Artikel über Chemie, Mathematik, Physik, Ökonomie, Medizin, Pharmakologie, Geologie, Philosophie und anderes schreiben, ohne die Zeilen mit lateinischen Wörtern in Klammern zu spicken. Auch Nuancen der spanischen und chinesischen sowie weiche Konsonanten der persischen Sprache kann sie nicht wiedergeben.
Die seit einem halben Jahrhundert andauernde arabische Diktatur der Sippe machte nicht nur Arabien insgesamt zu einer rückständigen Gegend. Sie deformiert die Menschen und zerstört ihre Sprache. Jede vernünftige Entwicklung, jede freiheitliche Regung ist ihr verhasst. Doch schlimmer als die pure Diktatur ist ihre Paarung mit Erdöl. Das Produkt ist eine perfekte Demontage der Kultur bei gleichzeitig blendendem Glanz der Oberfläche. Das Elend trägt Handy und fährt teuerste Limousinen und hält sich zu allem Übel für zivilisiert. Ein Araber ist heute im Grunde rückständiger als seine Vorfahren im 9. oder 11. Jahrhundert.
Die Diktatur führt einen Krieg mit der Sprache gegen die eigene Bevölkerung und auch gegen die Sprache selbst. Die Unfreiheit zerstört und besetzt ganze Gebiete der Sprache, sperrt andere Gebiete ab und erklärt sie als verbotene Zone. Nicht selten ist ein Gedicht Anlass für eine brutale Gefängnisstrafe. Damit lähmt die Diktatur die Sprache. Es drängt sich ein Vergleich mit einem Gefangenen auf, der auf einer fernen Insel in absoluter Isolation gehalten wurde, und nun plötzlich in eine Metropole unserer Zeit kommt. So und nicht anders steht die arabische Sprache heute den Fragen der Zeit gegenüber.
Denken formiert sich aber aus Wörtern. Das arabische Denken bleibt bei dieser verheerenden Zerstörung der Sprache nicht unberührt. Mich wundert es nicht, dass die Zahl der arabischen Patente bei zirka 300 Millionen Menschen gegen null geht. In ganz Arabien werden jährlich 35 Bücher pro einer Million Araber gedruckt, ein guter Teil davon sind religiöse Bücher. Das ist eine kulturelle Katastrophe. Im Vergleich dazu: In der Bundesrepublik werden über 700 Bücher auf eine Million Einwohner gedruckt. Die Behörden verordnen Zensur und Feindseligkeit gegen das Wesen Buch und gefährden damit nicht nur die heranwachsenden Generationen, die immer mehr zu modernen Analphabeten werden, sondern auch die Stellung der arabischen Sprache als Weltsprache.
Es ist nur eine Frage der Zeit, wann nicht arabische Länder Atatürks Beispiel von 1928 folgen und ihre Sprachen vom arabischen Alphabet ablösen. Atatürk schaffte innerhalb kürzester Zeit die arabischen Buchstaben ab und liess Türkisch mit lateinischen Buchstaben schreiben.
Dass Arabisch eine Weltsprache ist, ist keine Naturkonstante, sondern eine Gewichtung durch die Verbreitung der arabischen Sprache. Ein Jahrzehnt unserer Zeit gleicht aber mit seiner Schnelllebigkeit einem Jahrhundert früherer Zeitepochen. Hinkt die arabische Sprache ständig hinter der Zeit her, wird der Abstand zwischen ihr und dem Standard, den die Zivilisation von einer Weltsprache verlangt, immer grösser.
Nur wenn sich die Sprache aus der Gefangenschaft der Diktatur und der Faust der Fundamentalisten befreit, wird sie sich einen Ehrenplatz unter den Sprachen der Erde verdienen.
Nun komme ich zum letzten Wort ihrer Definition: «lebenslustig».
Auch das trifft zu mit seiner Doppelbödigkeit von Lust auf Leben und Sehnsucht nach Lachen.
Ich habe unbändige Lust auf das Leben, seitdem der Tod mir mit zehn, elf Jahren so nah an die Haut rückte, dass ich seinen eiskalten Atem spürte.
Ja, unendliche Lust trieb mich von da an zur Verachtung aller Todessehnsucht. Alle Extremisten verachten den Tod, weil sie aus welchen Gründen auch immer ihre Lust auf Leben verloren haben. Sie geben aber nicht das, sondern ein ehrenhaftes Ziel als Grund an, das man mit einem Wort bezeichnen kann: «das Paradies». Es ist bei den einen diesseitig, bei den anderen jenseitig. Auf dem Weg zu ihm aber errichten beide Fraktionen die Hölle auf Erden.
Ich könnte Ihnen noch weitere Gründe nennen, weshalb ich das Leben liebe, aber das würde lange dauern. Lassen Sie uns den zweiten Boden, den das Wort «lebenslustig» beherbergt, näher betrachten: lustig, die Neigung zum Lachen.
Ich fragte mich, warum ich das Lachen liebe? Warum fühle ich diese tiefe Sympathie für Cervantes, Woody Allen und Gerhard Polt?
Natürlich ist die Auswahl subjektiv, und ich hatte einen Nachbarn in Heidelberg, der sogar Hegel lustig fand. Und deshalb erzähle ich heute Abend nur von meinem subjektiven Begriff vom Lachen.
Warum liebe ich das Lachen? Eine einfache Antwort auf eine komplizierte Frage können nur Demagogen geben. Ich habe mehrere Versuche gemacht, um die Antwort zu finden. Was ich Ihnen anbieten kann, ist ein Mosaikbild, das nicht einmal Anspruch auf Vollständigkeit anmelden kann.
Vielleicht liebe ich das Lachen, weil ich dem uralten Volk der Aramäer entstamme, das einst den ganzen Mittelmeerraum beherrschte und heute über die ganze Welt verstreut als unterdrückte winzige Minderheit lebt. Wenn ich also die Wichtigtuerei mancher jungen Kultur miterlebe, muss ich lachen. Ich glaube fest daran, dass es solche Gestalten zuhauf unter meinen Vorfahren am Hofe des mächtigen Königs Assurbanipal gab, der in der Zeit von 660 bis 630 vor Christus ein mächtiges Reich von Ägypten bis zur heutigen Türkei beherrschte. Dieser mächtige König war belesen und ging gerne auf Löwenjagd. Später wurde er zu einem Häufchen kalkhaltiger Mineralien, und noch ein wenig später saugten primitive Pflanzen seine letzten Spuren auf.
Auch ermuntert mich eine Besonderheit meiner Biografie zum Lachen. Meinen Lebenslauf kann man mit einem Wort charakterisieren: Minderheitensammler. Dieses Dauerleben am Rande schenkt einem komische Momentaufnahmen von der Mehrheit, die vieles nicht sieht, weil sie mitten im Strudel in Bewegung ist.
Ein weiterer Grund, warum ich das Lachen liebe, ist mit Sicherheit meine Mutter. Sie lehrte mich, wie tief Lachen ins Herz dringt. Und wer meine Mutter so gut kannte wie ich, der wusste, wie viele Katastrophen sie überlebt hatte. Sie wurde kurz nach dem Ersten Weltkrieg in ärmlichen Verhältnissen geboren. «Solange du lachst», sagte sie, «haben dich die Feinde noch nicht besiegt.»
Vielleicht war das Lachen auch ein Versuch der Auflehnung gegen das Düstere. Ich nannte die Satiren der arabischen Schriftsteller in einem Essay: «Lachen aus der Wunde».
All diese und andere Gründe könnten eine Rolle dabei gespielt haben, mir das Lachen so sympathisch zu machen. Einen Grund habe ich bisher noch nicht erwähnt, den ich nun verraten möchte.
Ich habe mit fünfzehn, sechzehn Jahren als süchtiger Zuhörer und angehender Erzähler entdeckt, dass Lachen ein raffinierter Schmuggler ist. Man kann manchmal in einer kurzen Lachgeschichte mehr verstecken als ernsthafte Autoren in dicken Bänden.
Ich habe das selbst erprobt und fand meine eigene Mischung: zwischen Heiterkeit und Trauer, Härte und Zärtlichkeit, Lüge und Wahrheit. Und auch zwischen Orient und Okzident.
Als ich in die Bundesrepublik kam, verstummte ich vor Staunen und brauchte eine Weile, um meine Sprache wieder literarisch zu gebrauchen. Deutsch habe ich verhältnismässig schnell gelernt, aber ich beherrsche die Sprache nicht. Ich liebe sie.
Während ich noch über die moderne Gesellschaft staunte, begriff ich schnell, dass in Deutschland heitere und spannende Literatur nicht ernst genommen wird. Nie gerät ein schlecht gelaunter Autor in diesem Land in den Verdacht, unseriös zu sein, und das ist einer der grössten Irrtümer der deutschen Literatur der Gegenwart, der auch Mitschuld trägt am Rückgang der Stellung der deutschen Literatur auf der Weltrangliste. Aber diese Erkenntnis erleichterte nicht den Start. Ich stand vor einem grossen Problem. Natürlich fragt man sich beim Schreiben nach der Rezeption seiner Literatur. Es gibt immer die simple Frage, ob ich beim Schreiben an die Leser denke. Die Antwort lautet: «Nein», in dem Sinne, dass ich für niemanden Spezielles schreibe, nicht für die Literaturkritik und auch nicht für eine bestimmte Partei oder Menschengruppe. Aber es wäre schlicht verlogen zu sagen, ich schreibe und es interessiert mich nicht, ob mein Buch gelesen wird.
Was also tun?
Nun müssen Sie etwas sehr Persönliches wissen, damit Sie mich nicht für einen Helden halten wegen der wichtigsten Entscheidung in meiner literarischen Laufbahn.
Exil ist nicht nur bitter. Exil macht mutig, öffnet Wege und Wunden, verlangt viel Arbeit, aber beschenkt auch mit beiden Händen. Ich wäre nie zu dem Autor geworden, der ich heute bin, wäre ich nicht nach Deutschland gekommen. Hier genoss ich die Freiheit und die Demokratie, die mich bis heute faszinieren. Mit einem Schlag war ich meiner Sippe einschliesslich erpresserischer Tanten, Onkel und Paten, sechzehn Geheimdiensten, einem Heer von Staatsschreiberlingen, diversen Gefängnissen und der materiellen Not entronnen. Da ist die Wendung «sieben auf einem Streich» eine typisch deutsche Untertreibung.
Den Preis für diese Befreiung musste ich jedoch bezahlen, und er war hoch. Ich durfte die schönste Stadt der Welt nicht mehr betreten und meine geliebte Mutter nicht einmal beerdigen. Wer soll mir noch Angst machen?
Ich beschloss also, ermuntert durch meinen Exilmut auf Deutsch zu schreiben, aber so zu schreiben, als ob ich nicht in Deutschland lebte und nicht wüsste, dass man umso grössere Chancen hat von der literarischen Welt wahrgenommen zu werden, je langweiliger man schreibt.
Das hat sich heute verändert. Heute ist es Mode geworden, dass jeder sich Erzähler nennt, und auch die Kritik legt inzwischen wert darauf, dass eine Lektüre spannend ist. Damals in den Achtzigern, als ich meinen literarischen Weg begann, rühmten die Kritiker manche Autoren allen Ernstes damit, dass sie einen ganzen Roman schreiben könnten, ohne etwas erzählt zu haben.
Ich erzählte also Märchen, Geschichten, Satiren und Romane. Mich umgab zunächst eine undurchdringliche Mauer des Schweigens. Aber Mauern haben immer eine Schwäche, und wenn man die entdeckt, brechen sie zusammen. In meinem Fall lautete die Lösung: Schweigemauern brechen durch Lärm. Jerichos Legende hat ein Orientale erfunden. Ich besass nicht die Noten für die biblische Musik, die Mauern einstürzen zu lassen, aber ich entdeckte, dass Deutsche gerne zuhören, wenn man etwas erzählt. Also begann ich zu reisen und meine Geschichten zu erzählen. Ich habe, da ich ein braver Steuerzahler bin, meine Erzählabende alle festgehalten, doch bei 1200 hörte ich auf zu zählen. Das war im Jahr 1992.
Nun reise ich nicht mehr viel, pro Roman besuche ich nur hundert Städte. Am Anfang hatte ich fünf Zuhörer, und natürlich fragt man sich nach einer siebenstündigen Fahrt mit dem VW-Käfer von Heidelberg nach Hannover, ob es sich gelohnt hat. Doch ich erzählte den wenigen so gut, wie einer der sie begeistern und aus ihnen Botschafter für eine neue Literatur machen wollte. Und sie wurden die besten Botschafter. Nicht selten sitzen heute nach dreissig Jahren drei Generationen einer Familie bei meinen Lesungen.
Mir halfen und helfen bis heute zwei Energiequellen. Die Überzeugung, dass Literatur ohne Leser und Zuhörer keine ist. Das Publikum schenkt dem Erzähler das Teuerste, was es besitzt: Zeit. Es kann sie nie wieder ersetzen, also versuche ich ihm diesen Verlust so unbemerkbar wie möglich zu machen.
Die zweite Quelle meiner Energie ist der ungeheure Genuss, Erwachsene durch Erzählen in lauschende Kinder zu verwandeln. Das ist ein Glück, das ich im Herzen spüre und nicht beschreiben kann. Es schmeckt wie Eis oder Edelschokolade oder Pistazien.
Wer aber in meinem Beruf etwas erreichen will, muss die Geduld eines Kamels, den Mut einer Löwin und den langen Atem eines Blauwals haben. Ich überhörte die bösartigen Kommentare, die meinen Erfolg begleiteten. Die reichten vom harmlosen «Märchenonkel», weil ich Kinder ernst nahm, bis zu «Liebling der Frauen», weil Männer viel zu spröde erzogen werden, dass heute siebzig Prozent der Zuhörer Frauen sind. All das lag im Bereich harmlosen Stichelns.
Lebensgefährlich wird es bei «Verräter», zumal diese Kritik meist von arabischer Seite kommt, oft von Menschen, die selbst nicht lesen und keine Kritik verstehen. Doch ehrlich gesagt, war es mir gleichgültig, was die anderen sagten oder verschwiegen. Im Nachhinein empfinde ich aber eine grosse Befriedigung, dass ich mit der Hilfe meines Publikums all diese Hürden nehmen konnte.
Eine langjährige Freundin von mir und meiner Literatur sagte mir einmal, sie lese meine Geschichten immer als trojanische Pferde. Ich fühlte mich ertappt. Sie hatte mich durchschaut. Kein Wunder. Sie liest jährlich so viele Bücher wie selten eine andere Person. Sie macht Bücher.
Eine andere Freundin, sie ist Schriftstellerin und Malerin, las meinen Roman «Die dunkle Seite der Liebe» und sagte mir: «Wenn auch nur ein syrischer General diesen Roman liest, kriegst du keine Amnestie, sondern lebenslänglich.» Sie bezog sich auf die Initiative meiner Freunde, die vergeblich versucht haben, für mich eine Amnestie zu bekommen. Seit dem Tod meiner Mutter will ich keine Amnestie mehr.
Diese Kollegin kennt meine Bücher sehr gut. Sie ist die erste Leserin aller meiner Werke. Sie ist meine Frau.
Ich dachte aber, beide Frauen hätten den doppelten Boden erkannt, weil sie sehr klug und belesen sind. Aber bald musste ich erfahren, dass auch weniger kluge und kaum des Lesens mächtige Feinde mich durchschaut haben und mir daher unversöhnlich den Krieg erklärt haben. Kein Autor geniesst so viel Feindschaft seitens der Diktaturen und deren Hofdichtern wie ich. Haben nicht schon die Nazis gegenüber den Büchern eine schärfere Wahrnehmung gehabt als die Humanisten? Und haben sie nicht barbarisch auch Autorenwerke verbrannt, die man in den humanistischen Kreisen belächelte?
Langsam erkannte ich, dass Worte nicht geeignet sind für den Aufbau von trojanischen Pferden. Sie sind durchsichtig wie Glas und können für eine Weile und bei günstiger Spiegelung des Lachens etwas tarnen, aber nach einer gewissen Zeit erkennt jeder die Botschaft einer Literatur. Eine Geschichte, die bei wiederholtem, sorgfältigem Lesen ihre Geheimnisse nicht preisgibt, hat auch keine.
Ich sagte vorhin, Lachen ist ein Schmuggler. Das ist wahr, aber auch ein Schmuggler muss am Ende seiner Reise seine geschmuggelte Ware an den Mann bringen, sonst ist er keiner. Ein Nikolaus, der mit zugeschnürtem Sack vorbeirauscht, interessiert bald kein Kind mehr.
Mein neuer Roman, der im nächsten Herbst erscheint, ist ein unpolitischer Roman. Er trägt den Titel «Das Geheimnis des Kalligrafen» und spielt in der Zeit von 1954 bis 1958. Er handelt nur von der Liebe und dem Geheimnis eines Kalligrafen, das ihn noch ruinieren wird. Ich wählte absichtlich die einzige lange Phase der Demokratie in meinem Land, weil ich einmal entspannt einen Roman ohne Politik schreiben wollte. Vom Frühjahr 1954 bis zur Union mit Ägypten im Februar 1958 dauerte diese längste Phase der Freiheit meines Landes. Die parlamentarische Demokratie funktionierte mit vielen Parteien und Zeitungen. Kein einziger Mensch sass seiner Meinung wegen im Gefängnis. Es war eine wunderbare Zeit. Also im ganzen Roman ist kein Wort über Politik.
Nächsten Herbst werden wir sehen, wie die literarische Welt das Buch aufnimmt. Sagt sie, es sei unpolitisch, denn bei politischen Büchern amüsiere man sich nicht, dann weiss ich ab heute, dass einige Dortmunder mit mir herzlich darüber lachen würden. Werfen mir andere vor, dieser Roman sei giftig und doppelbödig, antworte ich: Das kam daher, dass man mir in Dortmund den Nelly-Sachs-Preis verliehen hat, ansonsten war ich ja bis zum Tag der Verleihung ein unpolitischer Schmuggler.
Wie Sie sehen, Dortmund wird für immer verwickelt sein. Und dafür danke ich Ihnen.
Rafik Schami
Der Schriftsteller Rafik Schami wurde 1946 in Syrien geboren und lebt seit 1971 in Deutschland. 1966 gründete er in Damaskus eine Zeitung, veröffentlichte in arabischer und ab 1977 auch in deutscher Sprache. Sein Werk wurde in 24 Sprachen übersetzt. Als guter Beobachter der arabischen und der westlichen Welt führte er nach dem 11. September 2001 für die WOZ Tagebuch (siehe WOZ Nr. 6/02). 2004 erschien sein Roman «Die dunklen Seiten der Liebe» im Hanser-Verlag. Im Herbst 2008 erscheint «Der Herbst des Kalligrafen», ein Roman, der zwischen 1954 und 1958 spielt.
Für seine Verdienste um die Versöhnung zwischen den Völkern hat Rafik Schami am 9. Dezember den mit 15 000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten. Der nach der deutschen Lyrikerin und ersten Preisträgerin Nelly Sachs (1891 - 1970) benannte Preis wird seit 1971 alle zwei Jahre verliehen. Zu den früheren PreisträgerInnen gehören Elias Canetti (1975), Erich Fromm (1979), Nadine Gordimer (1985) und Christa Wolf (1999).
Die WOZ dokumentiert hier die Preisrede Rafik Schamis «Von Schmugglern und durchsichtigen trojanischen Pferden» im Wortlaut.